BAG fällt Grundsatzurteil: Urlaub bis in alle Ewig­keit

Gastbeitrag von Prof. Dr. Michael Fuhlrott

20.12.2022

Urlaub verjährt nur, wenn der Arbeitnehmer vorher auf seinen Urlaubsanspruch hingewiesen wurde. Und Unionsrecht geht nationalem Recht vor. Mit seinem weitreichenden Urteil setzt das BAG zwingende Vorgaben des EuGH um. Von Michael Fuhlrott.

Urlaub ist wichtig und dient der Erholung. Das wird jede und jeder nur zu gut nachvollziehen können, der derzeit den kurz bevorstehenden Weihnachtsurlaub herbeisehnt.

Mit der aktuellen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urt. v. 20.12.2022, Az.: 9 AZR 266/20 = PM Nr. 48/22 des BAG) sorgen die höchsten deutschen Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter für eine vorzeitige Bescherung: Urlaub verjährt nur, wenn Unternehmen vorher ihre Beschäftigten darauf hingewiesen haben, dass ihnen Urlaub zusteht, der bei fehlender Inanspruchnahme verfällt. Fehlt es hieran, können auch noch Ansprüche aus früheren Jahren geltend gemacht werden. Auf die regelmäßige dreijährige Verjährung nach nationalem Recht (§§ 195, 199 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB) dürfen sich Arbeitgeber in diesen Fällen nicht berufen.

Die Entscheidung des BAG ist einerseits spektakulär und kann erhebliche Auswirkungen haben. Andererseits kommt sich nicht überraschend, denn das BAG setzt mit seinem Urteil zwingende Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urt. v. 22.9.2022, Az.: C-120/21) um, die dieser dem BAG als Antwort auf den bundesarbeitsgerichtlichen Vorlagebeschluss (v. 29.09.2020, Az. 9 AZR 266/20 [A]) ins Stammbuch geschrieben hatte.

Der Ausgangsfall: Urlaub der Vorjahre

Ausgangspunkt des aktuellen Urteils war ein Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht Solingen (Urt. v. 19.2.2019, Az.: 3 Ca 155/18). Die dort klagende Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin war in einer Kanzlei von November 1996 bis Ende Juli 2017 beschäftigt. Da immer viel zu tun war, konnte sie ihren Urlaub nie vollständig in Anspruch nehmen.

Als die Arbeitnehmerin dann aus dem Arbeitsverhältnis ausschied, machte sie noch die Abgeltung von 101 Urlaubstagen aus dem Jahr 2017 und den Vorjahren geltend. Während das erstinstanzlich erkennende Arbeitsgericht die Klage auf Abgeltung bis auf die Urlaubstage des Jahres 2017 abwies, gab das Landesarbeitsgericht Düsseldorf (Urt. v. 21.2.2020, Az.: 10 Sa 180/19) der Klägerin Recht und verurteilte den Arbeitgeber zur Abgeltung des geltend gemachten Urlaubs, sowohl für das Jahr 2017 als auch für die Vorjahre, hinsichtlich der Arbeitgeber sich auf die Einrede der Verjährung berufen hatte. Die Kammer sprach der Steuerfachangestellten damit eine Summe von EUR 17.376,64 brutto Urlaubsabgeltung für die Jahre 2013 bis 2016 zu. Dieses Ergebnis hielt der Arbeitgeber für falsch und rief das BAG zur höchstrichterlichen Klärung an.

"Haltbarkeit" von Urlaub und arbeitgeberseitige Hinweispflicht

Rechtliche Streitfrage, die das BAG damit zu beantworten hatte, war die "Haltbarkeit" von Urlaubansprüchen. Wäre die Frage allein nach nationalem Recht in Form des Bundesurlaubsgesetzes (BUrlG) zu beurteilen, wäre die Lösung einfach: Urlaub, der im aktuellen Kalenderjahr nicht genommen wird, verfällt mit dem Ende des Kalenderjahres, spätestens aber zum 31.3. des Folgejahres (§ 7 Abs. 3 BUrlG). Noch bestehender Urlaub, der wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht beansprucht werden konnte, ist auszuzahlen (§ 7 Abs. 4 BUrlG).

