Warum der Prozess viele Hoffnungen enttäuschen dürfte, wieso bei der AfD so gut wie keine E-Mails oder Telefone überwacht werden dürfen, und was nach einem Urteil Beamten droht. Schließlich: Was heißt das alles für ein Parteiverbotsverfahren?
Es geht los mit der Wahl des Gerichtssaals. Wenn am Dienstag die Richterinnen und Richter im Eingangsfoyer die Verhandlung eröffnen, dann beginnt beim Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster nicht einfach nur ein Prozess. Es wird nicht nur die zweite Runde in einem Rechtsstreit zwischen der AfD und dem Verfassungsschutz eingeläutet. Es geht nicht allein um die Frage, ob die Partei als Verdachtsfall eingestuft werden durfte. Auch wenn das alles so nüchtern in der Ankündigung des Gerichts steht. Es ist ein besonderer Fall in einer besonderen Zeit, wenn ausnahmsweise die Foyer-Halle zum Gerichtssaal gemacht wird. Knapp 100 Journalisten werden erwartet.
Der Prozess fällt in eine Zeit, in der über ein Parteiverbot der AfD, Grundrechtsverwirkung für AfD-Politiker und die Gefahren einer AfD-Regierung für Institutionen diskutiert wird. Und in der die AfD nach Umfragen vor den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg vorne liegt, mit teils über 30 Prozent. Nicht zuletzt findet 2024 eine richtungsweisende Europawahl statt. Die Versuchung scheint derweil gewachsen, sich im Umgang mit der AfD auf verfassungsrechtliche Fragen zu konzentrieren. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an das Gerichtsverfahren in Münster.
Nur, um was geht es in Münster für die AfD überhaupt vor Gericht? Was steht für sie auf dem Spiel?
Darum geht es in dem Rechtsstreit
Verhandelt wird in gleich drei Fällen. Im wohl wichtigsten will die AfD, vertreten durch ihren Bundesvorstand, dem Verfassungsschutz die Einstufung als Verdachtsfall untersagen lassen. In der Vorinstanz hatte das Verwaltungsgericht Köln im März 2022 dem Verfassungsschutz größtenteils Recht gegeben. Die Richter stellten fest, dass es hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen der AfD gebe. Dagegen legte die Partei Berufung ein.
Außerdem geht die AfD in zweiter Instanz gegen die Einstufung des "Flügels" als Verdachtsfall sowie "gesichert extremistische Bestrebung" vor. Die Junge Alternative, die Nachwuchsorganisation der AfD, will ebenfalls nicht länger als Verdachtsfall eingestuft werden.
Die Stufe "Verdachtsfall" ist sozusagen Stufe 2 der Extremismus-Ampel. Davor können Bewegungen als Prüffall behandelt, auf der letzten Stufe könnte die AfD zur gesichert-rechtsextremistischen Bestrebung erklärt werden. So bereits geschehen für ihre Landesverbände in Thüringen und Sachsen und die Jugendorganisation JA. Man hört, dass auf Bundesebene der Verfassungsschutz bereits ein neues Gutachten zur AfD vorbereitet hat – und dass die Behörde es derzeit noch zurückhält, um das Urteil aus Münster abzuwarten. Gut möglich, dass eine Hochstufung der Bundespartei bevorsteht. Das OVG hat angekündigt, im Anschluss an die Verhandlung das Urteil zu verkünden. Ziemlich wahrscheinlich, dass das erst nach dem zweiten geplanten Verhandlungstag am Mittwoch geschieht.
Wie eindrucksvoll ist die Einstufung durch den Verfassungsschutz noch?
Mit der AfD beobachtet der Verfassungsschutz nicht eine terroristische Splittergruppe, sondern eine Partei mit rund 30.000 Mitgliedern, die nicht vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verboten ist, in fast allen Landtagen, dem Europaparlament sowie dem Bundestag vertreten ist und dort in der vergangenen Legislatur die größte Oppositionspartei war. Eine erste Folge der Einstufung als Verdachtsfall: Die Partei taucht im jährlichen Verfassungsschutzbericht auf. Zum ersten Mal 2022 als Verdachtsfall. Schon im Februar 2021 hatte das BfV seinen Schritt öffentlich bekannt gemacht.
Beobachter gingen davon aus, dass dieser Schritt gemäßigte AfD-Anhänger, Beamte und Wähler abschrecken könnte. Mittlerweile deutet vieles darauf hin, dass die AfD einen Stigmatisierungseffekt bewältigt hat. Die bloße Erwähnung der Bundes-AfD im Verfassungsschutzbericht dürfte keine herausragende Rolle mehr spielen. Auch das erstmals bestätigende Gerichtsurteil des VG aus 2022 hat offenbar keinen neuen Abschreckungseffekt ausgelöst. Von dem Urteil des OVG wird man nichts anderes erwarten dürfen.
Überwachung von Telefon oder E-Mails – rechtlich so gut wie ausgeschlossen
Die Einstufung durch den Verfassungsschutz erlaubt ihm den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel gegen die Partei. Was heißt das? In der Berichterstattung wird gerne in den Vordergrund gestellt, das ermögliche Telekommunikationsüberwachung, also Telefon, E-Mails, Messenger.
