BAG entscheidet über die Vergütung von Fahrzeiten: Das Ende der Anfahrts­pau­schale?

Gastbeitrag von Dr. Alexander Willemsen

19.03.2020

Fahrtzeiten von daheim zum ersten Termin haben Arbeitgeber bisher nur teilweise vergütet. Das Argument war, dass auch der direkte Weg zur Arbeit nicht bezahlt wird. So einfach ist es nicht mehr. Alexander Willemsen erklärt das BAG-Urteil.

Die aktuellen Entwicklungen rund um die Covid19-Pandemie macht auch vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) nicht halt: Am Mittwoch fand die vorerst letzte mündliche Verhandlung in Erfurt statt; auf absehbare Zeit sind alle weiteren Verhandlungstermine aufgehoben. Den vorläufigen Schlusspunkt setzt der Fünfte Senat mit einer Entscheidung zur Behandlung von Fahrtzeiten (Urt. v. 18.3.2020, Az. 5 AZR 36/19). Anders als noch die Vorinstanzen erklärt er eine betriebliche Regelung zur Pauschalierung von Fahrtzeiten für unwirksam und stellt klar, dass die Vergütungspflicht von Fahrtzeiten durch Betriebsvereinbarungen nicht eingeschränkt werden kann.

Der Kläger ist als Servicetechniker im Außendienst bei einem Unternehmen tätig, das aufgrund der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband an die Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen gebunden ist. Diese Tarifverträge finden auf der Grundlage einer dynamischen Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag auf das Arbeitsverhältnis Anwendung.

Bei der Beklagten gilt eine Betriebsvereinbarung zur flexiblen Arbeitszeit aus dem Jahr 2001 (BV Flexible Arbeitszeit). Darin ist unter § 8 An- und Abfahrtzeiten folgendes geregelt: "Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden zählen nicht zur Arbeitszeit, wenn sie 20 Minuten nicht übersteigen. Sobald die An- oder Abreise länger als 20 Minuten dauert, zählt die 20 Minuten übersteigende Reisezeit zur Arbeitszeit. Insoweit sind für den Kundendiensttechniker jeweils 20 Minuten Fahrzeit für An- und Abreise zumutbar." Mit seiner Klage begehrte der Kläger Vergütung bzw. Anrechnung auf das Arbeitszeitkonto von 68 Stunden und 40 Minuten Fahrtzeiten.

Instanzgerichte: Kein Fall des Tarifvorbehaltes

Die Klage hatte vor dem Arbeitsgericht Düsseldorf und dem Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf keinen Erfolg. Das LAG war der Auffassung, dass ein Arbeitsvertrag regelmäßig betriebsvereinbarungsoffen ausgestaltet sei. Das bedeutet, dass Regelungen einer Betriebsvereinbarung auch verschlechternd in Rechte eingreifen dürfen, die durch den Arbeitsvertrag begründet werden. Das LAG hielt daher die Regelung in der Betriebsvereinbarung für wirksam.

Zwar gibt es § 77 Abs. 3 S. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) einen sog. Tarifvorbehalt, wonach Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebs-vereinbarung sein können. Aus Sicht des LAG seien aber weder die Vergütung noch die Wochenarbeitszeit in der Betriebsvereinbarung des beklagten Unternehmens geregelt und damit läge kein Fall des Tarifvorbehaltes vor.

BAG rügt Verletzung des Tarifvorrangs

Das BAG hielt die Klage – anders als die Vorinstanzen – für begründet. Bei der Fahrzeit, so die Erfurter Richter, handle es sich um vergütungspflichtige Arbeitszeit. Diese Vergütungspflicht werde durch die Betriebsvereinbarung nicht ausgeschlossen. Die Regelung sei nämlich wegen Verstoßes gegen den Tarifvorrang nach § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG unwirksam.

Anders als das LAG Düsseldorf verwies der Fünfte Senat des BAG darauf, dass nach dem geltenden Manteltarifvertrag sämtliche Tätigkeiten, die ein Arbeitnehmer in Erfüllung seiner vertraglichen Hauptleistungspflicht erbringt, mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten seien. Dazu gehöre bei Außendienstmitarbeitern die gesamte für An- und Abfahrten zum Kunden aufgewendete Fahrtzeit. Da der Manteltarifvertrag keine Öffnungsklausel zugunsten abweichender Betriebsvereinbarungen enthalte, sei § 8 BV Flexible Arbeitszeit wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre unwirksam.

Ende eines Kompromisses zur Risikoverteilung

Die Entscheidung wird erhebliche Auswirkungen auf Unternehmen mit Außendienstmitarbeitern und Servicetechnikern haben. Wie deren erste An- und letzte Abfahrt vergütungstechnisch behandelt wird, ist regelmäßig Gegenstand von Diskussionen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat und wird nicht selten in betrieblichen Vereinbarungen geregelt.

Arbeitgeber haben oft ein Interesse daran, die „ineffizienten“ Zeiten einer An- und Abfahrt von einer Vergütungspflicht auszunehmen, weil den Kunden oft nur eine Anfahrtspauschale in Rechnung gestellt werden kann. Nur wenige Betriebsräte sind allerdings bereit, das Risiko langer Anfahrtszeiten – etwa durch Staus und andere Verkehrsbehinderungen – auf die Mitarbeiter abzuwälzen. Häufig sind betriebliche Regelungen wie die vorliegende dann der Kompromiss – ein Teil der An- und Abfahrt wird vergütet, ein Teil eben nicht.

Derartige Regelungen dürfte mit dem Urteil von gestern der Vergangenheit angehören. Unternehmen sind gut beraten, ihre betrieblichen Regelungen daraufhin zu überprüfen, ob sie ähnliche Einschränkungen wie die vom BAG geprüfte Klausel enthalten. Sollte dies der Fall sein, ist Abhilfe zu schaffen: Danach den klaren Vorgaben des BAG kein Raum für die Einschränkung der Vergütungspflicht von Fahrtzeiten mehr besteht, wird vielen Unternehmen nichts anderes übrig bleiben, als die Zusatzkosten für Serviceleistungen vor Ort anzupassen und Anfahrtspauschalen zu erhöhen. Wo derartige Möglichkeiten einer Weiterbelastung nicht bestehen – etwa beim Vertriebsaußendienst – sollten die Unternehmen prüfen, welche anderen Mittel Abhilfe schaffen könnten, etwa der Neuzuschnitt von Vertriebsgebieten.

Eine Tür bleibt allerdings noch offen: Im Jahr 2018 hat der Fünfte Senat in anderem Zusammenhang klargestellt, dass durch Arbeits- oder Tarifvertrag eine gesonderte Vergütungsregelung für eine andere als die eigentliche Tätigkeit und damit auch für Fahrten zur auswärtigen Arbeitsstelle getroffen werden kann (BAG, Urt. v. 25.4.2018, 5 AZR 424/17). Mit dem Arbeitnehmer selbst bzw. mit der Gewerkschaft kann also durchaus vereinbart werden, dass Zeiten der Anfahrt zum ersten und die Rückfahrt vom letzten Kunden keiner oder einer verringerten Vergütungspflicht unterliegen – nur der Betriebsrat ist hierfür der falsche Verhandlungspartner.

Der Autor Dr. Alexander Willemsen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht. Er ist Partner bei der Kanzlei Oppenhoff & Partner in Köln.

Kanzlei des Autors

Zitiervorschlag

BAG entscheidet über die Vergütung von Fahrzeiten: . In: Legal Tribune Online, 19.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40939 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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