Rechtliche Änderungen und Gesetzesvorhaben in Russland rufen aus westeuropäischer Sicht bisweilen Kopfschütteln hervor. Warum viele Unternehmen und Wirtschaftsanwälte dennoch vor Ort bleiben, erläutert Stefan Weber.
Russland ist seit längerem und in vielerlei Hinsicht mit negativen Schlagzeilen vertreten: Wirtschaftliche Krise, Abwenden vom Westen, Ausbau der Kontrolle über die Bürger. Vieles davon beeinflusst auch die anwaltliche Arbeit in einer Wirtschaftskanzlei. Ausländische Investoren und ansässige Rechtsanwälte bleiben trotz der Umstände vor Ort und vertrauen auf eine baldige Besserung. Denn die russische Regierung hat neben fragwürdigen Entscheidungen auch Verbesserungen auf den Weg gebracht, die Mut für die Zukunft machen. Und der russische Markt hat angesichts von ca. 144 Millionen potentiellen Kunden und immensen Rohstoffreserven mittel- und langfristig großes Potential.
Die schwierige wirtschaftliche Lage in Russland ist unbestritten. Dies hängt vor allem mit den Sanktionen und dem Verfall des Ölpreises zusammen. Der Rubelkurs schwankt heftig, was den gesamten Geschäftsverkehr belastet. Innerhalb des vergangenen Jahres hat der Rubel zwischenzeitlich mehr als 60 Prozent an Wert (im Vergleich zum Euro) verloren. Jeder Unternehmer, der mit diesem Land zu tun hat, spürt das. Auch die Kanzleien und Rechtsanwälte vor Ort.
Schwächung des Rechtsstaats?
Sorge bereitet neben der wirtschaftlichen Lage auch die Implementierung von bestimmten rechtlichen Maßnahmen, die man teilweise als eine Schwächung des Rechtsstaats in Russland ansehen könnte.
So haben die russischen Behörden die Befugnis erhalten, ohne richterlichen Beschluss Internetseiten zu sperren, wenn es sich z.B. um extremistische oder pornografische Inhalte handelt. Inzwischen ist auch die Verbreitung von Extremismus im Internet unter Strafe gestellt. In der Folge wurden mehrere tausend Internetseiten gesperrt sowie hunderte Personen angezeigt und teilweise zu Gefängnisstrafen verurteilt, sogar aufgrund eines einfachen "Likes" oder des Teilens eines Inhalts in sozialen Medien Es heißt, dass sich hierunter auch kremlkritische Seiten befanden.
Im Februar dieses Jahres wurden in Moskau quasi über Nacht über einhundert Kioske, Stände und Gebäude auf öffentlichen Flächen abgerissen mit der Begründung, es handele sich um Schwarzbauten. Bei vielen Objekten war dies allerdings bis zum Abriss nicht abschließend geklärt. Einige Eigentümer legten offensichtlich Dokumente mit einem möglichen Nachweis der Rechtmäßigkeit des Eigentumserwerbs vor. Dies hinderte die Behörden jedoch nicht daran, die Objekte abzureißen.
Internationale Urteile müssen nicht vollstreckt werden
Weiterhin hat Russland die gesetzliche Möglichkeit geschaffen, Urteile internationaler Einrichtungen zum Schutz der Menschenrechte nicht zu vollstrecken, wenn und soweit diese nicht mit der russischen Verfassung vereinbar sind und das russische Verfassungsgericht entsprechend entscheidet. Dieses Gesetz zielt insbesondere auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ab. Russland wird vor diesem im Vergleich zu anderen Staaten sehr häufig verklagt und und zum Teil zu Zahlungen von beträchtlichen Summen verurteilt.
Daneben können auch Urteile des Internationalen Gerichtshofs und des Internationalen Strafgerichtshofs, dessen Statut jedoch bisher weder Russland noch die USA oder China ratifizieren wollen, von dem Gesetz betroffen sein.