Allerdings ist das deutsche Urlaubsrecht zwischenzeitlich maßgeblich durch das Europäische Recht geprägt. Dort ist das Recht auf bezahlten Jahresurlaub auf höchster Ebene, nämlich in Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta, verbürgt. Weitere Regelungen finden sich zudem in Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie RL 2003/88/EG sowie den zahlreichen Entscheidungen zu dessen Auslegung durch den EuGH. Daher können urlaubsrechtliche Fragen nicht allein nach nationalem Recht, sondern nur im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben betrachtet werden.

Eine für den aktuellen Fall relevante Entscheidung hatte der EuGH bereits 2018 (Urt. v. 6.11.2018, Az.: C-684/16) getroffen und festgestellt, dass Urlaub nur verfallen könne, wenn Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber „durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde“, den Urlaubsanspruch auch wahrzunehmen. Das BAG setzte diese Entscheidung im Folgejahr (Urt. v. 19.2.2019, Az.: 9 AZR 423/16) und schuf eine arbeitgeberseitige Hinweis- und Aufklärungspflicht als Obliegenheit eines Arbeitgebers. Nur, wenn der Arbeitgeber diese erfülle, könne Urlaub nach den Vorgaben des BUrlG verfallen.

Verjährung als Rettungsanker bei fehlendem Hinweis?

Da der Arbeitgeber im vorliegenden Fall die Hinweispflichten nicht erfüllt hatte, schied ein Verfall des Urlaubs hiernach aus. Das vom Arbeitgeber vorgebrachte Argument, dass zum damaligen Zeitpunkt die Hinweis- und Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers noch gar nicht gerichtlich festgestellt war, ließen EuGH und BAG nicht gelten. Der Arbeitgeber berief sich aber zusätzlich auf Verjährung des Urlaubs(abgeltungs)anspruchs.

Denn nach deutschem Recht verjährt ein Anspruch grundsätzlich nach drei Jahren (§ 195 BGB). Diese regelmäßige Verjährungsfrist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Schuldner Kenntnis von den tatsächlichen Umständen hat (§ 199 Abs. 1 BGB). Eine Rechtsfolgenkenntnis ist nicht notwendig. Sprich: Jemand, der von einem anderen Geld geliehen bekommen hat und dies nicht zurückzahlt, kann nach Verjährungseintritt erfolgreich die Einrede der Verjährung geltend machen, selbst wenn der Darlehensgeber nicht wusste, dass ihm ein Rückzahlungsanspruch zusteht. Es reicht also die Kenntnis der Umstände, eine positive Rechtsfolgenkenntnis ist nicht notwendig.

Ob dies auch im Urlaubsrecht gilt, wollte das BAG mit seiner Vorlage vom EuGH wissen. Das BAG hatte hierfür Sympathien. Es berief sich insbesondere auf das Argument der Rechtssicherheit. Dies müsste – so die Meinung aus Erfurt – auch dann gelten, wenn der Arbeitgeber seinen Hinweis- und Unterrichtungsobliegenheiten nicht nachgekommen sei.

BAG: Urlaub verjährt nicht!

Der EuGH erteilte dem BAG insoweit aber eine Absage. Es sei zwar richtig, dass der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse daran habe, "nicht mit Anträgen auf Urlaub oder finanzieller Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub konfrontiert werden zu müssen, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden".

 Allerdings sei dieses Interesse nicht mehr berechtigt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor nicht in die Lage versetzt habe, den Urlaub tatsächlich wahrzunehmen. Denn dadurch habe er sich selbst in eine Situation gebracht, "in der er mit solchen Anträgen konfrontiert" werde und überdies "zulasten des Arbeitnehmers Nutzen ziehen könnte". Daher stehe das nationale Verjährungsrecht Deutschlands den Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie entgegen, wenn es zum Urlaubsverfall beim nicht aufgeklärten Arbeitnehmer führe.

Die aktuelle Entscheidung des BAG war damit vorgezeichnet. In der Pressemitteilung vom 20.12.2022 lautet es daher zwar, dass der gesetzliche Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub der gesetzlichen dreijährigen Verjährung unterliege, wobei die "dreijährige Verjährungsfrist erst am Ende des Kalenderjahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat", beginnt.

