Die Entscheidung des BGH zum "Leben als Schaden" war für alle Beteiligten in ihrer Reichweite völlig überraschend. Nun wurden die Urteilsgründe veröffentlicht. Die entscheidenden Fragen bleiben darin aber offen.
Von der Geschichte hinter dem Fall, den der Bundesgerichtshof (BGH) Anfang April entschied (Urt. v. 02.04.2019, Az. VI ZR 13/18), lassen sich zwei Versionen erzählen: Die des entfernt lebenden Sohnes, der versucht, nach dem Tod seines Vaters Kapital aus dessen Ableben zu schlagen. Und die des Sohnes, der jahrelang mitansehen musste, wie sein sterbenskranker Vater mehr und mehr dahinsiechte, sinnlos und seinem Arzt ausgeliefert.
Welche dieser Versionen der Realität am nächsten kommt, ist weder bekannt noch juristisch relevant. Was man weiß: Der Sohn und Alleinerbe eines verstorbenen Mannes verklagte nach dem Tod seines Vaters dessen Hausarzt auf Schadensersatz für die Leiden, die sein Vater habe erdulden müssen. Der demenzkranke Mann hatte die letzten Jahre seines Lebens im Siechtum verbracht, geplagt von Entzündungen in Lunge und Gallenblase, unfähig, sich noch mitzuteilen.
Der Vorwurf seines Sohnes lautete, der Arzt habe ihn entgegen der medizinischen Indikation mittels künstlicher Ernährung über eine PEG-Sonde weiter ernährt, ohne zuvor Rücksprache mit ihm oder dem gesetzlichen Vertreter, einem Rechtsanwalt, gehalten zu haben. So habe er das Leiden seines Vaters unnötig verlängert, denn wäre er, der Sohn, gefragt worden, so hätte er sich entschieden, ihn sterben zu lassen. Nachdem das Landgericht (LG) seine Klage zunächst abgewiesen hatte, sprach ihm das Oberlandesgericht in zweiter Instanz Schadensersatz i. H. v. 40.000 Euro zu. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Mediziner pflichtwidrig gehandelt habe und betrachtete das Weiterleben des Vaters unter Qualen auch als einen zivilrechtlich verwertbaren Schadensposten – ein (Weiter-) Leben als Schaden also.
Ärztliche Pflichten am Lebensende nicht geklärt
Die Revisionsentscheidung des BGH kam dann selbst für den Anwalt des letztlich erfolgreichen beklagten Arztes überraschend. Nicht etwa mit der Feststellung, ein Leben könne niemals ein Schaden sein. Dies war stets umstritten und von Gerichten unterschiedlich beurteilt worden. Dass Erben aber die Behandlungskosten einer womöglich rechtswidrigen Lebenserhaltung nicht zurückverlangen können, war so von niemandem erwartet worden. Die schriftlichen Urteilsgründe liegen inzwischen vor.
Diese überraschen zunächst schon damit, dass der BGH eine Tatsache in Frage stellt, die von den Vorinstanzen ohne weiteres unterstellt worden war, nämlich die Rechtswidrigkeit des ärztlichen Handelns. Leider setzt sich der Senat nicht mehr vertieft mit dieser medizinrechtlich durchaus wichtigen Frage auseinander. Ärzte wie Anwälte hatten große Hoffnungen in das Urteil gesetzt, das hätte klären können, welche Aufklärungs- und Behandlungspflichten ein Arzt in der so heiklen Phase des Lebensendes zu beachten hat. Doch es könne dahinstehen, heißt es im Urteil, ob der Allgemeinmediziner hier pflichtgemäß gehandelt habe, da es jedenfalls an einem ersatzfähigen Schaden fehle. Damit umgingen die Richter eine Klärung dieses wichtigen Punkts und widmeten sich gleich der oft plakativ zusammengefassten Frage: Kann das Leben ein Schaden sein?
BGH: Kein Dritter darf über den Wert des Lebens urteilen
Nein, lautet die Antwort aus Karlsruhe. Um einen Schaden festzustellen, müsse die tatsächliche mit der hypothetischen Lage verglichen werden, wenn der Arzt also pflichtgemäß gehandelt hätte. Die Option eines Weiterlebens ohne Leiden habe es nicht gegeben, stellt der Senat klar. Daher sei die einzige Vergleichsmöglichkeit die Beendigung des Lebens. Das menschliche Leben aber sei ein "höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig", so die Richter. "Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben - auch ein leidensbehaftetes Weiterleben - als Schaden anzusehen."
Wie schon in der mündlichen Verhandlung rekurriert der Senat auf den 1983 entschiedenen "Röteln"-Fall (Az. VI ZR 114/81). Darin ging es um eine während ihrer Schwangerschaft an Röteln erkrankte Mutter, deren Kind dadurch eine Behinderung erlitten hatte. Weil ihr Arzt diese nicht in einem frühen Stadium erkannt und ihr damit die Möglichkeit zu einem Schwangerschaftsabbruch gegeben hatte, verlangte sie von ihm u. a. im Namen ihres Kindes Schadensersatz für dessen Leben mit Behinderung. Hier war die Alternative also nur die Verhinderung des Lebens. Der BGH entschied damals, ein Leben, gleich ob krank oder gesund, könne niemals ein Schaden sein. Und hielt fest, dass das Urteil, ob der Tod besser sei als das Leben, niemandem zustehe, vor allem nicht dem Staat. In der Entscheidung hieß es damals sogar, der Mensch habe grundsätzlich sein Leben so hinzunehmen, wie es von der Natur gestaltet sei.