Das neue Gesetz führte dazu, dass kürzlich ein Urteil des EGMR zum Wahlrecht von in Freiheitsentzug befindlichen Straftätern nicht in Russland vollstreckt wurde (Urt. v. 19. 04.2016, Az. N 12-P). In der russischen Verfassung ist vorgesehen, dass Straftätern in Freiheitsentzug das Wahlrecht aberkannt wird. Immerhin legte das russische Verfassungsgericht die Verfassung dahingehend aus, dass diese nicht bei Freiheitsentzug infolge von Straftaten von geringerer Schwere gelten solle. Die Aberkennung des aktiven Wahlrechts ist in Deutschland bei bestimmten politischen Straftaten möglich, vgl. § 92a Strafgesetzbuch.
2/2: Russland im Doing-Business Ranking der Weltbank vor Israel und Brasilien
Die Beispiele zeigen zwar, wie anscheinend verstärkt Kontrolle ausgeübt wird. Gleichzeitig gibt es aber auch positive Entwicklungen.
So sorgen neue Gesetze für eine weitere Annäherung des russischen Rechts an internationale Standards und für eine Vereinfachung des grenzüberschreitenden Geschäftsverkehrs. Eine umfassende Reform des russischen Zivilgesetzbuches führte dazu, dass viele aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem englischen Recht bekannte Regelungen in das russische Zivilrecht Einzug erhielten. Russische und deutsche Geschäftspartner können mit einem verlässlicheren rechtlichen Hintergrund verhandeln. Neueste Änderungen im russischen Gesellschaftsrecht zielen auf einen besseren Schutz des Rechtsverkehrs, beispielsweise durch notarielle Beurkundung der Ausübung von Vorkaufsrechten über GmbH-Anteile und Neuregelungen zu Call-Optionen. Im Doing-Business-Ranking der Weltbank ist Russland mittlerweile auf Platz 51 geklettert. Zum Vergleich: Italien steht auf Platz 45, Israel auf Platz 53, China auf Platz 84 und Brasilien auf Platz 116.
Es wurden zudem Investitions- und Förderanreize geschaffen, um Unternehmen die Produktion von Gütern in Russland zu erleichtern: Sogenannte Sonderinvestitionsverträge zwischen Unternehmen und dem Staat bieten sowohl russischen als auch ausländischen Investoren die Möglichkeit, in Russland Steuer- und Zollvorteile im Vergleich zu den allgemein in Russland geltenden Steuer- und Zollsätzen zu erhalten, was für größere Unternehmen mit hohen Investitionsvolumina wichtig ist.
Zudem entstehen aktuell zahlreiche neue Sonderwirtschaftszonen und sog. Territorien der vorrangigen Entwicklung ("ТОP"), z.B. in Tula, Tatarstan, Tver und bei Moskau, die steuerliche und administrative Vorteile gewähren. Russland hat also für ausländische Unternehmen wirtschaftliche reizvolle Voraussetzungen geschaffen, ihr Know-how ins Land zu bringen – Wissen, das für den avisierten Ausbau der nationalen Produktion dringend benötigt wird.
Gepaart wird dies allerdings mit verstärkter Regulierung, wie z.B. ein Register für russische Software. Behörden und Unternehmen aus dem öffentlichen Sektor dürfen grundsätzlich nur dort registrierte inländische Software kaufen. Die Beteiligung von Ausländern an russischen Massenmedien wurde weiter beschränkt und Regeln für die Speicherung von Daten russischer Staatsbürger aufgestellt. Danach müssen nun die persönlichen Daten von Russen zunächst auf einem inländischen Server gespeichert werden, damit auch das eigene Land Zugriff auf die Daten hat. Eine Kopie - etwa von Personaldaten - auf ausländische Server ist dann grundsätzlich jedoch möglich.
3/3: Flexibilität und Durchhaltevermögen sind gefragt
Einige westliche Unternehmen haben nun den russischen Markt verlassen, laut Außenhandelskammer Moskau gab es im Jahr 2015 einen Rückgang um sieben Prozent bei der Anzahl der Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung. Die ganz überwiegende Mehrheit der ausländischen Unternehmen bleibt jedoch vor Ort und passt sich an die veränderten Umstände an. Einige große und durchaus auch mittelständische Unternehmen vergrößern sich sogar. Sie gründen etwa mit russischen Partnern Joint Ventures oder nutzen die neuen Produktionsanreize zum Aufbau einer lokalen Produktion. So sind beispielsweise in Tatarstan mehrere Investitionsvorhaben zum Aufbau lokaler Produktion mit deutschem Know-how in Verhandlungen.
