Der Bundesgerichtshof (BGH) hat den Teilfreispruch für den NSU-Helfer André E. bestätigt und zugleich die Revision der Bundesanwaltschaft abgelehnt. Christian Rath war dabei und analysiert das Urteil.
Mit dem Urteil am Mittwoch ist die juristische Aufarbeitung der NSU-Terrorserie zu einem vorläufigen Ende gekommen. Nun sind alle fünf NSU-Urteile, die das Oberlandesgerichts München 2018 verkündet hatte, rechtskräftig. Weitere Verfahren sind derzeit nicht absehbar.
Die rechte Terrorgruppe NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) bestand aus drei Personen: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhard und Beate Zschäpe. Von 2000 bis 2007 haben sie neun Migranten und eine Polizistin ermordet. Sie verübten zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Bei der Entdeckung 2011 töteten sich Mundlos und Böhnhardt.
Zschäpe war im Juli 2018 vom Oberlandesgericht (OLG) München zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Mit ihr erhielten die vier Helfer Ralf Wohlleben, Thomas G., Carsten S. und André E. mehrjährige Haftstrafen.
Das erste E.-Urteil
Nur der Helfer André E. war vom OLG München relativ milde bestraft worden. Er erhielt eine Freiheitsstrafe von 2,5 Jahren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Die Bundesanwaltschaft hatte 12 Jahre Haft gefordert. Sie betrachtete E. wegen der engen ideologischen Verbundenheit als eine Art viertes NSU-Mitglied. Als das Urteil 2018 verkündet wurde, jubelten rechte Gesinnungsgenossen im Gerichtssaal.
Das OLG München sah es nicht als erwiesen an, dass E. von Beginn an von den Morden des Trios Kenntnis hatte, sondern erst ab 2007. Konkret ging das OLG von drei Phasen aus: Von 1998 bis 2006 sei E. ein Bekannter gewesen, der dem im Untergrund lebenden Trio gelegentlich half. Damals sei er aber nur davon ausgegangen, dass sich die drei verstecken müssen, weil sie von der Polizei wegen anderer Taten gesucht wurden. Ab 2006 erwuchs dann eine Freundschaft und E. ahnte, dass das Trio sein illegales Leben mit Raubüberfällen finanzierte. Erst Anfang 2007 habe ihn das Trio in die Mord-Taten eingeweiht, nachdem er Zschäpe bei einem Polizei-Verhör gedeckt und sich damit als loyal und verlässlich erwiesen hatte.
Deshalb hat das OLG den treuen Helfer letztlich nur wegen des Kaufs von je einer Bahncard für Zschäpe und Böhnhardt im Jahr 2009 verurteilt. Freigesprochen wurde E. dagegen für das dreimalige Anmieten von Wohnmobilen in den NSU-Anfangsjahren 2000 bis 2003. Damals habe E. nicht wissen können, dass das Trio damit zwei Raubüberfälle in Chemnitz und einen Sprengstoff-Anschlag in Köln verübt. Es habe ein entsprechender Gehilfenvorsatz gefehlt.
Auch die Unterstützung von E für Zschäpe bei der Polizei im Januar 2017 blieb straflos. Die Unterstützung einer kriminellen Vereinigung, von deren Existenz E. hier laut OLG bereits ausging, war verjährt. Und eine Unterstützung der terroristischen Vereinigung NSU sei für E. zu dem Zeitpunkt noch nicht möglich gewesen, weil er erst am nächsten Tag von der Existenz des NSU erfahren habe.
Bundesanwaltschaft gegen Teil-Freispruch
Gegen diese Entscheidung hatte nicht nur E. Revision eingelegt, der einen völligen Freispruch forderte, sondern auch die Bundesanwaltschaft. Die Karlsruher Ankläger beantragten eine Aufhebung des Teil-Freispruchs für E. Die Begründung des OLG sei "lückenhaft und widersprüchlich".
Bundesanwalt Jochen Weingarten war freilich bewusst, dass er hohe Hürden überwinden muss. Schließlich griff die Bundesanwaltschaft ja die Beweiswürdigung des OLG an, die in der Revision grundsätzlich zu akzeptieren ist.
Hohe Hürden des Revisionsrechts
Es kommt daher nicht überraschend, dass die Revision der Bundesanwaltschaft beim 3. Strafsenat des BGH scheiterte. Der Vorsitzende Richter Jürgen Schäfer nahm sich aber viel Zeit, um die Grundzüge des Revisionsrechts auch für Nicht-Jurist:innen zu erklären. Schließlich wurde die Verkündung vom Fernsehen aufzeichnet.
So könne die tatrichterliche Beweiswürdigung des OLG in Karlsruhe nur beanstandet werden, wenn Rechtsfehler vorliegen, das heißt, "wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt", betonte Schäfer. Wenn die Schlussfolgerungen des OLG "möglich" seien, müssten sie in der Revision akzeptiert werden.
Und um alle Missverständnisse zu vermeiden, betonte Schäfer, dass diese Grundsätze vom BGH nun nicht für dieses Verfahren entwickelt wurden, sondern ständiges Handwerkszeug sind.
Tatsächlich blieb es nach der Verkündung des Tenors im Sitzungssaal ruhig. Es waren allerdings auch fast nur Journalist:innen anwesend. Bei der mündlichen Verhandlung vor zwei Wochen hatte noch die Antifa vor dem BGH demonstriert.
