2/2: Wie die deutschen Gerichte auf den EGMR reagierten
Auf die vom EGMR entschiedene Rechtssache "Furcht" und die darin ausgesprochene Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland wegen eines Verstoßes gegen das faire Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) hatte bereits das BVerfG reagiert (Beschl. v. 18.12.2014, Az. 2 BvR 209/14 u.a.). Dabei hatte es wie schon zuvor der 5. Strafsenat des BGH die Tatprovokation als solche deutlich gebrandmarkt, ohne dabei allerdings klare Vorgaben für die von den Gerichten geforderte Reaktion festzulegen. Die Annahme eines Verfahrenshindernisses – der weitreichendsten Reaktion, die das deutsche Prozessrecht vorsieht – hatte das BVerfG als Option nicht ausgeschlossen, aber letztlich nur für "extreme Ausnahmefälle" im Sinn.
Der 2. Strafsenat des BGH hat sich nun auf der Rechtsfolgenseite offensichtlich klarer positioniert und in dem von ihm konkret zu entscheidenden Fall ein Verfahrenshindernis angenommen – obwohl es sich bei der beschriebenen Konstellation eher nicht um einen "extremen" Fall der Tatprovokation handeln dürfte.
Das lässt aufhorchen, denn selbst der EGMR hat in der Rechtssache "Furcht" für den Fall der Tatprovokation nicht ausdrücklich ein Verfahrenshindernis als Reaktion vorgeschrieben - was er völkerrechtlich auch nicht dürfte -, wohl aber ein Verbot der Verwertung der aus der Provokation gewonnenen Erkenntnisse oder eine "ähnliche Reaktion" gefordert.
Eine solche sieht der 2. Strafsenat des BGH im konkreten Fall offensichtlich nur durch die Annahme eines Verfahrenshindernisses gewährleistet und verwirft damit die konstante bisherige Rechtsprechung aller fünf Strafsenate des BGH wegen zwischenzeitlicher "Überholung" durch den EGMR, ohne die Frage dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vorzulegen.
Legitimer Zweck heiligt nicht alle Mittel
Auch wenn man die genaue Begründung des Urteils noch abwarten muss, verdient der Ansatz Zustimmung. Das Urteil ist zudem mutig, weil es sich klar zu rechtsstaatlichen Standards im Strafprozess verhält, die aber der viel beschworenen "Effektivität der Strafverfolgung" auch signifikante Grenzen setzen werden. Es gilt an dieser Stelle einmal mehr: der legitime Zweck der Strafverfolgung heiligt eben nicht alle Mittel. Dieses Credo setzt der 2. Strafsenat mustergültig um – auch wenn er zugleich klarstellt, dass ein Verfahrenshindernis möglicherweise nicht für jeden Fall der Tatprovokation die gebotene Rechtsfolge ist.
Das Urteil dürfte damit klare Maßstäbe setzen sowohl für den zulässigen verdeckten Einsatz staatlicher Stellen bei der Kriminalitätsbekämpfung, namentlich im Drogenbereich, als auch bei der Auswahl der Rechtsfolge im Falle einer Missachtung dieser Leitlinien. Auf die Strafverfolgungsbehörden dürfte das Urteil zudem eine disziplinierende Wirkung entfalten, weil beim Überschreiten der Grenze einer Tatprovokation von nun an stets damit gerechnet werden muss, dass das Strafverfahren gegen die Betroffenen eingestellt werden wird.
Die Einstellung des Strafverfahrens muss dann allerdings bereits durch die im Ermittlungsverfahren federführende Staatsanwaltschaft erfolgen, damit nicht rechtswidrig zu einer Straftat verleitete Personen – wie vermutlich auch im vorliegenden Fall – zunächst mehrere Monate in Untersuchungshaft verbringen, um dann vom erkennenden Gericht oder gar vom Revisionsgericht zu erfahren, dass ein Strafverfahren gegen sie von Anfang an gar nicht hätte geführt werden dürfen.
Erlaubt sei an dieser Stelle der Hinweis, dass für die bei BtM-Delikten übliche Untersuchungshaft im Falle ihrer Rechtswidrigkeit in Deutschland "für den Schaden der nicht Vermögensschaden ist" derzeit der stolze Betrag von 25 Euro pro Tag gezahlt wird. Aber das ist nur ein weiteres Thema aus dem weiten Feld der Menschenrechte im Strafverfahren. Bei der Tatprovokation ist Deutschland rechtsstaatlich ein großes Stück vorangekommen.
Prof. Dr. Robert Esser ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Passau und Leiter der dortigen Forschungsstelle Human Rights in Criminal Proceedings (HRCP).
BGH zu Agent Provocateur: . In: Legal Tribune Online, 11.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15817 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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