Erste BGH-Verhandlung zum Abgasskandal: Worum es in Karls­ruhe gehen wird

von Pia Lorenz

04.05.2020

Die Klägeranwälte geben sich siegesgewiss, VW verweist auf die besondere Konstellation. Tatsächlich scheint der Fall kein Bilderbuchfall für Dieselgate-Geschädigte zu sein. Doch der BGH könnte ab Dienstag sehr wohl Grundlegendes klären.

Vor dem Bundesgerichtshof (BGH) geht es am Dienstag um einen VW Sharan. Es geht bloß um die Rückabwicklung des Kaufvertrags über ein Auto – und doch schaut ganz Deutschland auf den VI. Zivilsenat. Klägervertreter Alexander Voigt von Goldenstein & Partner Rechtsanwälte sprach vor dem Verhandlungstermin in Karlsruhe gar von einem Showdown. "Wir gehen davon aus, dass der Dieselskandal am Dienstag erst beginnt", sagte Kanzleichef Claus J. Goldenstein. 

Könnte der BGH also fast fünf Jahre nach dem Bekanntwerden des Dieselskandals dafür sorgen, dass VW alle Fahrzeuge zurücknehmen muss, die vom Abgasskandal betroffen waren und deren Käufer sie nicht mehr haben wollen? 

Ganz so einfach wird es nicht werden. Es gibt so viele Konstellationen von Dieselskandal-Fällen, dass selbst bei einer zu 100 Prozent erfolgreichen Rückabwicklung des Kaufvertrags in dem Fall, über den der VI. Zivilsenat ab Dienstag verhandelt, danach noch nicht feststünde, ob alle Käufer manipulierter Fahrzeuge ihr Geld zurückbekommen.    Außerdem weist der Fall, um den es in Karlsruhe gehen wird, mehrere Besonderheiten auf. Sie machen es zumindest theoretisch möglich, an mehreren Stellen juristisch abzubiegen, ohne am Ende in der Sache zu entscheiden. Doch gerade diese Besonderheiten bieten auch die Chance, erst recht ein Grundsatzurteil zu fällen. 

Ein Anspruch aus § 826 BGB – und wenn ja: worauf?

Die beiden großen Fragen: Hat VW seine Kunden vorsätzlich und sittenwidrig geschädigt, indem der Konzern unzulässige Abschalteinrichtungen verbaute, die dafür sorgten, dass der Wagen auf dem Prüfstand einen geringeren Stickoxidausstoß auswies als im normalen Fahrbetrieb? Und wenn ja: Muss der Kunde sich die Tatsache, dass er das Auto dennoch während der gesamten Zeit gefahren hat, anrechnen lassen? 

Das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz ist in zweiter Instanz von einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung durch Täuschung der Kunden (§ 826 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB) ausgegangen. Es nimmt eine unzulässige Abschalteinrichtung bei dem Sharan an und bezieht sich dabei auch auf einen Hinweisbeschluss des BGH aus Januar 2019. Diese erste* Äußerung von Deutschlands höchsten deutschen Richtern in Sachen Dieselskandal stammt vom für das Kaufrecht zuständigen VIII. Zivilsenat. 

 Ein Hersteller, der ein Fahrzeug in den Verkehr bringt, erkläre damit stillschweigend auch, dass dessen Einsatz im Straßenverkehr uneingeschränkt zulässig sei, so die Koblenzer Richter. Man darf davon ausgehen, dass auch der VI. Zivilsenat des BGH von einer Täuschung ausgehen wird: Auch der Dieselmotor des Typs EA 189 hat seine Typengenehmigung der Emissionsklasse Euro 5 aufgrund des – durch die Abschalteinrichtung gegenüber dem Normalbetrieb - reduzierten Stickoxidausstoßes auf dem Prüfstand erhalten. 

Gebrauchtes Kfz vom freien Händler: Wie weit kann Täuschung reichen? 

Weniger eindeutig ist, ob auch die Käufer von Gebrauchtwagen sich gegenüber den Herstellern auf eine Täuschung berufen können.  Der Kläger in dem Fall, der in Karlsruhe verhandelt werden wird, hat seinen Sharan nämlich als Jahreswagen erworben - und das nicht einmal von einem VW-Vertragshändler, sondern von einem freiem Händler. 
VW, auch in diesem Verfahren vertreten von Freshfields Bruckhaus Deringer, stellt sich auf den Standpunkt, es gebe in dieser Konstellation schon gar keine Täuschungshandlung. Zudem entstünde sonst für den Hersteller bei der nicht absehbaren Kette von möglichen Käufern eines Autos praktisch eine unbegrenzte Ersatzpflicht. Eine Rückabwicklung sei nicht denkbar, wenn der Kaufpreis nicht einmal mittelbar an VW geflossen sei, so die VW-Anwälte.

