Der BGH hat einen eher unspektakulären Fall zum Anlass genommen, um sich klar zum Völkerstrafrecht zu positionieren: Der Immunität von Angehörigen ausländischer Streitkräfte erteilt er eine deutliche Absage.
Der Fall, den der Staatsschutzsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) am Donnerstag entschied, war vergleichsweise unspektakulär, aber auch nicht banal: Angeklagt war ein Oberleutnant der afghanischen Armee, er hatte bei der Befragung dreier Gefangener Drohungen und Gewalt angewendet hatte und außerdem veranlasst, dass der Leichnam eines Talibankommandeurs an einem Schutzwall aufgehängt, wie eine Trophäe präsentiert und herabgewürdigt wurde. Das Oberlandesgericht (OLG) München hatte ihn wegen gefährlicher Körperverletzung und (versuchter) Nötigung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, die Vollstreckung aber zur Bewährung ausgesetzt.
Der Generalbundesanwalt (GBA) hatte Revision eingelegt, weil er eine Verurteilung wegen Folter als Kriegsverbrechen nach § 8 Abs. 1 Nr. 3 VStGB erreichen wollte. Die Verteidigung wollte das Urteil aus München überprüft wissen, weil es die Schuld als zu gering für den Vorwurf eines Kriegsverbrechens ansah. Im Ergebnis hatte der GBA Erfolg: Der BGH entschied, dass der Oberleutnant sich auch wegen des Kriegsverbrechens der Folter strafbar gemacht hat (Urt. v. 28.01.2021, Az. 3 StR 564/19). Demensprechend hat der 3. Senat den Schuldspruch geändert Das OLG wird nun eine neue Einzelstrafe für den ersten Tatkomplex und eine neue Gesamtstrafe zu bilden haben.
Doch die Karlsruher Richter nutzten den Fall auch, um ein grundsätzliches Problem im Völkerstrafrecht aufzuwerfen: Die Frage der Immunität, kurz gesagt: Können ausländische Armeeangehörige für Kriegsverbrechen überhaupt vor deutschen Gerichten verurteilt werden - oder sind sie durch Immunität vor Strafverfolgung geschützt?
Beim GBA schrillten die Alarmglocken, als der Senat überraschend Immunitätsfragen aufwarf
Für alle Beteiligten überraschend hatte der 3. Strafsenat allerdings nach einem ersten Verhandlungstermin im Sommer den Generalbundesanwalt und die Verteidigung für Ende November zu einem weiteren Termin geladen. Man wollte die Frage diskutieren, ob nicht der Angeklagte als Angehöriger einer ausländischen Armee und damit Repräsentant eines ausländischen Staates funktionelle Immunität genösse und deshalb sein Fall gar nicht vor einem deutschen Gericht gehört werden könne. Diese Anfrage des Senats überraschte sogar die Verteidigung, die selbst nicht auf Immunitätsfragen hingewiesen hatte, und ließ beim Generalbundesanwalt sämtliche Alarmglocken schrillen.
Der Fall selbst war dabei gar nicht so sehr das Problem. Aber andere, wichtigere Fälle, wie das Verfahren vor dem OLG Koblenz gegen Angehörige des syrischen Geheimdienstes, wären aussichtslos, sollte die Immunität für staatliche Funktionsträger angenommen werden. Und das internationale Signal wäre fatal. Die Strafverfolgungsbemühungen des Generalbundesanwalts im Völkerstrafrecht werden weltweit genau beobachtet.
International wird genau beobachtet, wie der GBA Völkerstrafrechtsverfahren vorantreibt
Die Dynamik, mit der die Bundesanwaltschaft Völkerstraftaten verfolgt, erklärt sich auch aus der Tatsache, dass sich viele Opfer und zahlreiche Täter aus dem Syrienkonflikt auf deutschem Boden befinden oder sog. Syrienheimkehrerinnen und -heimkehrer deutsche Staatsbürger sind. In diesen Fällen besteht eine Verfolgungspflicht für internationale Verbrechen nach § 1 VStGB und § 153f StPO. Auch in Fällen, die keinen unmittelbaren Bezug zu Deutschland haben, ist die Strafverfolgung des Bundes auf der Grundlage des Weltrechtspflegeprinzips aktiv, sammelt Beweise in sog. Strukturermittlungsverfahren und erhebt Anklagen, soweit Täter identifiziert sind. Die Rechtsprechung mehrerer Oberlandesgerichte hat die Anwendung des Völkerstrafrechts bereits erheblich geprägt und weiterentwickelt – etwa mit Entscheidungen zur Leichenschändung, die ja auch im vorliegenden Fall relevant war, und zur Ausdehnung des Schutzes des humanitären Völkerrechts nach § 8 Abs. 1 Nr. 8 VStGB auf das postmortale Persönlichkeitsrecht.
Bislang hat der Bundesgerichtshof diese Entwicklungen mitgetragen und in vielen Entscheidungen auch argumentativ überzeugend gestützt. Das wird international wahrgenommen, in ihrem unlängst veröffentlichten Buch zum Syrienkonflikt hat zum Beispiel die Völkerstrafrechtsprofessorin der Eliteuniversität Stanford, Beth van Schaack, Deutschland die Führungsrolle in der strafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien zugeschrieben.
