2/2: Selbstschädigungen sind Teil der persönlichen Freiheit
Entscheidend bleibt daher, ob das AntiDopG strafrechtlich anerkannten Zwecken dient. Der propagierte Schutz vor Selbstschädigung betrifft im Kern das Freiheitsverständnis unserer Rechtsordnung. Wieviel Unvernunft billigt sie dem Einzelnen im Umgang mit sich selbst zu? Zumeist recht viel. Selbstgefährdungen und -schädigungen sind, solange sie die Allgemeinheit nicht berühren, auch nicht strafbar.
Das ist der Preis, den ein liberales Gemeinwesen zahlt, das die allgemeine Handlungsfreiheit des Einzelnen als Grundrecht anerkennt und schützt. Wer nachts mit 150 km/h ohne Anschnallgurt bei regennasser Fahrbahn durch die Fußgängerzone rast, setzt leichtsinnig sein Leben aufs Spiel. Er verwirklicht aber zunächst nur eine Ordnungswidrigkeit. Außer einer Geldbuße, einem Fahrverbot, schlimmstenfalls der Entziehung der Fahrerlaubnis, droht ihm nichts. Er begeht keine Straftat – solange er nur sich und niemand anderen gefährdet oder schädigt. Darum taugt die mit Doping verbundene Selbstgefährdung des Sportlers nicht zur Begründung einer Strafbarkeit.
"Integrität des Sports" ist Ideal, nicht Rechtsgut
Nun schreibt sich der Gesetzgeber zudem die Wahrung der "Integrität des Sportes" auf die Fahne. Das hört sich vornehm an. Erlernen und verinnerlichen wir im Sport nicht Werte wie Fairness, Teamgeist und Leistung im Wettbewerb? Mag sein. Doch sollte dann nicht gerade der Sport selbst Quelle dieser Werte bleiben? Wenn er nicht in der Lage ist, sie zu bilden, warum soll es dann das Strafrecht tun?
Hinter dem diffusen Integritätsbegriff verbergen sich nämlich ganz unterschiedliche Interessen und Zwecke. Geschützt werden sollen die ethische Bedeutung eines "sauberen" Sportes, die Vorbilderrolle der Spitzensportler, die Vermögensinteressen der Veranstalter, Sponsoren und zahlenden Zuschauer ebenso wie die öffentliche Sportförderung. Mit der bislang in Deutschland vorherrschenden Rechtsgutslehre passt das nur schlecht zusammen. Danach schützt das Strafrecht nur ganz bestimmte Rechtsgüter, die für ein Leben der Bürger in Freiheit und Frieden unerlässlich sind.
Darauf entgegen die Befürworter des AntiDopG, der Gesetzgeber sei schließlich demokratisch legitimiert und an ein bestimmtes Rechtsgutskonzept der Strafrechtswissenschaft nicht gebunden. Schließlich hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des Inzeststraftatbestands den gesetzgeberischen Entscheidungsspielraum über den Einsatz von Strafe klargestellt. Das stimmt. Aber das Bundesverfassungsgericht hat zugleich die ultima-ratio-Funktion des Strafrechts betont. Nur Verhalten, das, so Karlsruhe, "in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich [und dessen] Verhinderung daher besonders dringlich ist", kann den Einsatz von Strafrecht legitimieren.
Doping als soziologisches Phänomen
Der Gesetzgeber sollte daher schon etwas mehr als Fairnesslyrik bieten, wenn er zur scharfen Waffe des Strafrechts greift. Indes gibt es bis heute keine empirische Untersuchung zur Frage, welche Konsequenzen für die Allgemeinheit das Bekanntwerden von Dopingvergehen hat. Steigt die Verführung, Regeln zu brechen? Lässt die Steuermoral nach? Nimmt die Kollegialität am Arbeitsplatz ab? Schummeln Schüler häufiger? Oder hatten die nicht enden wollenden Dopingenthüllungen bei der Tour de France keine weitere Konsequenz als einen Rückgang der Zuschauerzahlen?
Dazu gibt es nicht mehr als sozialpsychologische Mutmaßungen ohne Tatsachengrundlage. Vielleicht nimmt das Bundesverfassungsgericht daher die von mehreren Berufssportlern angekündigten Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz zum Anlass, vom Gesetzgeber etwas mehr tatsachenfundierten Begründungsaufwand zu verlangen. Das würde dem ultima-ratio-Gedanken eine zeitgemäße Struktur geben.
Schließlich: Selbst wenn man die Integrität und Fairness im Sport für strafrechtlich schutzwürdig erachtet, bleibt es ein Rätsel, warum sie dann nur im Profisport relevant sein soll. Fairness gilt oder sie gilt nicht. Die Abstufung zwischen Breiten- und Spitzensport wirkt grotesk, wenn man sich die praktischen Folgen klarmacht. Bei einem Großstadt-Marathon wären die Läufer der ersten Reihe strafbar, die Hobbyläufer, die in ihrer Klasse ebenso ihre Mitläufer betrügen, dagegen nicht. Es geht wohl um etwas anderes: um die Sanktionierung von Vorbildversagen. Dafür ist das Strafrecht nicht da. Doping bleibt das Problem einer stets nach neuen Höchstleistungen gierenden Gesellschaft. Walt Whitmans Gedicht "Ihr Schurken vor Gericht" endet mit der Zeile: "Und fortan will ich sie nicht verleugnen – denn wie kann ich mich selbst verleugnen?" Er wusste: Abweichendes Verhalten ist nicht allein eine Sache "der anderen". Es betrifft uns alle. Hinter dieser Erkenntnis bleibt das AntiDopG zurück.
Der Autor Dr. Ali B. Norouzi ist Strafverteidiger in Berlin und Mitglied des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins. Er befasst sich mit Revisionen und Verfassungsbeschwerden in Strafsachen.
Kritik am neuen Anti-Doping-Gesetz: . In: Legal Tribune Online, 04.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18010 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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