Die Vertreter des klagenden Sharan-Käufers stellen hingegen darauf ab, Gegenstand der Täuschung sei die irrige Annahme des Mannes, dass das Kfz zulassungsfähig sei und keinem Stilllegungsrisiko unterliege. Diese Vorstellung sei immer dieselbe - unabhängig davon, ob es um den ersten Kauf als Neufahrzeug oder um spätere Käufe als Gebrauchtwagen geht. 

Für den Senat wäre es eine der Möglichkeiten, ohne Grundsatzurteil abzubiegen. Sie könnten im konkreten Fall einen Schadensersatzanspruch ablehnen. Immerhinhat der BGH schon mehrere andere Termine in Sachen Abgasskandal anberaumt, zum Teil auch gegen andere Hersteller. 

Doch könnte man der Auswahl ausgerechnet dieses ersten Falles, zu dem Deutschlands oberste Zivilrichter sich nun offiziell äußern wollen, auch eine gegenteilige Bedeutung beimessen: Wenn der BGH einen Präzedenzfall für den gesamten Dieselskandal schaffen wollte, könnte er sich gerade auch einen Fall mit Besonderheiten heraussuchen. Wenn er nämlich sogar dem Käufer eines gebrauchten VW bei einem freien Händler Ansprüche aus § 826 BGB zuspräche, dann hätten alle anderen Käufer in der Kette, vor allem natürlich der Neuwagenkäufer direkt bei VW, erst recht solche Ansprüche. 

Und der Schaden?  

Ein Punkt, über den der Senat mit Sicherheit mindestens ausführlich diskutieren wird, ist der entstandene Schaden. Der Sharan, um den es geht, wurde im Februar 2017 nachgerüstet, die Gefahr seiner Stilllegung war damit ab diesem Zeitpunkt gebannt, etwaige Kosten für die Nachrüstung macht der klagende Autokäufer nicht geltend. Nicht alle Gerichte lassen diese Stilllegungsgefahr überhaupt als Schaden gelten.

Allerdings argumentiert der Mann in dem Verfahren auch anders: Er habe sich schließlich ganz gezielt ein umweltschonendes Dieselfahrzeug zulegen wollen, begründet er seinen Wunsch, den Vertrag komplett rückabzuwickeln. Vor dem OLG Koblenz war er damit auch erfolgreich. 

Aus Sicht von VW hingegen begründet das keinen Schaden. Aus einem solchen ungewollten Vertrag könne, argumentiert der Wolfsburger Autobauer, ein Schaden vielmehr nur entstehen, wenn der Kunde den Wagen nicht für seine Zwecke hätte nutzen können. Und auch einen VW mit einer Abschaltautomatik – die VW gern "Umschaltlogik" nennt – könnten die Käufer ja ohne Einschränkungen fahren und nutzen. 

Was vom Kaufpreis übrig bliebe

Sollte der BGH auch von einem dem Grunde nach bestehenden Schadensersatzanspruch ausgehen, stellte sich die Frage, ob der klagende Käufer sich die gezogenen Nutzungen anrechnen lassen muss. Rechtsfolge eines dem Grunde nach bestehenden Anspruchs aus § 826 BGB ist ein Schadensersatzanspruch nach den Regeln der §§ 249 ff. BGB. 
Bei der Rückabwicklung eines Kaufvertrags muss im Normalfall der Käufer die Kaufsache zurückgeben und erhält den Kaufpreis zurück, den er bezahlt hat. Er muss sich aber anrechnen lassen, was er für den Zeitraum der Nutzung der Kaufsache aus dieser an Vorteilen gezogen hat. Bei einem Auto geschieht das in der Regel dadurch, dass die während der Nutzungszeit gefahrenen Kilometer ins Verhältnis gesetzt werden zu der zu erwartenden Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs. Der Käufer bekommt also nicht den gesamten Kaufpreis zurück, sondern muss sich den Wert der gefahrenen Kilometer abziehen lassen.

Die vom Dieselskandal Betroffenen wollen das nicht akzeptieren. Sie sehen darin eine unbillige Entlastung von VW. Und argumentieren, so hätte der Autokonzern, der immerhin vorsätzlich und sittenwidrig getäuscht habe, es in der Hand, den Rückabwicklungsanspruch massiv zu drücken. 

Tatsächlich könnte das, zu Ende gedacht, dazu führen, dass bei einem günstigen Kaufpreis auch ein dem Grunde nach bestehender Schadensersatzanspruch am Ende auf fast null zusammenschrumpfen würde. Je länger ein Prozess sich hinzieht, desto länger muss der Käufer das Auto fahren und desto mehr Kilometer muss er sich anrechnen lassen. Jeder Tag, der vergeht, ist also ein guter Tag für VW.  