Hätte der Bundesgerichtshof funktionelle Immunität für den Angeklagten angenommen, hätte nicht nur die Bundesanwaltschaft ihre Verfolgungsbemühungen stark reduzieren können; auch Gerichte in anderen Staaten hätten sich mit der Immunitätsfrage auseinandersetzen müssen. Der Verfolgung internationaler Verbrechen, die zuvörderst auf die nationale Strafverfolgung angewiesen ist und die dem ohnehin schwächelnden Internationalen Strafgerichtshof nur eine ergänzende (komplementäre) Rolle zuweist, wäre der Boden weggebrochen.
Der 3. Senat bekennt sich klar zum Völkerstrafrecht
Zum Glück kam es anders. In einer sehr ausführlichen Begründung von 45 Minuten legte der Vorsitzende Richter, Dr. Jürgen Schäfer, ein deutliches Bekenntnis zum Völkerstrafrecht und den Grundlagen internationaler Strafgerechtigkeit ab. Der Senat nahm auf, was der Bundespräsident und der Bundesaußenminister zum 75. Jahrestag des Beginns des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse im November vergangenen Jahres aussprachen: Die Bundesrepublik bekennt sich zu den Nürnberger Prinzipien und der Forderung nach einem Ende der Straflosigkeit für Völkerrechtsverbrechen.
Den Diskussionen in der Völkerrechtskommission über den Stand des Völkergewohnheitsrechts zur Immunität begegnet der Senat in großer Klarheit mit einer akribisch recherchierten Liste relevanter Fälle, die in Nürnberg beginnt, beim Eichmann-Prozess etwas länger verweilt und dann Fälle aus vielen europäischen Nachbarstaaten in Bezug nimmt, bevor die eigene Rechtsprechung zu Fällen aus Ex-Jugoslawien und Ruanda rezipiert werden.
Während der mündlichen Verhandlung war eine Äußerung der deutschen Vertreterin im 6. Komitee der Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Debatte um Immunitäten kontrovers diskutiert worden. Grundsätzlich sind solche Äußerungen der Exekutive für die Begründung von Völkergewohnheitsrecht durchaus relevant. Schließlich muss neben einer Staatenpraxis auch eine Rechtsüberzeugung unter den Staaten vorliegen, um Völkergewohnheitsrecht zu begründen. Der Senat rückt das zurecht, indem er überzeugend ausführt, dass eine einzelne, isolierte Äußerung nicht überbewertet werden dürfe, sondern in den Kontext anderer Aussagen von Außenminister und Bundespräsident gestellt werden müsse.
Eine allgemeine Regel bestehender funktioneller Immunität für Völkerrechtsverbrechen lässt sich aus Völkergewohnheitsrecht nicht herleiten, resümiert der Senat und äußert damit eine interessante Beweislastverteilung: Sein Verständnis von der völkerrechtlichen Situation geht wohl davon aus, dass völkerrechtliche Kernverbrechen überhaupt nicht als staatliche Aufgabe angesehen werden können, weshalb erst eine Regel begründet werden müsse, die hierfür funktionelle Immunität schaffe. Eine konservative Völkerrechtslehre würde wohl umgekehrt davon ausgehen, dass die funktionelle Immunität die Regel sei und eine Ausnahme für Völkerrechtsverbrechen aus Völkergewohnheitsrecht begründet werden müsste. Kriminalpolitisch ist der Ansatz des BGH unbedingt vorzugswürdig.
Warum hat der BGH die Frage nach der Immunität überhaupt aufgeworfen?
Nach dieser stringenten Argumentation überrascht es nicht, dass der Senat keine Notwendigkeit sieht, die Frage nach dem Stand des Völkerrechts nach Art. 100 Abs. 2 GG dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Der vorangegangene, klare Vortrag lässt tatsächlich nicht erkennen, dass man "ernstzunehmende Zweifel" an der völkerrechtlichen Regel der fehlenden Immunität haben könnte. Sicher, der 3. Strafsenat ist nicht bekannt für seine Vorlagefreudigkeit; dass er sich aber auch von – im übrigen häufig – ambivalenten Diskussionen in den New Yorker Ausschüssen der Vereinten Nationen nicht hat irritieren lassen, ist ihm aus Sicht der Strafverfolgung hoch anzurechnen, denn ein Verfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG hätte dieses und andere Verfahren auf Jahr blockiert.
Am Ende stellt sich die Frage, warum der Senat die Diskussion um die Immunität überhaupt vom Zaun gebrochen hat, wenn er die Immunität nun so eindeutig verneint. Möglicherweise gab es interne Meinungsverschiedenheiten im Senat. Möglicherweise erweist sich die Entscheidung als glücklicher völkerstrafrechtspolitischer Schachzug, denn nun hat man in einem günstigen Zeitpunkt eine deutliche Entscheidung getroffen und damit dem ein oder anderen Befürworter der Immunität Wind aus den Segeln genommen.
Schäfer fasste die Bedeutung der Entscheidung zum Ende seiner Urteilsbegründung prägnant zusammen: "Deutschland war, ist und bleibt bis auf weiteres kein sicherer Zufluchtsort für Personen, die Straftaten gegen die Völkergemeinschaft begangen haben." Das ist das richtige Signal aus Karlsruhe für die internationale Staatengemeinschaft.
Professor Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE) hat den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, und Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg inne und ist Whitney R. Harris Fellow am Robert Jackson Center, Jamestown, N.Y., USA.
BGH zu Völkerstrafverfahren in Deutschland: . In: Legal Tribune Online, 29.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44136 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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