AG Weimar zu Corona-Maßnahmen: Fami­li­en­richter hebt Mas­kenpf­licht an Schulen auf

von Tanja Podolski

12.04.2021

Ein Familienrichter am AG Weimar meint, er müsse das Kinderwohl an dortigen Schulen sichern. Er erließ einen Beschluss, nach dem für alle Schüler jegliche Corona-Maßnahmen wegfallen. Laut Ministerium muss sich aber niemand daran halten.

Nach einem Beschluss eines Familienrichters am Amtsgericht (AG) Weimar sollen alle an zwei Schulen in Weimar unterrichteten Kinder keine Masken tragen, keine Abstände einhalten und nicht an Schnelltests teilnehmen (Beschl. v. 08.04.2021, Az. 9 F 148/21). Dazu hat der Richter "den Leitungen und Lehrern an zwei Schulen in Weimar sowie den Vorgesetzten der Schulleitungen für diese und alle weiteren an diesen Schulen unterrichteten Kinder und Schüler" untersagt, die entsprechenden Maßnahmen anzuordnen oder vorzuschreiben. Zudem müsse weiterhin Präsenzunterricht stattfinden, heißt es in der Entscheidung, die LTO vorliegt.

Das Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport hat bereits am Sonntag reagiert: Die Entscheidung müsse nicht befolgt werden und gelte nicht für alle Schüler und Schülerinnen an den Schulen. Doch ist das so einfach?

Richter: RKI übersieht "gravierende Aspekte"

In dem zugrundeliegenden Verfahren hat eine Mutter für ihre beiden Kinder ein Kinderschutzverfahren gem. § 1666 Abs. 1 und 4 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) angestrengt. Durch die Pflicht zum Tragen von Mund-Nase-Schutz und durch die Abstandsregeln würden die Kinder "physisch, psychisch und pädagogisch geschädigt, ohne dass dem ein Nutzen für die Kinder oder Dritte gegenüberstehe. Dadurch würden zugleich zahlreiche Rechte der Kinder und ihrer Eltern aus Gesetz, Verfassung und internationalen Konventionen verletzt", argumentierte die Mutter.

Der Richter schließt sich in seinen folgenden Ausführungen dieser Argumentation an. Er lässt sich umfassend zu Wirkung und Sinnhaftigkeit von Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen aus – auf rund 156 Seiten. Zu lesen sind Thesen, die wissenschaftlich höchst umstritten sind, so etwa "dass insbesondere Kinder unter zwölf Jahren sich seltener infizieren und das Virus seltener weitergeben als Erwachsene". Der Richter meint zudem, das RKI habe "einen gravierenden Aspekt übersehen", es sei - anders als vom RKI vermittelt und in den Medien verbreitet - bezogen auf den Anteil positiver Testergebnisse anstatt eines Anstiegs eine Abnahme der Infektionen zu verzeichnen.

Der Richter thematisiert auch die seiner Auffassung nach geringen Ansteckungswahrscheinlichkeiten unter Kindern und die ebenfalls seiner Einschätzung nach fehlende Wirkung von Masken, es folgen zudem lange Ausführungen zu den negativen Folgen der Corona-Maßnahmen für Kinder sowie zu diversen Gutachten über Sinn und Zweck von Schnelltests.

Ein Familiengerichtsbeschluss mit Wirkung gegen Dritte?

Auf Seite 156 wird es für Juristen besonders interessant, dann nämlich beginnen die Ausführungen zur Zulässigkeit des Antrags an das Familiengericht. Nach Ansicht des Richters ist die Sache klar: Es gehe um das Kindeswohl, dafür sei das Familiengericht zuständig und damit in der Lage, nach § 1666 Abs. 4 BGB in Angelegenheiten der Personensorge auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.

Damit hebelt der Richter die unterschiedlichen Rechtswege kurzerhand aus, meinen mehrere von LTO befragte Juristen, die sich im Detail aber nicht weiter zu der Einzelentscheidung eines Richters äußern möchten.

Eigentlich stammen die für die Schulen zur Eindämmung der Pandemie beschlossenen Maßnahmen aus der Allgemeinverfügung vom 31. März 2021 zum Vollzug der Thüringer Verordnung über die Infektionsschutzregeln zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in Kindertageseinrichtungen, der weiteren Jugendhilfe, Schulen und für den Sport (ThürSARS-CoV-2-KiJuSSp-VO).

Gegen solche Allgemeinverfügungen ist aber grundsätzlich das verwaltungsgerichtliche Verfahren anzustrengen, nicht das familiengerichtliche, § 40 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die der Mutter beigeordnete Anwältin war mit ähnlichen Anträgen vor den Verwaltungsgerichten allerdings bereits gescheitert. Den "Umweg” über das Familiengericht ließ der Weimarer Richter offenbar aber gerne zu.

Richter hält Allgemeinverfügung des Landes für verfassungswidrig

Der Richter argumentiert mit einer Sonderzuweisung an die Familiengerichte im Falle von Kindeswohlgefährdung, denn dafür ist das Familiengericht unzweifelhaft zuständig. Die Prüfung der Maßnahmen aus der Allgemeinverfügung hält er daraufhin für das Kindeswohl gefährdend und unverhältnismäßig – und damit für verfassungswidrig und nichtig.

