Rettungsschiffe: Gibt es ein Recht auf den sicheren Hafen?

Gastbeitrag von Stephan Koloßa

14.08.2018

Frankreich hat sich für unzuständig erklärt. Italien und Spanien haben es schon abgelehnt, die "Aquarius" einlaufen lassen. Dabei ist Seenotrettung eine völkerrechtliche Pflicht. Aber so einfach ist es nicht, erklärt Stephan Koloßa.

Wieder hat Matteo Salvini erklärt, dass ein Rettungsschiff "niemals" einen Hafen in Italien anlaufen werde. Dieses Mal ist es die "Aquarius", der der italienische Innenminister die Einfahrt verweigert. Anders als die "Lifeline" wird sie wohl auch in Spanien nicht einlaufen dürfen. Die Betreiber SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen haben nach Medienberichten mehrere Regierungen aufgefordert, das Schiff anlegen zu lassen. Man habe unter anderem die zuständigen Leitstellen in Italien und auf Malta, aber auch in Tunesien angefragt. Zwischenzeitlich hat sich Frankreich eingeschaltet – und sich für nicht zuständig erklärt, aber Gespräche mit anderen Mittelmeeranrainerstaaten aufgenommen.

Bei den 141 Flüchtlingen auf dem Boot, die die Helfer am Freitag in der libanesischen Such- und Rettungszone gerettet haben, handelt es sich hauptsächlich um Somalier und Eritreer.

Zuletzt war es die Lifeline, die über eine Woche warten musste, bis sie nach einer Absage Italiens und auch Spaniens in Malta* anlegen konnte. Nach der zunächst "lediglich" belastenden Situation drohte die Lage dort, zu einer lebensbedrohlichen Notlage zu werden. Die Lifeline erhielt eine Notversorgung von anderen Schiffen. So schlimm ist es auf der Aquarius noch nicht. Aber gibt es überhaupt ein Recht darauf, in einem europäischen Küstenstaat wie Spanien oder Italien nicht nur zu landen, sondern auch von Bord zu gehen?

Der Grundsatz: Jeder Staat darf die Einfahrt in seine Gewässer verweigern

Die Rechtslage nach dem internationalen Seerecht ist recht klar. Man muss allerdings zwischen verschiedenen Aspekten unterscheiden: dem Recht auf Hilfeleistung auf See, dem Recht, in einen sicheren Hafen einlaufen zu dürfen, und dem Recht auf Ausschiffung, d.h. das Schiff verlassen und an Land gehen zu dürfen.

Grundsätzlich hat jeder Staat die absolute Hoheitsgewalt über sein Territorium. Das schließt seine Hoheitsgewässer mit ein. Die Territorialgewässer umfassen in der Regel eine Distanz von 12 Seemeilen. Der Staat darf grundsätzlich jedem Schiff die Einfahrt in seine Hoheitsgewässer verweigern und es nach unrechtmäßiger Einfahrt wieder ausweisen.

Davon gibt es jedoch Ausnahmen - namentlich die völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung. Sie gilt in jedem Bereich der See und ist Ausdruck der Menschlichkeit auf See. In den zahlreichen Übereinkommen aus dem Bereich des Seerechts finden sich entsprechende Vorschriften.

Die Ausnahme: Die Seenotrettung ist eine völkerrechtliche Pflicht

Die Pflicht, in Seenot geratenen Booten und Schiffen Hilfe zu leisten, wird häufig als althergebrachte und fundamentale Pflicht der Seeschifffahrt bezeichnet. Diese Pflicht ist elementar für alle Seefahrer und Ausdruck der Menschlichkeit.

Die Völkerrechtskommission bekundete diese positiv-rechtliche Pflicht bereits 1956. Die Kommission hatte wiederum ihre Formulierung dem Art. 11 des Übereinkommens zur einheitlichen Feststellung von Regeln über die Hilfeleistung und Bergung in Seenot von 1910, Art. 8 des Übereinkommens zur einheitlichen Feststellung von Regeln über den Zusammenstoß von Schiffen von 1910 und Reg. 10, Kap. V des Anhangs zum Internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See von 1948 (SOLAS) entnommen.