Abweichende Schlussfolgerungen
So habe das OLG durchaus bedacht, betonte Richter Schäfer, dass E. (auf dessen Bauch "Die Jew Die" tätowiert ist) die ideologisch motivierte Tötung von Menschen befürwortete und die Ausländerfeindlichkeit des Trios teilte. "Das OLG hat hieraus nur andere Schlüsse gezogen als die Bundesanwaltschaft", erklärte Richter Schäfer.
Als widersprüchlich hatte die Bundesanwaltschaft kritisiert, dass das OLG die engen Kontakte des Trios zu E. in der frühen Untergrundphase bis 2002 als "sporadisch" bezeichnete und daraus schloss, dass E. keinen Einblick in die Lebensverhältnisse des Trios hatte. Dagegen habe das OLG eine ab 2006 bestehende ähnlich enge Konstellation ganz anders gewertet: Nun habe sich für E. der Gedanke aufdrängen müssen, dass die Untergetauchten ihren Lebensunterhalt mit Überfällen finanzieren.
Der BGH fand beides aber durchaus vereinbar. "Es kommt nicht nur auf die Häufigkeit der Kontakte, sondern auch auf die Qualität an", betonte Richter Schäfer. Erst ab 2006 sei der Umgang vertrauter geworden, weil sich nun Beate Zschäpe mit der Ehefrau Susann von Andrè E. angefreundet hatte und dessen Kinder für Zschäpe wie Ersatzkinder waren.
Bombenbau drängte sich nicht auf
Außerdem hätte E. durchaus auch auf die Idee kommen können, dass seine Freunde Sprengstoffanschläge begehen, hatte die Bundesanwaltschaft argumentiert. Schließlich sei seit 1998 in der rechten Szene bekannt gewesen, dass das untergetauchte Trio in der Lage war, Sprengstoff zu beschaffen. Auch mit dieser naheliegenden Überlegung habe sich das OLG nicht auseinandergesetzt. Als "lückenhaft" wertete dies die Bundesanwaltschaft.
Doch auch damit konnte sie beim BGH nicht durchdringen. "Der Schluss von der Fähigkeit zur Beschaffung von Sprengstoff auf die Möglichkeit der Herstellung eines Sprengkörpers drängt sich nicht auf", betonte BGH-Richter Schäfer. Schließlich habe das Trio vor dem Untertauchen 1998 nur Bombenattrappen hergestellt und keine funktionsfähigen Sprengsätze.
BGH findet selbst gefundenen "Widerspruch" auch nicht überzeugend
Schon bei der mündlichen Verhandlung vor zwei Wochen hatte sich abgezeichnet, dass die Argumente der Bundesanwaltschaft beim BGH wenig Chancen haben. Eine Restspannung blieb aber, weil der BGH in der Verhandlung selbst einen möglichen Widerspruch in der OLG-Argumentation zur Diskussion stellte.
So habe das OLG einerseits argumentiert, Zschäpe habe E. vor dem Gang zur Polizei im Januar 2007 nichts von den Morden erzählt, weil die Raubüberfälle des Trios eine ausreichend plausible Begründung für dessen Leben unter falscher Identität darstellen. Dagegen habe das OLG angenommen, dass das Trio E. nach dem Polizeibesuch auch von seinen Morden berichtete, aus Sorge dass E. die Raubüberfälle allein nicht als ausreichende Begründung für ein Leben im Untergrund akzeptieren könnte.
Doch der BGH wertete das nun lediglich als "vordergründige Unstimmigkeit". Vor dem Polizeibesuch sei es um eine einmalige Aktivität gegangen und nach dem Polizeibesuch um das gesamte weitere Leben, erläuterte Richter Schäfer. Auch die Bundesanwaltschaft hatte in der Verhandlung schon abgewunken. Es sei "nicht unplausibel", was das OLG hierzu geschrieben habe.
Revision von André E. scheitert ebenfalls
Erst recht keine Überraschung war es, dass die Revision von André E. scheiterte. Der Kauf einer Bahncard für Zschäpe und Böhnhardt sei für diese "objektiv nützlich" gewesen, auch als eine Art Ersatzausweis. Auf den Gebrauch kam es nicht an, betonte nun Richter Schäfer.
E. war weder zur Urteilsverkündung noch zur Verhandlung angereist. Bei der Verkündung war auch sein Verteidiger Herbert Hedrich nicht mehr erschienen.
Am meisten dürfte sich über die BGH-Entscheidung vielleicht Manfred Götzl gefreut haben, der am OLG München als Vorsitzender Richter das NSU-Verfahren geleitet hat. Sein oberstes Anliegen, dass das Urteil auf keinen Fall in der Revision scheitern darf, hat sich nun also realisiert.
Trost vom BGH
Richter Schäfer sagte, das OLG Urteil sei zwar wegen seiner teilweisen Redundanz schwer zu lesen, aber "in der Sache sorgfältig". Es genüge den revisionsrechtlichen Anforderungen in jeder Hinsicht. "Noch mehr zu verlangen, hieße den Bogen zu überspannen", betonte Jürgen Schäfer.
Jürgen Schäfer erinnerte bei der Urteilsverkündung auch an die verletzten Opfer des NSU und die Angehörigen der Getöteten. "Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass diese Personen die Kraft gefunden haben oder noch finden werden, ihr Leben zu meistern." Mit einer gewissen Feierlichkeit las der Richter auch die Namen der zehn Getöteten vor.
Urteil des BGH: . In: Legal Tribune Online, 15.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46951 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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