Ermittler sollen künftig mit einem "Quick-Freeze"-Verfahren statt anlassloser Vorratsdatenspeicherung arbeiten. Der BMJ-Gesetzentwurf dazu nimmt Fahrt auf. Unbeeindruckt zeigt man sich derweil von einem aktuellen EuGH-Urteil.
Die Einigung kam dann plötzlich. Nach jahrelangem Stillstand – andere sagen Blockade – hatte sich die Ampel bei zwei wichtigen innenpolitischen Vorhaben aus ihrem Koalitionsvertrag geeinigt. Im April wurde bekannt, dass statt der umstrittenen Vorratsdatenspeicherung das von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) favorisierte Quick-Freeze-Verfahren kommen soll. Im Gegenzug soll der den Weg frei machen für eine Verlängerung der Mietpreisbremse. Um beides stritten das SPD-geführte Bundesinnenministerium, für das eine Reform des Mietrechts ein wichtiges Anliegen sein muss, und das FDP-geführte Bundesjustizministerium, das einen freiheitsrechtefreundlichen Abschied von der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung durchsetzen wollte. Bisher gab es aber nur diese Einigung, ein Gesetzgebungsverfahren hatte nicht wieder Fahrt aufgenommen.
Auf der Zielgeraden der Legislaturperiode hat nun der konkrete Referentenentwurf aus dem BMJ die Ressortabstimmung erreicht, er liegt LTO vor. Das bedeutet, der Entwurf ist bereits vorabgestimmt, erreicht Länder und Verbände und wird so Richtung Kabinett gehen. Das Gesetz soll nun "Gesetz zur Einführung einer Sicherungsanordnung für Verkehrsdaten in der Strafprozessordnung" heißen.
So sollen die Verbindungsdaten "eingefroren" und "aufgetaut" werden
Kaum ein Ermittlungsinstrument ist so umstritten wie die Vorratsdatenspeicherung. In ihrer anlasslosen Variante erlaubt sie Strafverfolgungsbehörden, auf Verbindungsdaten der Internet- und Telefonkommunikation zuzugreifen, die private Anbieter zu diesem Zweck in der Breite auf Vorrat bereithalten müssen – zum Beispiel die Telekom. Auf diesem Weg sollen auch digitale Spuren einer Straftat zugänglich gemacht werden. Wer hat sich laut der Standortdaten seines Handys zur Tatzeit dort aufgehalten? Mit wem hat der Täter zuletzt kommuniziert? Gerade bei der Verfolgung von Kinderpornografie im Netz betonen Ermittler die Bedeutung der IP-Adressen als oft einzige wichtige Spur zu den Tätern an ihren Internetanschlüssen.
Nach dem Entwurf soll ein neuer Absatz in den Paragrafen 100g der Strafprozessordnung (StPO) aufgenommen werden. Liegt der Verdacht für bestimmte schwere Straftaten vor, kann grundsätzlich erst nach Richterbeschluss die Sicherung noch vorhandener bzw. künftig anfallender Verkehrsdaten angeordnet werden. Die erste Anordnung kann auch noch ohne Bezeichnung einer konkreten Person geschehen und sich etwa auf Verbindungsdaten an einem bestimmten Tatort und seine Umgebung beziehen. Die so ins Visier genommenen Daten werden "eingefroren". Ab dann haben Strafverfolgungsbehörden einen Monat Zeit, etwa um weitere Erkenntnisse zu sammeln und einen weiteren Richterbeschluss zu erwirken, damit sie die eingefrorenen Daten zur Auswertung erhalten. Die Monatsfrist kann noch zweimal um jeweils einen Monat verlängert werden.
Schwere Straftaten wären im Sinne des § 100 a Abs. 2 StPO etwa Raub oder Erpressung, Bandendiebstahl oder bestimmte Formen der Geldwäsche, aber auch Mord und Totschlag sowie sexueller Kindesmissbrauch und die Verbreitung, der Erwerb und der Besitz von Kinderpornografie.
BMJ zeigt sich unbeeindruckt von aktuellem EuGH-Urteil
Die Vorratsdatenspeicherung hat in zahlreichen Verfahren die Gerichte beschäftigt, immer wieder auch den Europäischen Gerichtshof. Der hatte zunächst sehr strenge Vorgaben gemacht, zuletzt etwa in einer Entscheidung von April 2024 auch wieder Spielraum für die sogar anlasslose Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen eröffnet. Der EuGH lässt damit eine solche Speicherung nicht nur zur Verfolgung von schwerer, sondern nun auch zur Verfolgung jeglicher Kriminalität zu (Urt. v. 30.4.2024, Az. C-470/21) zu. Innenminister Faeser hatte deshalb darauf gedrängt, mehr Vorratsdatenspeicherung möglich zu machen.
Das BMJ war davon offenbar wenig beeindruckt. Aus dem Ministerium heißt es dazu, auch nach dieser jüngsten EuGH-Entscheidung bestehe erhebliche Rechtsunsicherheit darüber, unter welchen Voraussetzungen eine anlasslose Speicherung von IP-Adressen europarechtskonform wäre. Der EuGH hatte etwa gefordert, eine solche anlasslose Speicherung auf das absolut Notwendige zu begrenzen. Wer weiß schon, wie lange das wäre, heißt es aus dem Ministerium. Ein Zugeständnis musste der Justizminister wohl doch machen. Nachdem der EuGH 2022 die Vorratsdatenspeicherung für Deutschland beanstandet hatte, twitterte Buschmann: "Wir werden die anlasslose Vorratsdatenspeicherung nun zügig und endgültig aus dem Gesetz streichen." Nun soll aber auf Wunsch der SPD-Seite die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung weiter in der Strafprozessordnung stehen bleiben (100g StPO). Wie betont wird, nur als "totes Recht". Angewendet werden dürfen die Regelungen nach den diversen Gerichtsentscheidungen in ihrer jetzigen Form nicht.
Ob das nicht auch in einer nächsten Legislatur von einer anderen Regierungskoalition wiederbelebt werden könnte? Völlig ausgeschlossen scheint das nicht. Die Geschichte der Vorratsdatenspeicherung ist selbst eine des jahrzehntelangen Einfrierens und Auftauens.
BMJ-Gesetzentwurf liegt LTO vor: . In: Legal Tribune Online, 16.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55649 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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