Das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren im Betriebsverfassungsrecht ist verfassungskonform, so das BAG - es bleibt alles beim Alten. Gleichwohl sollten Arbeitgeber spätestens jetzt an die Betriebsratswahlen 2018 denken, sagt Stephan Vielmeier.
Ein Verfahren, das bei der Wahl zum Bundestag schon vor Jahrzehnten als untauglich befunden wurde, bleibt bei der Betriebsratswahl weiter maßgeblich: Die Anordnung des d'Hondtschen Höchstzahlverfahrens zur Verteilung der Betriebsratssitze in § 15 Abs. 1 und Abs. 2 WO BetrVG (Wahlordnung zum Betriebsverfassungsgesetz) ist verfassungskonform. Das hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden (Beschluss v. 22.11.2017, Az. 7 ABR 35/16). Der Verordnungsgeber dürfe die mit diesem Verfahren verbundene Mehrheitssicherung höher gewichten als das Ziel möglichst hoher Erfolgswertgleichheit der Stimmen, so die Richter.
Der Beschluss führt in die Untiefen des Wahlrechts, mit denen sich Betriebsräte, Personaler und Juristen ungern beschäftigen. Die Wahl von Betriebsräten ist in Kleinbetrieben durch das einfache Wahlverfahren gem. § 14a BetrVG noch recht überschaubar. In Betrieben mit mehr als 50 Arbeitnehmern allerdings geht es rund: Dann können sich wie bei einer Bundestagswahl Interessengruppen – etwa den Gewerkschaften nahestehende Beschäftigte – zu Listen zusammenschließen.
Achtung: Mathematik
Dem jetzt entschiedenen Fall lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Bei der Betriebsratswahl 2014 musste ein 17-köpfiger Betriebsrat gewählt werden. Die Arbeitnehmer wählten nicht einzelne Personen, sondern Listen. Im Ergebnis fielen von insgesamt 1142 Stimmen auf die Liste 1 306 Stimmen, auf Liste 2 557 Stimmen und auf Liste 3 279 Stimmen. Diese abgegebenen Stimmen auf die Listen verteilt, könnte für die Besetzung des Betriebsrates bedeuten: Auf die Liste 1 entfielen 4,55 Sitze, Liste 2: 8,29 Sitze und Liste 3: 4,15 Sitze. Das wäre das mathematische Ideal ("Idealanspruch"), allerdings kann es physikalisch keine 0,55 Mandatsträger geben. Ein mathematisches Verteilungsverfahren muss her.
Bei dem für Betriebsratswahlen vorgeschriebenen d'Hondtschen Verfahren werden die abgegebenen Stimmen nacheinander durch einen Divisor geteilt, der "normalen" Zählweise folgend zunächst durch 1, dann durch 2, etc. Der höchste Divisor entspricht der Gesamtzahl der zu wählenden Betriebsratsmitglieder, in diesem Fall also 17. Die 17 höchsten Werte sind die gewählten Mandate. Im Ergebnis bedeutet das schließlich vier Mandate für Liste 1, neun für Liste 2 und noch einmal vier für Liste 3.
Wendet man hingegen andere Berechnungsmethoden an, kann das Ergebnis auch anders ausfallen. Nach dem Sainte-Lague Verfahren entfielen auf Liste 1 fünf Personen; acht Personen auf Liste 2 und vier auf die Liste 3. Das Sainte-Lague Verfahren wird seit einigen Jahren bei den Bundestagswahlen angewendet, weil es unter Mathematikern als weniger nachteilig für kleinere Parteien gilt. Dabei werden die abgegebenen Stimmen ebenfalls nacheinander durch einen Divisor geteilt, zunächst durch 1, dann allerdings, anders als bei d'Hondt, durch 3, dann durch 5, etc. Auch hier sind die 17 höchsten Werte die gewählten Mandate.
Leicht zu erkennen: Auch im BAG-Verfahren kommen die unterschiedlichen Berechnungsmöglichkeiten zu unterschiedlichen Ergebnissen. Das Verfahren nach Sainte-Lague berücksichtigt kleinere Parteien besser; so wäre es auch bei Anwendung im Fall des BAG gewesen. Die Arbeitnehmer der Liste 1 begehren deshalb die Anwendung eines für Minderheiten günstigeren Wahlverfahrens; die Anordnung des d’Hondtschen Höchstzahlverfahrens verletze sie in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs.1 Grundgesetz (GG).