Die wirtschaftliche und rechtsstaatliche Entwicklung hat den Bedarf an rechtlicher Beratung ein Stück weit verschoben. Im Mittelpunkt steht weniger die transaktionsbezogene Beratung; stärker gefragt sind aktuell vor allem die prozessuale Begleitung, arbeitsrechtliche und regulatorische Themen sowie insolvenz- und restrukturierungsbezogene Beratung. So besteht u.a. vermehrt Beratungsbedarf hinsichtlich bestehender Verträge, die durch die wirtschaftliche Entwicklung in Schieflage geraten sind. Aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten der russischen Kunden finden sich viele Geschäftspartner vor dem staatlichen Wirtschaftsgericht wieder, die früher sehr erfolgreich zusammengearbeitet haben.
Zwischenmenschliches und der Anwalt mittendrin
Allen derzeitigen Schwierigkeiten zum Trotz besteht auf beiden Seiten oftmals der Wunsch, die Zusammenarbeit auch für die Zukunft fortzuführen. Das zeigt, dass die Geschäftsverbindungen zwischen deutschen und russischen Unternehmen produktiv und attraktiv sind und auf einer langjährigen vertrauensvollen Zusammenarbeit beruhen. So zählten deutsche Unternehmen zu den ersten Investoren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Überhaupt ist für russische Unternehmer ein Vertrauen in ihre Partner besonders wichtig. Sie stellen Vertrauensvorschüsse für diejenigen aus, die sich aufgeschlossen und interessiert an dem Leben, den Menschen und der Kultur in Russland zeigen. Zahlreiche deutsche Staatsbürger leben bereits seit Jahren in Russland und sind hier beruflich und privat verwurzelt. Das umfassende Know-how, die lange Erfahrung, die Anwesenheit im Land des Geschäftspartners und das Sprechen beider Sprachen überzeugen und bleiben gefragt. Und nicht zuletzt genießen deutsche Qualitätsprodukte nach wie vor ein hohes Ansehen bei russischen Geschäfts- und Privatleuten.
Die Zukunft der anwaltlichen Tätigkeit vor Ort hängt von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung ab. Erfährt die Wirtschaft einen Aufschwung, werden Geschäftsverbindungen intensiviert und neue Investitionen getätigt. Baut die Regierung die Kontrollbefugnisse aus, verringert sich das Vertrauen in den bereits geschwächten Markt weiter. Bedarf an rechtlicher Beratung ist jedoch selbst in diesen schwierigen Zeiten vorhanden. Flexibilität, Mut und Durchhaltevermögen sind gefragt. Und natürlich auch ein gewisses Vertrauen auf eine Stabilisierung des Marktes in der Zukunft.
Der Einstieg für deutsche Rechtsanwälte in Russland ist vergleichsweise einfach. Anders als in anderen Ländern, wie z.B. Brasilien, kann der deutsche Jurist nach der derzeitigen Rechtslage ohne besondere Zulassung seiner Tätigkeit nachkommen und sogar vor Gericht auftreten. Auch besteht trotz der Sanktionen nach wie vor eine kulturelle Nähe zwischen Russen und Deutschen. Wir werden als besonders gründliche und vertrauenswürdige Berater und Vertreter geschätzt. Allerdings ist das Rechtssystem im Laufe der Jahre differenzierter und komplizierter geworden, bei gleichzeitig zunehmender Qualität und Spezialisierung der russischen Juristen. Damit ist für Anfänger die fachliche Einarbeitung in das russische Recht schwieriger als noch vor zehn Jahren, auch wenn strukturell das russische Zivilrecht häufig dem deutschen Recht ähnlich ist.
Stefan Weber ist Leiter des Moskauer Büros der Kanzlei Noerr. Er berät bei gesellschaftsrechtlichen und Finanztransaktionen vornehmlich nach russischem, aber auch nach deutschem Recht, mit Volumina bis zu mehreren Milliarden US-Dollar. Weber lebt und arbeitet seit 2008 in Moskau.
Stefan Weber, Anwaltliche Tätigkeit in Russland: Trotz allem: Die Mehrheit bleibt . In: Legal Tribune Online, 26.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19210/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
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