Innerhalb kurzer Zeit stärkt der BGH zum dritten Mal die Rechte der Medien. Martin W. Huff analysiert ein aktuelles Karlsruher Urteil, in dem es um Anonymität und Stellungnahme des Angeklagten geht, wenn Medien über Strafverfahren berichten.
Es gehört zu den Kernaufgaben der Medien, über Strafverfahren zu berichten. Dies muss aber nicht grundsätzlich anonym erfolgen, sondern es gelten hier die Umstände des Einzelfalls, hat der BGH nun festgestellt. Und: Vor einer Berichterstattung aus dem Gerichtssaal muss der Angeklagte nicht noch über die dort verhandelten Tatsachen angehört werden. Dies ist das Ergebnis eines jetzt veröffentlichten Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH) in einer Auseinandersetzung der Bild-Zeitung mit einem Kölner Zahnarzt (Urt. v. 31.05.2022, Az. VI ZR 95/21).
"Kölner Zahnarzt ein Millionenbetrüger?" So lautete die Überschrift eines Artikels auf bild.de vom 28. Februar 2018. Darin wurde über den ersten Tag der Hauptverhandlung gegen den Zahnarzt (und weitere Angeklagte) berichtet. Der Vorwurf der Anklage, die an diesem Tag verlesen wurde, lautete laut Online-Artikel, dass der Zahnarzt neben seiner eigentlichen Tätigkeit unter anderem zusammen mit seinem Vater eine GmbH gegründet hatte, über die teure Elektronikgeräte zwar eingekauft, aber nicht bezahlt und die dann weiterverkauft wurden. Hinzu kamen weitere Vorwürfe.
Dabei wurden in dem Artikel über den Angeklagten vier Daten mitgeteilt: vollständiger Vorname, abgekürzter Nachname (der erste Buchstabe des richtigen Nachnamens), Alter und die Lage der Zahnarztpraxis in der "Kölner Innenstadt". Die weiteren Angaben zum Verfahren waren zutreffend, es wurde auch deutlich, dass es sich zu diesem Zeitpunkt lediglich um einen Verdacht gehandelt hat und Anklage erhoben worden ist.
Später wurde der Zahnarzt wegen Betrugs, Nötigung und Beihilfe zur Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.
War der Zahnarzt zu leicht identifizierbar?
Der Zahnarzt sah sich durch den Online-Beitrag in seinen Persönlichkeitsrechten beeinträchtigt, der Fall landete letztlich vor Gericht. Sein Argument: Durch die veröffentlichten Daten sei unerlaubt identifizierbar gewesen, es hätte nur ihn als Zahnarzt mit diesen weiteren Angaben in der Kölner Innenstadt gegeben. Zudem sei er - wie nach den Grundsätzen der Verdachtsberichterstattung - vor der Veröffentlichung des Beitrags nicht um eine Stellungnahme gefragt worden. Schon dies mache die Berichterstattung rechtswidrig, sie sei zu unterlassen.
Doch als letzte Instanz folgte der BGH dieser Auffassung in allen Punkten nicht. Der zuständige VI. Zivilsenat stellt in seiner Entscheidung klar, dass die Berichterstattung über den Zahnarzt von Anfang an in Ordnung war. Es müsse eine Abwägung der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen mit der Freiheit der Berichterstattung der Medien erfolgen - und diese Abwägung gehe hier zugunsten der Medien, also der Bild-Zeitung, aus. Dafür sprechen nach Ansicht des BGH mehrere Gründe:
Zunächst handele es sich bei dem Strafverfahren gegen den Zahnarzt um einen besonderen Fall, an dem eine Berichterstattungsinteresse bestehe. Der Verdacht gegen den Zahnarzt habe sich auch verdichtet, indem eine von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage von einem Gericht zugelassen worden ist. Zudem sei der Angeklagte nur für einen "beschränkten Kreis" erkennbar gewesen.
Offen lässt der BGH dabei die Frage, wann die Identifizierungsmöglichkeit einen "beschränkten Kreis" verlässt und ob die Bild-Zeitung wegen der Bedeutung des Verfahrens nicht sogar hätte mit vollem Namen berichten dürfen.
Auch ansonsten war der Artikel nach Auffassung des BGH rechtmäßig. Es sei darin deutlich geworden, dass es sich um eine Anklage gehandelt hat, über die noch zu entscheiden war, entsprechend habe keine Vorverurteilung stattgefunden. Zudem habe der Zahnarzt eine gesellschaftlich hervorgehobene Stellung, die eine Berichterstattung erlaube. Eine Stellungnahme des Angeklagten zu den Vorwürfen müsse dabei nicht eingeholt werden, weil im Fall der öffentlichen Gerichtsverhandlung kein Fall der Verdachtsberichterstattung mehr vorliege. Entsprechend durfte so deutlich über den Zahnarzt berichtet werden, schloss der BGH.
Die dritte Leitsatzentscheidung zugunsten der Medien in kurzer Zeit
Bei der Entscheidung des VI. Zivilsenats handelt es sich um die dritte wichtige Leitsatzentscheidung zur Verdachts- und Gerichtsberichterstattung innerhalb weniger Monate. Nach den Urteilen vom 16. November 2021 (Az. VI ZR 1241/20) und 22. Februar 2022 (Az. VI ZR 1175/20) und nun diesem Urteil wird die liberale Linie des BGH sehr deutlich.
Zu begrüßen sind dabei insbesondere die Ausführungen zur Identifizierbarkeit und dazu, dass eine Nachfrage beim Angeklagten nicht erforderlich ist. Die Tatsache, dass jemand vom Freundes- und Bekanntenkreis identifiziert werden kann, reicht damit nicht dafür aus, eine allgemeine (und damit womöglich rechtswidrige) Erkennbarkeit anzunehmen, wie der BGH zu Recht meint. Denn schon die Frage, was unter einer "Praxis in der Kölner Innenstadt" zu verstehen ist, ist nicht eindeutig (und nicht jeder kennt das Alter (s)eines Zahnarztes).
Nicht weniger wichtig stellt der BGH klar, dass die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung nicht für die Gerichtsberichterstattung aus der laufenden Hauptverhandlung heraus gelten, solange sie sich auf die Wiedergabe der dort verhandelten Tatsachen und Umstände konzentriert. Denn es handelt sich dann um keine klassische Verdachtsberichterstattung mehr, sondern um eine Berichterstattung über ein öffentliches Ereignis, dass so stattgefunden hat.
Eine Anfrage an den Betroffenen - mit dann einzuräumender Frist für die Stellungnahme - würde eine nicht selten tagesaktuelle Gerichtsberichterstattung erheblich erschweren. Hier geht der BGH zu Recht davon aus, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit dem Persönlichkeitsrecht des Angeklagten vorgeht. Außerdem können Angeklagte bzw. Verteidiger jederzeit gegenüber den Medien Stellung zu den Vorwürfen nehmen, sodenn sie möchten.
Allein die Überlegungen des BGH dazu, dass es sich um einen Fall "leichterer Kriminalität" gehandelt hat, scheint bei der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von immerhin fünf Jahren doch eher zweifelhaft. Diese könnte man auch als erhebliche(re) Straftat sehen, die deutlich über einer Alltagskriminalität liegt – und damit der Berichterstattung der Medien in solchen Fällen noch weiter den Rücken stärken.
BGH zur Berichterstattung über Strafverfahren: . In: Legal Tribune Online, 21.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49116 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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