Seit Jahren wird dem Autobauer nachgesagt, er verfolge aus genau diesem Grund eine Verschleppungstaktik, habe Grundsatzurteile verhindert und auch in klaren Fällen Rechtsmittel eingelegt, um die Rückzahlungsansprüche der geprellten Käufer durch den Vorteilsausgleich immer weiter zu mindern. Bei den zehntausenden Fällen, die der Konzern auch nach dem Vergleich mit über 200.000 VW-Kunden im Rahmen der Musterfeststellungsklage noch zu erwarten haben könnte, könnte sich eine solche Strategie unternehmerisch gesehen rechnen. 

Das Schadensersatzrecht als Sanktion?

Einige Gerichte haben diese Anrechnung von Nutzungsvorteilen, die normalerweise bis zur tatsächlichen Rückabwicklung gerechnet wird, beschränkt auf die Zeit bis zum Eintritt des Verzugs, also bis zur Aufforderung des Käufers an VW, den Vertrag rückabzuwickeln. So hätte VW es zumindest nicht in der Hand, durch einen langwierigen Rechtsstreit den Schaden massiv zu reduzieren.

Vollkommen abgelehnt aber hat bislang, soweit ersichtlich, kein einziges Oberlandesgericht die Anrechnung der gezogenen Nutzungen. Auch das OLG Koblenz, das dem am morgigen Dienstag in Karlsruhe verhandelnden Kläger dem Grunde nach Recht gab, hat die von ihm gezogenen Nutzungen voll – also auch nicht nur bis zur Geltendmachung der Rückabwicklung gegenüber VW - auf den Kaufpreis des Autos angerechnet. Das entlaste VW nicht unbillig, so die Berufungsinstanz, sondern spiegele den tatsächlichen Zustand wieder, dass der Käufer das Auto ja sehr wohl gefahren habe – und wäre es nicht dieses gewesen, dann hätte er ein anderes Auto besessen und gefahren.  

Zwar sei es richtig, dass VW es so in der Hand habe, den Anspruch zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Aber es sei eben legitim, das Bestehen von Ansprüchen zu bestreiten und sich verklagen zu lassen. "Es kann nicht die Aufgabe des Schadensersatzrechts sein, ein legitimes Verhalten zu sanktionieren", heißt es im Urteil des OLG. Im Übrigen habe der klagende VW-Käufer es selbst in der Hand, sein Fahrzeug stillzulegen und dadurch zu verhindern, dass die Nutzungsvorteile, die er sich weiter anrechnen lassen muss, weiter ansteigen.

Worum es nicht gehen wird

Das ist ein auf den ersten Blick bemerkenswerter Einwand, da vermutlich nicht jeder Autobesitzer finanziell dazu in der Lage ist, sich ein anderes Auto zuzulegen, wenn er den Kaufpreis für das alte, nun in der Garage stehende VW-Fahrzeug noch nicht zurückbekommen hat. Aber der Fall, der am Dienstag in Karlsruhe verhandelt wird, ist auch in dieser Hinsicht ein besonderer: Der Kläger fährt seinen Sharan tatsächlich nicht mehr – ganz explizit, um seinen Schadensersatzanspruch nicht durch weitere gezogene Nutzungen zu mindern. 

Am BGH wird am Dienstag trotz der Coronakrise viel los sein. Die Sitzplätze im Saal sind beschränkt, viele Medienvertreter auf den Medienarbeitsraum verwiesen worden. Die Klägervertreter sowie das Legal-Tech-Unternehmen myright, über dessen Plattform tausende VW-Geschädigte ihre Ansprüche geltend machen und das nach eigenen Angaben das Verfahren bis zum BGH finanziert hat, geben sich siegesgewiss, rechnen gar noch am Dienstag mit einem verbraucherfreundlichen Urteil.   

Die Vertreter von VW verweisen darauf, dass, selbst wenn der BGH Täuschung und Schaden bejahen und die Anrechnung von Nutzungsvorteilen ablehnen würde, im Komplex Dieselskandal noch längst nicht alle Messen gesungen seien. Richtig daran ist, dass mehrere Fragen offen bleiben werden, um die es im Verfahren VI ZR 252/19 gar nicht gehen wird; von der Haftung für Mängel über die Frage des Deliktszinses bis hin zur Verjährung erst spät geltend gemachter Ansprüche. Aber die nächsten Verhandlungstermine in Sachen Dieselskandal hat der BGH ja schon terminiert. 

*Anm. d. Red.: Nach Hinweis eines Lesers präzisiert: Es handelte sich um die erste, aber nicht die einzige Äußerung zum Dieselskandal vom BGH (pl, 04.05.2020, 19:52 Uhr).

Zitiervorschlag

Erste BGH-Verhandlung zum Abgasskandal: . In: Legal Tribune Online, 04.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41502 (abgerufen am: 01.11.2024 )

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