Das BAG, so die Pressemitteilung weiter, setze damit die Vorgaben des EuGH um. Und nach diesem trete der Zweck der Verjährungsvorschriften, nämlich die Schaffung von Rechtssicherheit, jedenfalls im vorliegenden Fall hinter dem Gesundheitsschutz des Arbeitnehmers zurück.

Droht Klagewelle auf Urlaubsabgeltung?

Die Entscheidung des BAG stärkt nun zweifelsohne die Rechte von Beschäftigten. Sie macht zudem abermals deutlich, wie stark das Urlaubsrecht zwischenzeitlich vom Unionsrecht geprägt ist. Wenige Entscheidungen des BAG haben überdies bereits im Vorfeld eine so große mediale Aufmerksamkeit erfahren wie das aktuelle Urteil. Dies gilt auch mit Blick darauf, dass eine Klagewelle ehemaliger Beschäftigter gegen vormalige Arbeitgeber auf Urlaubsabgeltung diskutiert wird.

Ob eine solche Welle entstehen wird, dürfte maßgeblich davon abhängen, wie das BAG die Anforderungen an die Geltendmachung "alter" Ansprüche setzen wird und ob Urlaubsansprüche und Urlaubsabgeltungsansprüche "gleich" zu behandeln sind. Aus der bislang allein vorliegenden Pressemitteilung des Gerichts ist dies nicht ableitbar. In der Vergangenheit – allerdings noch vor den Vorgaben des EuGH im September 2022 – hatte das BAG zudem noch ausdrücklich betont, dass Abgeltungsansprüche Verjährungs- und Verfallfristen unterfallen (BAG v. 24.5.2022, Az.: 9 AZR 461/21).

Gleichwohl sei folgendes Gedankenspiel erlaubt, wenn man den Abgeltungsanspruch dem gleichen Regime wie dem Urlaubsanspruch unterwirft: Dem Arbeitnehmer steht qua Gesetz ein Urlaubsanspruch zu. Diesen gewährt der Arbeitgeber durch Erfüllung. Ist streitig, ob ein Anspruch besteht, muss der Anspruchssteller beweisen, dass er einen Anspruch hat. Dafür genügt das Bestehen des Arbeitsverhältnisses. Will sich der Anspruchsgegner auf Erfüllung berufen, muss er diese darlegen und beweisen. Dies könnte zu einer Beweislast für Unternehmen führen, die – wenn sie ihre (ihnen bis dahin noch gar nicht bekannten) Hinweispflichten nicht erfüllt haben – darlegen müssen, wie sie z.B. einen Urlaubsanspruch des Jahres 2009 durch Gewährung in natura erfüllt haben. Kann dies ein Unternehmen nicht, bleibt es beweisfällig und würde zur Zahlung verurteilt – wenn man den Abgeltungsanspruch den gleichen Regelungen unterwirft wie den eigentlichen Urlaubsanspruch.

Und: Selbst Unternehmen, die bislang ihre urlaubsrechtlichen Urlaubsobliegenheiten ordnungsgemäß erfüllt haben, könnten sich dann nicht in völliger Sicherheit wiegen. Zwar dürften Bestandsmitarbeiter dort nicht erfolgreich Abgeltungsansprüche der Vorjahre geltend machen, eine Risikogruppe bleiben aber vormalige Beschäftigte, die vor Anerkennung der Hinweispflichten aus dem Unternehmen ausgeschieden sind und nunmehr die Abgeltung älterer Urlaubsansprüche verlangen.

Es wird daher zu diskutieren sein, ob arbeits- oder tarifvertragliche Ausschlussfristen Unternehmen vor einer Inanspruchnahme schützen. Hier streitet zwar einiges dafür, dass das unionsrechtlich geprägte Urlaubsrecht, das bereits das gesetzliche Verjährungsrecht überwindet, auch durch derartige Regelungen bei fehlender Unterrichtung nicht begrenzt wird. Gewiss dürfte heute daher nur eins sein: Die aktuelle Entscheidung wird Unternehmen in der kommenden Zeit stark beschäftigen.

Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei FHM in Hamburg.

Zitiervorschlag

BAG fällt Grundsatzurteil: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50539 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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