2/2: Mehrheitssicherung wichtiger als Minderheitenschutz
Schon das Arbeitsgericht (ArbG) hat den Antrag abgewiesen, das Landesarbeitsgericht (LAG) Sachsen-Anhalt hat sich dieser Entscheidung angeschlossen. Das in § 15 Abs. 2 WO BetrVG angeordnete d'Hondtsche Höchstzahlverfahren verstoße nicht gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG. Weil alle gängigen Verfahren Abweichungen vom sog. "Idealanspruch" haben, habe der Verordnungsgeber einen "Gestaltungsspielraum" bei der Auswahl. Im Übrigen, so die spannende These des LAG, ginge es bei der Betriebsratswahl nicht um eine streng spiegelbildliche Repräsentation, sondern (nur) darum, dass sich die Belegschaft "wiederfindet".
Schließlich, so deutet das LAG an, hätte eine Verfassungswidrigkeit von § 15 WO BetrVG gravierende Folgen: Da eine verfassungskonforme Auslegung der Norm nicht möglich sei, könne eine Betriebsratswahl bis zur Neufassung durch den Verordnungsgeber nicht durchgeführt werden. Die allgemeinen Betriebsratswahlen 2018 wären also womöglich undurchführbar gewesen.
Diese Sorgen um die Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung mag das BAG mit im Blick gehabt haben, als es den Antrag nun – wie bereits zuvor das LAG – abgewiesen hat. Der Verordnungsgeber habe einen Gestaltungsspielraum bei der Auswahl der Berechnungsmethode. Im Übrigen fördere das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren die Mehrheitssicherung, was ein anzuerkennendes Ziel sei, befanden die Richter in Erfurt.
Herausforderungen bei der Betriebsratswahl 2018
Für die Praxis ist der Beschluss des BAG zu begrüßen, da er die anstehenden Betriebsratswahlen 2018 von einem Damoklesschwert befreit. Gleichwohl sollten Arbeitgeber und auch Betriebsräte die Entscheidung zum Anlass nehmen, sich spätestens jetzt mit der anstehenden Betriebsratswahl 2018 zu beschäftigen. Diese findet turnusgemäß im Zeitraum vom 1. März 2018 bis 31. Mai 2018 statt.
Auch wenn durch den Beschluss des BAG eine Baustelle beseitigt wurde, so verbleiben genug ungeklärte Spannungsfelder. Dies beginnt schon beim Rechtsschutz in der Betriebsratswahl: unter welchen Voraussetzungen ist eine einstweilige Verfügung auf Abbruch einer Wahl zulässig – und kann es umgekehrt auch eine einstweilige Verfügung des Wahlvorstandes geben? Wie können Arbeitgeber oder auch die Gewerkschaft reagieren, wenn der Wahlvorstand inaktiv bleibt oder bewusst bzw. unbewusst Fehler macht?
Aber auch in formeller und materieller Hinsicht gibt es Fragen: ist eine zeitgemäße Online-Betriebsratswahl rechtlich zulässig und müssen Leiharbeitnehmer berücksichtigt werden? Wann darf der Wahlvorstand Kandidaten streichen und wie ist die Wahlurne richtig zu versiegeln?
Letztlich bleibt die Betriebsratswahl ein verkopftes und überkompliziertes System. Wer etwa die erstmalige Wahl eines Wahlvorstandes durch die Belegschaft im produzierenden Gewerbe miterleben durfte, merkt, dass das BetrVG und die WO am Bedürfnis und der Lebenswirklichkeit in mittelgroßen Betrieben vorbeigehen. Hier wäre der Gesetzgeber am Zug, für die nötige Entbürokratisierung zu sorgen – im Sinne von Arbeitgeber und Belegschaft gleichermaßen.
Der Autor Stephan Vielmeier ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Noerr LLP in Hamburg. Er berät Unternehmen in allen Fragen des Individual- und Kollektivarbeitsrechts, insbesondere bei Auseinandersetzungen mit ihren Betriebsräten.
Stephan Vielmeier , Sitzverteilung bei der Betriebsratswahl: BAG rettet die Betriebsratswahlen 2018 . In: Legal Tribune Online, 27.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25681/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
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