Spätestens seit den Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 spielen Zeugen, die das Vorgehen der Polizei und der Demonstranten bewerten, eine wichtige Rolle. Bei den Anti-Atom-Protesten in Gorleben sind Anwälte vor Ort und leisten hinter den Kulissen und abseits der Öffentlichkeit ehrenamtliche Basisarbeit der Rechtspflege. Wilko Steinhagen begleitete ein "Legal Team" beim Einsatz.
Es ist ziemlich früh, etwa halb sechs, am Sonntagmorgen, als ich meine beiden Begleiter für die nächsten drei Tage am Auto treffe. Eine Frau und ein Mann, beide Anwälte aus Norddeutschland, nehmen mich mit auf eine abenteuerliche Reise durch das Wendland. Wir werden die Aktionen und Protestler rund um den diesjährigen Castor-Transport juristisch begleiten und beobachten.
Insgesamt haben sich dreißig Anwälte aus dem gesamten Bundesgebiet zusammengefunden, um den Aktivisten zur Seite zu stehen und die Einhaltung der Grundrechte zu überwachen. Aber nicht nur Juristen gehören zum so genannten Legal Team, sondern auch juristische Laien. Sie nehmen die Namen von Festgenommenen am Telefon auf und koordinieren die in Zweierteams umherstreifenden Anwälte.
Wir fahren gemeinsam zu einem kleinen Ort in der wendländischen Göhrde. Dort ist ein Treffpunkt für eine der zentralen Protestaktionen dieses Jahres: "Castor schottern". Die Demonstranten wollen möglichst viel Schotter aus dem Gleisbett klauben, um die Zugstrecke, auf der die elf Castoren entlang rollen sollen, unbefahrbar zu machen.
Juristische Arbeit beginnt Wochen im Voraus
Die Arbeit des Legal Teams hat aber schon einige Wochen vorher begonnen. Es gab mehrere Planungstreffen, auf denen die beworbenen Aktionsformen juristisch diskutiert und bewertet worden sind. Neben "Castor schottern" gibt es noch die Initiativen "Widersetzen" und "Xtausendmalquer", die einen gewaltfreien Widerstand durch Sitzblockaden propagieren. Die bäuerliche Notgemeinschaft wird wieder mit ihren Traktoren die Straßen blockieren, die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg Demonstrationen und Kundgebungen organisieren.
Auf dem Bauernhof unweit eines Waldstückes angekommen, machen sich meine beiden Begleiter erst einmal ein Bild von der Lage. Was genau passieren wird, wissen wir drei nicht. Der Plan für den heutigen Tag ist ein Marsch zu den Gleisen nach dem "Fünf-Finger-Konzept". Das bedeutet, dass aus einer langen Menschenschlange, die sich durch das niedersächsische Unterholz kämpft, durch geschickte Koordination fünf werden, die in Form einer Hand breit gefächert auf die Gleisanlagen zugehen. So rechnen sich die Schotterer höhere Chancen aus, an der Polizei vorbei ins Gleisbett zu kommen.
An den Gleisen angekommen, wird die Lage schnell unübersichtlich, es kommt zu harten Auseinandersetzungen. Sofort beginnen meine beiden Begleiter mit der Dokumentation der Vorfälle. Sie tummeln sich inmitten der unübersichtlichen Gemengelage aus behelmter Polizei und wild entschlossenen Demonstranten, fotografieren und notieren die Geschehnisse.
In Harlingen, unweit des Städtchens Hitzacker, ist es einem der "Finger" gelungen, die Schienen zu besetzen. Die Stimmung unter den Gleisbesetzern ist gut, obwohl der Tag sich dem Ende neigt und es deutlich kälter wird. Die Polizei beginnt gegen ein Uhr nachts, die Strecke zu räumen und jeden der etwa 2.000 Menschen einzeln von den Schienen zu tragen und wird bis neun Uhr morgens damit beschäftigt sein. Abgesetzt werden die Blockierer in einer eigens eingerichteten mobilen "Gefangenensammelstelle" (kurz Gesa) auf einer Wiese neben dem Gleis, die im Wesentlichen aus fast einhundert im Kreis aufgestellten Polizeifahrzeugen besteht.
Erfolge: Polizei löst Sammelstellen und Straßensperren auf
Die Anwälte verhandeln bereits seit Beginn der Räumung mit der Polizeidirektion in Lüneburg, dass die Sammelstelle bedingungslos geöffnet wird, sobald der Transport Harlingen passiert. Als die Einigung zustande kommt, beobachten andere kleine Teams vor Ort, ob diese Zusage auch eingehalten wird. Sie wird; gegen halb zehn morgens verlassen die letzten die Gesa.
Nachdem die Öffnung der Sammelstelle vollzogen worden ist, kommt das Gerücht auf, dass die Polizei Straßensperren einrichtet und Autofahrer willkürlich die Zufahrt zu bestimmten Verkehrsknotenpunkten und Kundgebungen, die den ganzen Montag lang überall im Wendland stattfinden, verwehrt. Gleich bei der ersten Station kann die Polizei nicht erklären aus welchem Grund der Kontrollpunkt eingerichtet worden ist. Es wird eifrig telefoniert, erneut löst ein Gespräch direkt mit der Polizeidirektion die Situation auf. Durch die Intervention der Anwälte stellt die Polizeidirektion klar, dass jeder, der an einer Kundgebung teilnehmen will, durchgelassen werden muss. Daraufhin weist der Abschnittsleiter an: "Wir lassen ab jetzt alles durch". Der Kontrollpunkt wird aufgegeben.
Montagabend beobachtet das Legal Team die rüde Stürmung eines Gehöftes in Grippel direkt an der vorgesehenen Transportstrecke. Beamte einer Beweissicherungseinheit brechen Türen von Scheunen auf, um nach Blockadematerial zu suchen. Auf Nachfrage der Anwälte stellt sich heraus, dass es keinen richterlichen Beschluss gibt. Die Durchsuchung findet trotzdem statt, aber nur noch sehr oberflächlich.
Solche kleinen Interventionen mit großer Wirkung sind die Triebfeder des ehrenamtlich arbeitenden Legal Teams. "Gegen Willkür hilft zwar kein Recht", sagt Britta Eder, die seit Jahren als Anwältin bei Legal Teams in ganz Deutschland mitarbeitet, "aber ohne die Durchsetzung des Rechtes gäbe es viel mehr Willkür."
Wilko Steinhagen, freier Journalist aus Hamburg, interessiert sich für Energiepolitik und ist seit Samstag im Wendland unterwegs.
Anwälte bei Castor-Protesten: . In: Legal Tribune Online, 09.11.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1888 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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