Inzwischen hat die gewohnheitsrechtliche Regel des Seerechts auch Ausdruck in Art. 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1994 (SRÜ) gefunden. Art. 98 Abs. 1 lit. b) SRÜ verpflichtet seinem Wortlaut nach den Kapitän eines Schiffes ausdrücklich zur Hilfeleistung einer Person in Seenot, wenn eine solche Hilfe von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann. Nicht vernünftig wäre eine Hilfeleistung etwa dann, wenn der Kapitän dadurch sein Schiff und seine Mannschaft in Gefahr bringen würde. Trotz des systematischen Standorts der Norm und ihres teils engen Wortlauts gilt die Pflicht zur Hilfeleistung für den gesamten Seebereich, nicht nur für die Hohe See. Und die Pflicht wirkt sich auch den Staat aus, nicht nur auf den Kapitän.

Was ist Seenot?

Wesentliche Voraussetzung ist, dass sich das andere Schiff in Seenot befindet. Eine Legaldefinition für "Seenot" gibt es nicht. Nach herrschender Auffassung liegt eine solche Situation jedoch vor, wenn aus Sicht eines erfahrenen Seemannes die begründete Gefahr besteht, dass Besatzung oder Passagiere ihr Leben verlieren.

Die Frontex-Verordnung der Europäischen Union (656/2014) zählt in Art. 9 Abs.2 lit. f) noch weitere  Fallkonstellationen beispielhaft auf, etwa eine unzureichende Versorgungslage, aufgrund derer die nächste Küste nicht erreicht werden kann, eine Überbeladung mit Passagieren oder auch beim Bedarf an akuter medizinischer Versorgung; auch schlechte Wetter- und Seebedingungen können Seenot begründen.

Ein eventuelles Verschulden, etwa durch eine bewusste Überbeladung des Schiffes, hat auf die primäre Hilfspflicht – wie im Gefahrenabwehrrecht typischerweise – keine Auswirkungen. Auch kommt es nicht darauf an, ob ein Schiff zufällig in Seenot gerät oder Hilfe leisten will, oder aber wie die Aquarius gezielt zur Rettung von Geflüchteten eingesetzt und eine Seenotsituation eventuell in Kauf genommen wird. Eine solche Unterscheidung ist dem Seerecht fern.

Kein Recht darauf, an Land zu gehen

Die wichtigste Frage ist aber, wie weit diese Hilfspflicht reicht. Eine Versorgung, sei es mit Nahrungsmitteln, sei es medizinischer Art, könnte auf See erfolgen. Es wäre grundsätzlich also nicht nötig, dafür den Küstenstaat zu betreten. Die Staatengemeinschaft nimmt daher allgemein kein Recht auf Ausschiffung an. Ein außereuropäisches Beispiel dafür lieferte die "Tampa". Im Jahr 2001 weigerte sich Australien, aus Seenot gerettete Migranten an Bord des norwegischen Frachters aufzunehmen - wohl zu Recht.

Auch aus dem SOLAS-Übereinkommen lässt sich kein Recht auf Ausschiffung ableiten. Obwohl der Wortlaut der Reg. 33, Kap. V Anhang des SOLAS-Übereinkommens eine solche Pflicht nahelegen könnte, statuiert die Norm tatsächlich nur eine primäre Pflicht der Staaten, bei der Suche nach einem geeigneten sicheren Anlauf-Hafen zur Ausschiffung zu kooperieren. Dass der betroffene Staat die Ausschiffung selbst erlauben muss, besagt die Vorschrift nicht.

Mehr ergibt sich auch nicht aus dem Internationalen Übereinkommen zur Seenotrettung von 1979 (SAR-Übereinkommen), das die völkerrechtlichen Pflichten bei Seenot ergänzt und die Seenotrettung sowie die staatliche Kooperation verbessern soll. Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation hat die Weltmeere in 13 Rettungszonen aufgeteilt, die sog. SAR-Zonen. Allerdings verpflichtet auch das SAR-Übereinkommen die verantwortlichen Küstenstaaten lediglich, Hilfe zu leisten und die Passagiere an einen sicheren Ort zu bringen (Annex, Regel 1.3.2, 3.1.9). Ein "sicherer Ort" ist dort, wo das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und wo ihre menschlichen Grundbedürfnisse gedeckt werden können. Dies kann, muss aber nicht der nächst gelegene, sichere Hafen sein. Die zwingende Aufnahme der Personen auf dem Staatsgebiet des jeweiligen Küstenstaates regelt das Übereinkommen nach wohl überwiegender Ansicht nämlich nicht.

