Muss ein Arbeitgeber den Streikaufruf einer Gewerkschaft auf dem Betriebsgelände hinnehmen? Nach bisheriger Rechtsprechung wohl nicht, doch nun hat das BAG eine kleine Volte hingelegt, erklären Robert von Steinau-Steinrück und Nils Jöris.
Die Gewerkschaft Verdi hat vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) einen bemerkenswerten Sieg gegen den Internet-Konzern Amazon errungen. Der hatte sich dagegen gewehrt, dass die Arbeitnehmervertreter einen Streik auf seinem Betriebsgelände organisiert hatten. Nach Auffassung des Ersten Senats in Erfurt umfasst das Streikrecht aber auch die Befugnis der Gewerkschaft, Angestellte unmittelbar vor dem Betriebsgebäude anzusprechen, um sie für die Teilnahme am Streik zu gewinnen. Eine solche Aktion kann – abhängig von den örtlichen Gegebenheiten – mangels anderer Mobilisierungsmöglichkeiten auch auf dem Firmenparkplatz des bestreikten Arbeitgebers zulässig sein, entschied das Gericht am Dienstag (Urt. v. 20.11.2018, Az. 1 AZR 189/17).
Besonders machte den Fall, dass Amazon das besagte Logistikzentrum in einem außerorts gelegenen Gewerbegebiet betreibt. Entsprechend kommen die Mitarbeiter ganz überwiegend mit dem Auto zur Arbeit, wo es einen entsprechend großen Firmenparkplatz gibt. Im September 2015 wurde die Amazon-Dependance an zwei Tagen bestreikt. Die streikführende Gewerkschaft Verdi baute dazu auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang Stehtische und Tonnen auf und postierte dort ihre Vertreter sowie streikende Arbeitnehmer. Diese verteilten Flyer und forderten die zur Arbeit erscheinenden Angestellten zur Teilnahme am Streik auf.
Mit seiner Klage verlangte Amazon daraufhin, solche Aktionen künftig zu unterlassen. Das Arbeitsgericht (ArbG) gab diesem Antrag in der ersten Instanz noch statt. Es war der Ansicht, ein Arbeitgeber könne ganz unabhängig vom Ausmaß und der Beeinträchtigung seiner Interessen solche Arbeitskampfmaßnahmen verbieten. Deshalb stellte sich auch nicht die Frage, ob die Gewerkschaft auf die Nutzung des Firmenparkplatzes angewiesen war, um Mitarbeiter zum Streik zu mobilisieren. Entscheidend war nach Auffassung der ersten Instanz, dass der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, an Arbeitskampfmaßnahmen gegen ihn selbst mitzuwirken. Und hatte das BAG dabei wohl auf seiner Seite gewähnt.
Senat betont Einzelfallcharakter
Doch das Landesarbeitsgerich (LAG) und nun auch das BAG traten dem entgegen. Nach ihrer Auffassung kann sich aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) für den Arbeitgeber die Pflicht ergeben, Einschränkungen seiner Eigentums- und Besitzrechte zu dulden. Die Abwägung der grundrechtlichen Positionen (Streikrecht der Gewerkschaft auf der einen Seite gegen Eigentums- und Besitzrecht des Arbeitgebers auf der anderen Seite) kann nach Auffassung des BAG eine kurzzeitige, "situative" Beeinträchtigung auf Arbeitgeberseite rechtfertigen. Zumindest nach seiner Pressemitteilung legt der Erste Senat allerdings Wert darauf, dass es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt.
Die "konkreten örtlichen Gegebenheiten" ließen in diesem Fall andere Mobilisierungsmöglichkeiten faktisch nicht zu. Zu physischen Zugangsbehinderungen sei es nicht gekommen, ebenso wenig zu Betriebsablaufstörungen. Ausgehend davon nahm das BAG – anders als die erste Instanz – eine Abwägung vor.
Schon das LAG hatte die Streikmaßnahme für gerechtfertigt gehalten, weil nur so die für einen funktionierenden Arbeitskampf unerlässliche "Kampfparität" auf Seiten der Gewerkschaft hergestellt werden könne. Danach muss der Arbeitgeber jedenfalls eine geringfügige Beeinträchtigung seiner Rechtsposition hinnehmen, wenn anders eine effektive Streikmobilisierung nicht möglich ist.
"Jeder kämpft für sich" gilt nicht mehr uneingeschränkt
Mit dieser Entscheidung setzt sich der Erste Senat zum einen von seinem Beschluss vom 15. Oktober 2013 (I ABR 31/12) ab, in dem er bei der Nutzung von Kommunikationsmitteln den Grundsatz "Jeder kämpft für sich" hoch gehalten hatte, d. h. die Gewerkschaft könne nicht Betriebsmittel des Arbeitgebers zu dessen Schädigung in Anspruch nehmen. Zum anderen setzt sich der Erste Senat von seiner "Flashmob-Entscheidung" (BAG vom 22.09.2009 – I AZR 972/08) ab, in der er zur Beruhigung der Arbeitgeberseite noch geurteilt hatte, ihm stehe ja das Hausrecht jederzeit als Mittel gegen den gewerkschaftlichen Arbeitskampf zur Verfügung.
Was heißt das nun für die Praxis? Der bisher hoch gehaltene Satz, dass der Arbeitgeber ganz grundsätzlich über Art. 9 Abs. 3 GG nicht verpflichtet werden kann, an Arbeitskämpfen gegen ihn selbst mitzuwirken, gilt so nicht mehr. Spannend ist jetzt die Frage, ob der Erste Senat in seinen Urteilsgründen klar herausarbeiten wird, dass diese Entscheidung eine absolute Ausnahme von der vorbeschriebenen Regel darstellt. Die Ausnahme nämlich, wenn einerseits die Beeinträchtigung auf Arbeitgeberseite gering ist und andererseits eine anderweitige Streikmobilisierung auf Gewerkschaftsseite unmöglich. Schließlich wird es darauf ankommen, ob diese Ausnahme nur bei Arbeitskämpfen gelten soll oder darüber hinaus bei allen Gewerkschaftsbetätigungen im Rahmen der Koalitionsfreiheit.
Der Autor Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück ist Rechtsanwalt und Partner bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Berlin. Der Autor Nils Jöris ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Berlin.
BAG zu Verdi-Streik vor Logistikzentrum: . In: Legal Tribune Online, 21.11.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32227 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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