Eigentlich war der Streit um das "ultra vires"-Urteil des BVerfG begraben, das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingestellt. Doch nun legt Bayern nach: Der Bundesrat soll sich an die EU wenden und Konsequenzen fordern.
Zuletzt standen die Zeichen zwischen dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) auf Entspannung, ebenso zwischen Brüssel und Berlin. Nach dem spektakulären Urteil vom Mai 2020, in dem die Karlsruher Richterinnen und Richter schrieben, die Entscheidung des EuGH sei "schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar", waren Aufräumarbeiten angesagt.
Die Europäische Zentralbank lieferte nachträglich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ihres umstrittenen Anleihekaufprogramms, das Auslöser des Streits gewesen war. Der Bundestag befasste sich damit und befand die Darlegungen der EZB in einem Beschluss für ausreichend. Das BVerfG segnete dieses Prozedere ab und verwarf zwei Vollstreckungsanträge. Die EU-Kommission hatte zwar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik auf den Weg gebracht, gab sich aber damit zufrieden, dass Deutschland förmlich zusicherte, den Vorrang des Unionsrechts anzuerkennen, und stellte das Verfahren wieder ein.
Zuletzt war sogar EuGH-Präsident Koen Lennaerts beim – pandemiebedingt verspäteten – Festakt zum Präsidentenwechsel des BVerfG zu Gast und wurde vom damals zu verabschiedenden ehemaligen BVerfG-Präsidenten Andreas Voßkuhle umgarnt: "Dass Du heute trotzdem hier bist, ist für mich ein großes Zeichen für die Geschlossenheit des demokratischen Europas, der besonderen Verbundenheit unserer Gerichte und der Fähigkeit der Europäischen Union, Konflikte produktiv zu bewältigen."
Kurz: Es gab allerseits Bemühungen, die "Atombombe", wie das "ultra vires"-Urteil von Verfassungsrechtlern gelegentlich bezeichnet wurde, zu entschärfen.
Vertragsverletzungsverfahren "von vorneherein nicht gerechtfertigt"
Vor diesem Hintergrund ist es schon erstaunlich, dass sich auf der Tagesordnung des Bundesrats am Freitag ein Entschließungsantrag aus Bayern findet, der in scharfen Worten die EU-Kommission kritisiert und auf europäischer Ebene Neuregelungen fordert, um die Position der nationalen Verfassungsgerichte gegenüber dem EuGH zu stärken.
Der Entschließungsantrag stammt direkt aus der Staatskanzlei von Ministerpräsident Dr. Markus Söder (CSU). Darin heißt es unter anderem, das Vertragsverletzungsverfahren sei "von vorneherein nicht gerechtfertigt" gewesen. "Eine genauere Untersuchung der deutschen Verfassungsordnung durch die Europäische Kommission hätte ergeben, dass diese den Anwendungsvorrang des Europarechts und die Entscheidungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs dem Grunde nachanerkennt."
Lob und Preis gibt es dagegen für das Bundesverfassungsgericht: "Der Bundesrat unterstreicht die hohe Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts, sowohl für den Schutz der deutschen Verfassungsordnung als auch hinsichtlich der Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wird".
Weiter formuliert der bayerische Antrag, der Bundesrat begrüße, "dass die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten mit dem Europäischen Gerichtshof schon jetzt einen Austausch pflegen." Allerdings habe das Vertragsverletzungsverfahren "gezeigt, dass der bisherige informelle Austausch der Gerichte noch der Verbesserung und Ergänzung bedarf."
Dann soll doch künftig der EuGH vorlegen?
Schon kurz nach der Entscheidung des BVerfG wurde diskutiert, ob ein Europäischer Kompetenzgerichtshof den Machtkampf zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten beenden könnte – bisher ist das allenfalls eine vage Idee.
Der Entschließungsantrag greift das auf, aber eher am Rande. Dafür schlägt Söder eine andere Neuerung vor, nämlich eine direkte Verfahrensbeteiligung der nationalen Gerichte, wenn es um ihre Interessen geht: "Bisher legen nur die nationalen Gerichte dem EuGH Rechtsfragen vorab vor, die die Auslegung des Europäischen betreffen. Im Gegenzug sollte der EuGH die für Verfassungsfragen zuständigen nationalen Gerichte in wesentlichen Kompetenzfragen vorab beteiligen, etwa nach Art. 24 Abs. 2 der EuGH-Satzung", heißt es in Punkt 9 des Entschließungsantrags. Damit würde ein "verbindlicher Dialog entstehen, in dem sich die Kräfte und Sichtweisen gegenseitig balancieren."
Der Bundesrat solle die Stellungnahme direkt an die Europäische Kommission und das Europäische Parlament übermitteln, heißt es abschließend.
Ob diese Ideen aus Bayern tatsächlich in Brüssel ankommen, steht allerdings in den Sternen. Es ist kein koordiniertes Vorgehen der Länder, sondern vorerst ein Alleingang Söders. In den übrigen Bundesländern werden die Vorschläge noch geprüft. Eine Entscheidung fällt ohnehin nicht am Freitag: Der bayerische Antrag wird erstmal in die Ausschüsse überwiesen, federführend ist der Europaausschuss. Falls der Bundesrat tatsächlich zu einer Entschließung kommen sollte, dann wohl in einer deutlich milderen Fassung.
Bundesrat soll neue Regeln für den EuGH fordern: . In: Legal Tribune Online, 11.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47510 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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