An dieser Rechtslage ändern auch die 2006 in Kraft getretenen Ergänzungen zum SAR-Übereinkommen und zur SOLAS-Konvention nichts, die ein Recht auf Ausschiffung explizit nennen. Vornehmlich geht es auch hier um die Koordination der Rettungsaktion und die Suche nach einem sicheren Ort, nicht um das Betreten des jeweiligen Küstenstaates.

Das gewohnheitsrechtliche Nothafenrecht

Es gibt auch ein gewohnheitsrechtliches Nothafenrecht. Es erlaubt einem Schiff in Seenot, d.h. bei konkreter Gefahr für Passagiere, Mannschaft oder Fracht, in einen sicheren Hafen einzulaufen. Eine solche besondere Notlage liegt etwa vor, wenn sich unter den Geretteten Schwangere und Verletzte befinden.

Eingeschränkt werden kann dieses Recht nur, wenn der Hafenstaat selbst gefährdet würde, wenn sich also von dem Schiff aus etwa Seuchen ausbreiten könnten oder Umweltverschmutzungen drohten.

Sollte also eine Versorgung der Aquarius auf See nicht mehr möglich sein oder unzureichend werden und sich die Situation dramatisch verschlimmern, bestünde jedenfalls ein Nothafenrecht, das zumindest das Einlaufen in einen Hafen erlauben würde. Aber die Menschen dürften das Schiff nicht direkt verlassen; ein Recht auf Ausschiffung in Italien ergibt sich auch aus dem Nothafenrecht  nicht.

Letzte Hoffnung Grenzschutz

Letzte Hoffnung bietet lediglich die bereits genannte Frontex-Verordnung der Europäischen Union. Sie regelt die Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten bei der Sicherung der Seeaußengrenzen. In Art. 9 findet sich auch hier die Verpflichtung zur Seenotrettung, die eine Verantwortung der an der Rettungsaktion beteiligten Staaten etabliert, einen sicheren Ort zur Ausschiffung zu bestimmen (Art. 10 Abs. 1 lit. c).

Art. 10 geht aber weiter. In Abs. 1 Abs. 2 statuiert die Norm das Recht der geretteten Personen, im Einsatzstaat an Land zu gehen. Als verantwortlicher Einsatzstaat, also der Staat, auf dessen Hoheitsgebiet die Operation stattfindet, müsste Italien ein Ausschiffen dulden.

Auch das gilt aber nicht uneingeschränkt. Italien ist zunächst erneut bloß zur Sorgfalt verpflichtet, einen sicheren Ort für die Geretteten zu finden. Nur wenn es so schnell nicht möglich ist, "nach vernünftigem Ermessen" einen sicheren Ort zu finden, besteht das Recht auf Ausschiffung im Einsatzstaat. Also erst, wenn keine andere Lösung mehr möglich wäre, hätten die Menschen an Bord subsidiär das Recht, in Italien an Land zu gehen.

Nach geltendem Seerecht müsste sich die Lage auf der "Aquarius" also dramatisch verschlechtern, damit sie zunächst in Seenot gerät. Nur wenn zudem keine andere Möglichkeit besteht, einen anderen sicheren Hafen anzulaufen, muss Italien die Passagiere an Land lassen. Hoffen wir also, dass sich die Staaten schnellstmöglich einigen und eine Lösung zur Sicherheit der Menschen im Mittelmeer finden.

Der Autor Stephan Koloßa ist Wiss. Mit. am Institut für Friedenssicherungs- und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum sowie Mitglied des Fortschrittskollegs "SecHuman". Er beschäftigt sich vorwiegend mit dem Völker- und Europarecht.

*Anm. d. Red.: In einer früheren Version hieß es an dieser Stelle "Valencia", die Lifeline legte aber in Malta an, geändert am 21.08.2018, 14.30 Uhr. Danke für den Hinweis an eine aufmerksame Leserin!

Zitiervorschlag

Rettungsschiffe: . In: Legal Tribune Online, 14.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30313 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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