Gleichwohl gestehen die Karlsruher Richter in ihrer aktuellen Entscheidung ein, dass der Vergleich ein wenig hinkt: "Die Fallkonstellationen unterscheiden sich vor allem dadurch, dass dem Menschen im Gegensatz zum Nasciturus grundsätzlich das Recht zuerkannt wird, selbstbestimmt über eine ärztliche Behandlung, so auch den Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme, zu entscheiden." Das entspricht der immer stärkeren Rolle der Patientenautonomie in der Rechtsprechung und der heute auch gesetzlich festgelegten Befugnis des Einzelnen, auch gegen ärztlichen Rat Behandlungen abzulehnen – bis hin zum Tod. Das gilt auch dann, wenn er einwilligungsunfähig wird. In diesem Fall obliegt es Angehörigen und gesetzlichen Vertretern, dem Willen des Patienten Geltung zu verschaffen.
Wer bewertet das Leben?
Damit bereitete der Senat eigentlich den Boden für eine anders lautende Entscheidung. Schließlich ging es im Fall des verstorbenen Vaters gar nicht um die objektive Beurteilung des Lebenswerts, sondern nur um eine Prognoseentscheidung: Wofür hätte sich der im Sterben Liegende, so er noch dazu fähig gewesen wäre, entschieden? Hätte er an seinem Leben festgehalten oder sich für den Tod entschieden?
Doch diesen Einwand verwarf der Senat recht nonchalant: Auch wenn ein Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachten möge, sei es dem Staat verboten, ein solches Urteil über sein Leben zu fällen. Das heißt letztlich: Auch wenn das Leben gegen den klaren Willen des Patienten erhalten würde, könnte dies kein Schmerzensgeld nach sich ziehen, weil dazu eine verbotene Lebenswertabwägung nötig wäre. Warum hier aber überhaupt ein objektives Werturteil über das Leben gefragt sein sollte, erklärt der Senat nicht.
Damit vermischt er zwei verschiedene Grundsätze unserer Rechtsordnung: Die Unabwägbarkeit menschlichen Lebens und die Autonomie des Patienten. Gewiss ließe sich noch hören, dass wer beurteilen müsse, ob ein Patient sein eigenes Leben noch als lebenswert erachten würde, letztlich auch ein eigenes Werturteil fälle. Doch diese argumentative Mühe machen sich die Richter hier nicht.
Kein Ersatz der Behandlungskosten
Auch die Ausführungen des BGH zu einem zwar weniger moralisch, dafür aber monetär sehr wichtigen Aspekt dieser Entscheidung – den Kosten der mutmaßlich rechtswidrigen Behandlung – fallen dünn aus. Für die lange künstliche Ernährung waren erhebliche Behandlungskosten aufgelaufen, die der Sohn nun von dem behandelnden Mediziner ersetzt haben wollte. Dies lehnt der BGH ab: Selbst wenn die ärztlichen Behandlungspflichten verletzt worden wären, dienten diese jedenfalls nicht dazu, das Vermögen des Patienten für seine Erben zu erhalten.
Zwar erkennt der Senat an, dass die mit dem Weiterleben verbundenen wirtschaftlichen Belastungen – anders als das Weiterleben selbst – durchaus ein Schaden sein könnten. So könne nach bisheriger Rechtsprechung z.B. die durch die Geburt eines Kindes ausgelöste finanzielle Belastung der Eltern als Schaden zu ersetzen sein. Bezeichnenderweise legen sich die Richter aber auch hier nicht abschließend fest und lassen die Frage im Ergebnis offen. Schließlich werde die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der Norm begrenzt.
Widerspruch zum "Röteln"-Urteil
Das mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Es hilft allerdings noch nicht darüber hinweg, dass auch die ärztliche Behandlung nicht mehr und nicht weniger ist als eine vertraglich vereinbarte Dienstleistung. Und aus der Logik des Zivilrechts folgt: Wer diese nicht wie besprochen durchführt, haftet ggf. auch für Schäden, die daraus entstehen.
Im vom Senat selbst zitierten "Röteln"-Urteil hatte der BGH die finanziellen Belastungen der Eltern als ersatzfähigen Schaden anerkannt. Warum der VI. Zivilsenat in seiner "wertenden Betrachtung" nun aber zu der Annahme gelangt, dass ein Arzt, der seine Pflichten am Lebensende statt am Lebensbeginn verletzt, die Kosten der Weiterlebens nicht tragen muss, bleibt wie so vieles in dieser Entscheidung offen.
Der BGH wirft damit den bislang festgezurrt geglaubten Grundsatz des Arzthaftungsrechts, dass Ärzte für schuldhafte Aufklärungs- und Behandlungsfehler auch finanziell einstehen müssen, über Bord und erklärt kaum, warum. Gewiss ist es keine schöne Vorstellung, wenn Ärzte stets unter dem Damoklesschwert hoher Schadensersatzansprüche behandeln müssten. Andererseits kann in unserer immer älter werdenden Gesellschaft mit der künstlichen Lebensverlängerung schwer kranker Menschen viel Geld verdient werden, wobei mitunter die Belange der Patienten auf der Strecke bleiben. Schreckensszenarien lassen sich also in beide Richtungen konstruieren, doch das hilft nicht weiter. Ein aufschlussreicheres Urteil hingegen hätte allen Beteiligten geholfen.
Urteilsgründe des BGH zum "Leben als Schaden": . In: Legal Tribune Online, 30.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35131 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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