Im Streit um die Kündigung eines Chefarztes durch seinen katholischen Arbeitgeber hat das BAG dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt – und damit einen bemerkenswerten Justizkonflikt markiert, sagt Hermann Reichold.
Die unendliche Geschichte geht weiter: Weil das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2014 die vom Bundesarbeitsgericht (BAG) 2011 verneinte Kündigung des katholischen Chefarztes aus Düsseldorf als verfassungswidrig beanstandete (BVerfG, Beschl. v. 22.10.2014, Az. 2 BvR 661/12), musste der Erfurter Kündigungssenat am Donnerstag "nachsitzen". Überraschend gab es dabei kein Endurteil im Streit um den sogenannten Loyalitätsverstoß in Form der Wiederverheiratung. Das BAG wollte dem BVerfG wohl zeigen, dass man sich noch nicht geschlagen gibt, und hat den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur fallbezogenen Auslegung der Kirchenklausel im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aufgefordert. Es möchte erst einmal vom Gerichtshof wissen, ob die Kirchen nach dem Unionsrecht bei einem an Arbeitnehmer in leitender Stellung gerichteten Verlangen nach loyalem und aufrichtigem Verhalten unterscheiden dürfen zwischen Arbeitnehmern, die der Kirche angehören, und solchen, die einer anderen oder keiner Kirche angehören (BAG, Beschl. v. 28.07.2016, Az. 2 AZR 746/14 (A)).
Das BAG hatte sich im ersten Urteil noch umstandslos auf das Abwägungsprogramm des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eingelassen, um dem Privatleben des klagenden Chefarztes des Düsseldorfer St. Vinzenz-Krankenhauses bei Beachtung der katholischen Sonderkündigungsrechte nach ausführlicher Abwägung den Vorrang zu geben und die Kündigung abzulehnen. Nachdem der Erfurter Senat von den Karlsruher Kollegen zurückgepfiffen wurde, hätte er sich eigentlich der – Spielräume offen lassenden – Würdigung im BVerfG-Beschluss unterordnen und den Streit entscheiden müssen. Das tat er aber nicht, sondern ging lieber den Aus- beziehungsweise Umweg nach Luxemburg zum EuGH.
Für den BAG-Senat wurde jetzt erheblich, dass das katholische Klinikum seine Chefärzte mit evangelischem Bekenntnis bei Wiederverheiratung ohne Weiteres gewähren ließ. Für diese gab es keine Sanktionen. Dem Kläger wurde hingegen gekündigt, obwohl seine aus katholischer Sicht "wilde Ehe" zunächst toleriert wurde. Die Vorhaltung einer Differenzierung in der Behandlung leitender Mitarbeiter je nach Konfession prägte letzten Endes das Ersturteil des BAG – und wurde vom BVerfG zurückgewiesen, weil eine solche Differenzierung in der Grundordnung vorgesehen war, die 2015 sogar noch vertieft wurde, und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden war.
BAG möchte "europäische" Überprüfung des BVerfG-Spruchs
Damit wird offenkundig, dass der 2. BAG-Senat jetzt den Aufstand gegen die Verfassungshüter in Karlsruhe probt. Schon im ersten BAG-Urteil wurde die EU-Richtlinie, die im AGG in § 9 umgesetzt worden ist, thematisiert: Der Chefarzt sei ohne Zweifel als Tendenzträger mit besonderen "beruflichen Anforderungen" auch zu besonderem Privatverhalten verpflichtet. Jetzt wird aber genauer hinterfragt, ob und warum der katholische Chefarzt härteren Sanktionen wegen seines Privatverhaltens unterliegt als seine evangelischen Kollegen.
Diese Anfrage des BAG an den EuGH ist deshalb bemerkenswert, weil der Beschluss des BVerfG vom 22.10.2014 diese Frage nach deutschem Verfassungsrecht beantwortet und bejaht hatte. Abstufungen in den so genannten Loyalitätsobliegenheiten gab es 2009 genauso wie es sie heute noch nach Liberalisierung der Grundordnung durch die Deutsche Bischofskonferenz 2015 gibt. Doch mag die Erfurter Richter beeinflusst haben, dass sich diesbezüglich die Rechtslage heute verändert darstellt: Dem klagenden Chefarzt hätte heute, also im Jahr 2016, nicht mehr gekündigt werden können. Eine Kündigung kommt wegen des kirchenrechtlich unzulässigen Abschlusses einer Zivilehe nur dann in Betracht, wenn sie objektiv geeignet ist, "ein erhebliches Ärgernis in der Dienstgemeinschaft oder im beruflichen Wirkungskreis zu erregen und die Glaubwürdigkeit der Kirche zu beeinträchtigen" (Art. 5 Abs. 2 Ziff. 2 lit. c Grundordnung des kirchlichen Dienstes).
Das BAG möchte also eine Anfrage an den EuGH richten, die nach aktuellem deutschen Verfassungsrecht klar beantwortet werden kann: Ja, nach der verbindlichen Judikatur des BVerfG in 2014 kann die Kirche verbindlich bestimmen, "bei einem an Arbeitnehmer in leitender Stellung gerichteten Verlangen nach loyalem und aufrichtigem Verhalten zwischen Arbeitnehmern zu unterscheiden, die der Kirche angehören, und solchen, die einer anderen oder keiner Kirche angehören".
Nagelprobe für "Kooperation" der Verfassungsgerichte
Das BAG hat mit seinem Ersuchen vor dem EuGH nichts anderes getan, als die Kooperation der obersten Verfassungsgerichte auf eine Bewährungsprobe zu stellen. Denn auch das BVerfG hat sich in seinem Beschluss vom 22.10.2014 mit der Rechtsprechung des EGMR in Straßburg auseinandergesetzt und keinen Widerspruch zur eigenen Judikatur im Bereich der korporativen Religionsfreiheit gefunden.
Die deutschen Verfassungsrichter dürften jetzt mit einiger Sorge nach Luxemburg blicken, ob der EuGH die zweite Vorlage des BAG zur Überprüfung des § 9 AGG im Einklang mit Straßburg und Karlsruhe entscheiden und den bislang großzügigen Freiraum der Kirchen nicht etwa beschneiden wird.
Was bei alledem völlig zu kurz kommt, ist das wohl verstandene Interesse des Klägers selbst, endlich in Ruhe gelassen zu werden vor weiteren Attacken auf seine bislang unbeanstandete Ausübung des medizinischen Berufs selbst. Insoweit fragt man sich wirklich, warum nicht längst eine Erledigungserklärung seitens der Kirche erfolgt ist.
Der Autor Prof. Dr. Hermann Reichold ist Leiter der Forschungsstelle für kirchliches Arbeitsrecht und Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.
Chefarzt-Kündigung nach katholischer Wiederheirat: . In: Legal Tribune Online, 29.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20143 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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