Das Bundeskartellamt stufte Amazon als Unternehmen mit "überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb" ein und unterstellte es damit einer strengeren Wettbewerbsaufsicht. Dagegen klagt Amazon nun vor dem BGH.
Amazon kennen alle. Für viele ist es der schnellste und einfachste Weg, Sachen zu kaufen. Man kann von Amazon selbst kaufen oder über die gleichnamige Online-Plattform von einem dort gelisteten Einzelhändler. Im ersten Fall ist Amazon Verkäufer, im zweiten nur Handelsplattform. Diese hybride Struktur ist wettbewerbsrechtlich schwer zu greifen, denn das Unternehmen wird hier auf verschiedenen Märkten tätig. Darüber hinaus betreibt es Logistikdienste und sammelt Unmengen an Daten von Nutzern und Einzelhändlern.
Die sich aus diesem Gesamtkonstrukt ergebende wirtschaftliche Macht veranlasste das Bundeskartellamt (BKartA) im Juli 2022 dazu, Amazon als Unternehmen mit "überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb" einzustufen. Diese Kategorie war erst 2021 in einem neuen § 19a Abs. 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) eingeführt worden. Anfang 2022 ist schon der Internetriese Google als erstes Unternehmen entsprechend eingestuft worden.
BKartA: "Zentraler Schlüsselspieler im E-Commerce"
Das BKartA begründete seine Entscheidung damit, dass Amazon "zentraler Schlüsselspieler im Bereich des E-Commerce" sei, dessen Angebote unter anderem als Händler, Marktplatz, Streaming- und Cloud-Anbieter zu einem "digitalen Ökosystem" verbunden seien. Amazon wehrt sich gegen diese Entscheidung mit einer Beschwerde vor dem Kartellsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, Az. KVB 56/22). Der Grund: Das Unternehmen will den weitreichenden Aufsichtsmaßnahmen entgehen, zu denen § 19a Abs. 2 GWB das BKartA befugt.
Die Annahme einer "überragenden marktübergreifenden Bedeutung" erlaubt der Behörde, Praktiken zu untersagen, die Einfluss auch auf solche Märkte haben, auf denen das Unternehmen (noch) nicht marktbeherrschend ist. Sie kann etwa Selbstbevorzugung verbieten. Im Fall von Amazon könnte das der Fall sein, wenn Produkte, die Amazon selbst im Direktverkauf anbietet, weiter oben in den Suchergebnissen gelistet werden als gleichwertige Produkte von Wettbewerbern, für welche Amazon lediglich als Verkaufsplattform fungiert. Gleiches gilt für das Aufrollen neuer Märkte – wenn es darum geht, die eigene Marktstellung auf neuen Märkten etwa durch Bündelangebote schnell auszubauen – sowie das Ausnutzen von Datenmacht.
BGH entscheidet als Tatsacheninstanz
Im Gegensatz zu Google/Alphabet und Facebook/Meta legten Amazon und Apple gegen die Einstufung eine sog. Kartellverfahrensbeschwerde ein. Das Unternehmen hält die Einstufung nämlich für falsch. "Der Einzelhandelsmarkt, in dem Amazon tätig ist, ist sehr groß und ausgesprochen wettbewerbsintensiv, online wie offline", sagte ein Sprecher gegenüber der dpa. Der Gesamtanteil des E-Commerce am deutschen Einzelhandelsumsatz sei für das Jahr 2022 durch den Handelsverband Deutschland auf nur 13,4 Prozent geschätzt worden.
§ 19a GWB, der in dem am Dienstag verhandelten Fall im Fokus stand, geht auf eine Modernisierung und Stärkung der wettbewerbsrechtlichen Missbrauchsaufsicht im Jahr 2021 zurück. Der vorliegende Fall ist das erste Gerichtsverfahren, in dem § 19a GWB geprüft bzw. überprüft wird.
Eine weitere Besonderheit: Über Verfügungen des BKartA aufgrund von § 19a GWB ist der BGH in erster – und damit zugleich letzter – zuständig (§ 94 i.V.m. § 73 Abs. 5 GWB). Das normalerweise für Kartellverfahrenbeschwerden vorgesehene Verfahren über zwei Instanzen, das vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf seinen Ausgang nimmt, gilt hier nicht. Das führt dazu, dass der BGH im vorliegenden Fall auch Tatsachengericht ist. Er muss somit klären, ob die Voraussetzungen des § 19a Abs. 1 GWB vorliegen, also ob Amazon tatsächlich eine "überragende marktübergreifende Bedeutung" hat.
Voraussichtlich keine EuGH-Vorlage
Der Fall wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass die Thematik durch Normen des Unionsrechts überlagert wird: Amazons Anwälte argumentierten vor dem BGH vor allem, der neue § 19a GWB hätte der EU-Kommission vor Inkrafttreten vorgelegt werden müssen, ein ihrer Auffassung nach notwendiges Notifizierungsverfahren habe nicht stattgefunden. Zudem widerspreche die Norm Vorgaben des europäischen Gesetzes über digitale Märkte (Digital Markets Act – DMA). Auch eine Verletzung der Grundrechte rügen die Anwälte.
Dem hielt ein Vertreter des Kartellamts am Dienstag vor dem BGH entgegen, dass die EU beim Entwickeln dieses Gesetzes die deutsche Vorschrift schon gekannt und berücksichtigt habe. Außerdem seien die Verfahren der Behörde sehr individuell und auf konkrete Maßnahmen bezogen. Vorlagepflichtig sind aus Sicht des BKartA damit nur allgemeingültigere Regelungen.
Nach erster Einschätzung des BGH-Kartellsenats verstößt § 19a GWB voraussichtlich weder gegen Unionsrecht noch gegen das Grundgesetz. Nachdem die Karlsruher Richter am Dienstag aber noch offengelassen hatten, ob sie den Fall wegen der möglicherweise verletzten Notifizierungspflicht gegenüber der EU-Kommission an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorlegen müssten, teilte der BGH am Mittwoch mit, dass der Kartellsenat derzeit keine solche Vorlage plane. Damit dürften sich Fragen zu den prozessualen Auswirkungen einer Vorlage nach Luxemburg erübrigen: Am Dienstag hatten die Richter mit den Beteiligten umfangreich erörtert, ob der BGH das Verfahren, wie in Revisionsverfahren üblich, so lange aussetzen müsste, bis der EuGH entschieden hat, oder ob er hier, weil er ausnahmsweise Tatsacheninstanz ist, mit der Beweisaufnahme fortsetzen könnte. Dies hatte BGH-Pressesprecher Dr. Kai Hamdorf gegenüber LTO erklärt.
Auch wenn man dies als Erfolg für das BKartA werten kann, hat sich der Fall damit nicht erledigt, denn ob Amazon wirklich ein Unternehmen von "überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb" ist, muss der BGH noch prüfen. Auch ohne Vorlage könnte sich das Verfahren also noch eine ganze Weile hinziehen. Dies hatte der Vorsitzende Richter Wolfgang Kirchhoff aufgrund der "gewaltigen Komplexität des Falls" in Aussicht gestellt. Weitere Verhandlungstermine seien möglich. Neben dem Amazon-Verfahren ist auch die Beschwerde von Apple beim BGH anhängig. Im Fall von Microsoft hat das Kartellamt die Prüfung Ende März eingeleitet.
mk/LTO-Redaktion
mit Material der dpa
BGH verhandelt über Kartellverfahrensbeschwerde: . In: Legal Tribune Online, 28.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52099 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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