Doch kann ein Familienrichter eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit einer Allgemeinverfügung treffen? Darf - oder muss sogar - ein Richter die Vereinbarkeit einer Allgemeinverfügung mit höherrangigem Recht – hier § 1666 BGB – prüfen? Durchaus, wenn diese relevant werden kann für das Kindeswohl, meinen mehrere von LTO befragte Verfassungs- und Verwaltungsrechtler.

Es sei auch vertretbar, dass der Richter diese auch für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Eine Allgemeinverfügung sei schließlich nichts anderes als ein Verwaltungsakt, der gegenüber vielen Menschen Wirkung entfaltet, sie sei gerade keine Verordnung und schon gar kein Gesetz, für das es die speziellen Vorschriften zum Normenkontrollverfahren gibt.

Die Frage sei also: Wer, wenn nicht ein Richter, sollte diese Prüfung anstellen?

Wirkung nur inter partes?

Daran anschließend stellt sich die Frage, gegenüber welchen Personen die Feststellungen wirken. Der Richter möchte die Konsequenzen seines Beschlusses - keine Masken, keine Abstände, keine Schnelltests - für alle Schüler und Schülerinnen an den Schulen durchsetzen. Sie müssten für alle Kinder gelten, es wäre "verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn manche Kinder darauf hoffen könnten, dass für sie bei einem geeignet erscheinenden Gericht ein Antrag gestellt wird, andere aber nicht", heißt es dazu im Beschluss.

Das geht zu weit, meint dagegen das Bildungsministerium in Thüringen, das sich noch am Sonntag zu Wort meldete. Der Beschluss gelte erst einmal nur für die beiden Kinder der antragstellenden Mutter, betonte es noch am Sonntag. Die Infektionsschutzmaßnahmen blieben "rechtmäßig in Kraft", heißt es in der Ministeriumserklärung. Der Beschluss werfe außerdem "gravierende verfahrensrechtliche Zweifel" auf.

Und jetzt? "Zweifel an der Entscheidung kann man durchaus haben, aber wenn ein Richter entscheidet, dass eine Allgemeinverfügung nichtig ist, so kann das Ministerium nicht sagen, wir wenden sie trotzdem an", sagt einer der von LTO befragten Verfassungsrechtler.

Die Wirkung inter partes – also nur für die an dem Verfahren Beteiligten – sei bei einer Allgemeinverfügung nämlich nicht zwangsläufig, wenn diese auch Folgen für andere entfalte. Der Familienrichter am AG Weimar meint, die Mitschüler der im Tenor namentlich genannten Kinder seien "in gleicher Weise betroffen", daher "hat das Gericht seine Entscheidung für diese mit getroffen", wie es im Beschluss heißt.

Wie es jetzt weitergeht

Fest steht: Für die beiden Kinder, deren Mutter das Verfahren angestrengt hat, gilt der Beschluss auch gegenüber der Schule, zumindest sobald er zugestellt wird, was für den heutigen Montag vorgesehen ist. Ein anderes Ergebnis wäre nur über einen sogenannten Nichtbeschluss zu erreichen, etwa bei wesentlichen Mängeln, z.B. wenn die Unterschrift unter einer Entscheidung fehlt. Davon ist hier nicht auszugehen.

Was bleibt? "Um gegen unliebsame Entscheidungen vorzugehen, gibt es grundsätzlich den Rechtsweg", sagt ein hochrangiger Verwaltungsrichter gegenüber LTO, und weiter: "Wenn wir zulassen, dass Urteile nicht mehr befolgt werden müssen und wir sie ignorieren können, haben wir im Rechtsstaat ein grundlegendes Problem." In diesem konkreten Fall allerdings hatte der Familienrichter die Entscheidung für unanfechtbar erklärt – "ein interessanter Zug", attestieren Juristen.

Das AG Weimar allerdings teilte noch mit: "Da die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, ist auf Antrag auf Grund mündlicher Verhandlung erneut zu entscheiden." Die Frage ist nur, wer diesen Antrag stellen soll. Das Rubrum enthält außer den beiden Kindern und der Anwältin nämlich keine weiteren Verfahrensbeteiligten.

Ein Verfassungsrechtler löst es für das Ministerium pragmatisch: "Es gibt kein Normwiederholungsverbot", sagt er. "Das Ministerium kann die Allgemeinverfügung einfach noch einmal erlassen." Bis dahin aber sei sie nichtig.

Derweil sind bei der Staatsanwaltschaft Erfurt Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung gegen den Familienrichter eingegangen. Die Behörde werde einen Prüfvorgang anlegen und prüfen, ob ein Anfangsverdacht wegen Rechtsbeugung besteht, teilte sie mit.

Zitiervorschlag

AG Weimar zu Corona-Maßnahmen: . In: Legal Tribune Online, 12.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44702 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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