Richtig ist, dass auch schon die Einstufung als Verdachtsfall dem Verfassungsschutz auch heimliche Maßnahmen erlaubt, um weitere Informationen zu gewinnen. Allerdings ist speziell die Telekommunikationsüberwachung in Deutschland an hohe Hürden geknüpft. Man könnte sogar sagen, sehr hohe. Denn bevor E-Mails oder Telefongespräche mitgeschnitten werden dürfen, braucht es konkretisierte Anhaltspunkte für schwerwiegende Straftaten wie Hochverrat, geheimdienstliche Agententätigkeit, Bildung einer terroristischen Vereinigung. Alles Delikte aus dem Staatsschutzbereich mit voraussetzungsreichen Tatbeständen. Einzig die Volksverhetzung als Katalogstraftat mag etwas greifbarer erscheinen.
Diesen strengen Katalog legt das G-10-Gesetz fest, das Eingriffe in das Telekommunikationsgrundrecht durch deutsche Geheimdienste regelt. Zudem muss eine alternative Informationsbeschaffung aussichtslos oder wesentlich erschwert sein. Auch die Zahlen der tatsächlich angeordneten G-10-Überwachungsmaßnahmen verschaffen einen Eindruck. Über die letzten Jahre werden vom Verfassungsschutz jährlich rund 100 Überwachungsmaßnahmen gegen Einzelpersonen eingesetzt – über die gesamte Breite des Terrorismus-, Spionage- und Extremismusspektrums. Das ergibt sich aus Bundestags-Dokumenten.
Die rechtliche Ausgangslage zeigt, dass der laufende Betrieb der AfD in der Breite keine Telekommunikationsüberwachung befürchten muss.
Der Einsatz von V-Leute und anderen Zuträger – ohnehin schon erlaubt
Anders sieht die Lage beim Einsatz eines nachrichtendienstlichen Klassikers aus, den menschlichen Quellen. Das sind einerseits V-Leute, die meist gegen Geld oder um ihr Geltungsbedürfnis zu befriedigen, Informationen an den Verfassungsschutz verraten. Die dürfen auch jetzt im Verdachtsfall-Stadium schon eingesetzt werden. Rechtliche Grenzen gibt es nicht erst seit dem NPD-Urteil des BVerfG für den Einsatz von V-Leuten bei demokratisch gewählten Abgeordneten.
Nach § 9b Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) dürfen Mitglieder des Europäischen Parlaments, des Bundestags, der Landtage sowie deren Mitarbeiter nicht angeworben werden. Außerdem darf nicht als V-Mann eingesetzt werden, wer steuernden Einfluss auf die Partei ausübt. Wer allerdings "steuert", und ob etwa in einem mehrköpfigen Gremium nicht auch Einzelpersonen angeworben dürfen, scheint offen. Der für eine heimliche Beobachtung durch den Verfassungsschutz attraktive AfD-Personenkreis schrumpft aber zusammen. Andererseits könnte ein Verratsfall an der Spitze der AfD zum Verunsicherungsfaktor für die Partei werden.
Während V-Leute sogar vertraglich an den Verfassungsschutz gebunden sind, gibt es auch noch informellere Formen. So kann der Nachrichtendienst auch auf gelegentliche Zuträger setzen, etwa den Vermieter einer Szene-Lokalität. Hier sind die rechtlichen Hürden niedrig. Auch an der Basis der Parteimitglieder dürfte die Lage ähnlich aussehen. In der Vergangenheit hatte etwa das Brandenburger Innenministerium sogar öffentlich verlauten lassen, dass der Verfassungsschutz sich bundesweit über Zulauf aus der AfD nicht beschweren könne.
Wie stark die Bundes-AfD bereits von V-Leuten unterwandert ist, darüber wollen die Richterinnen und Richter des 5. Senats des OVG am Dienstag verhandeln.
Wann drohen AfDlern im Staatsdienst Konsequenzen?
Am empfindlichsten dürfte eine weitere gerichtliche Bestätigung und eine anschließende mögliche Hochstufung durch den Verfassungsschutz für AfD-Mitglieder in der Beamtenschaft werden. Das Verdachtsfall-Stadium an sich hat für sie noch keine Konsequenzen. Anders sieht es aus, wenn die Bundes-AfD zu einer gesichert rechtsextremistischen Bestrebung erklärt wird. Denn wer in Deutschland Beamter wird, muss für die freiheitlich demokratische Grundordnung eintreten. Wer Mitglied in einer gesichert extremistischen Partei ist, bei dem werden Zweifel an der Verfassungstreue bestehen. Das kann Disziplinarmaßnahmen zur Folge haben. "Hier wird im Einzelfall nach Rolle in der Partei, Zugehörigkeit etwa zur berüchtigten Flügelströmung und individuellem Verhalten zu differenzieren sein", sagt der Anwalt für Verwaltungsrecht Patrick Heinemann. "Auch bei Neueinstellungen könnten dann AfD-Bewerber gegenüber anderen eindeutig verfassungstreuen Bewerbern zurückgestellt werden", ergänzt er.
Der Verwaltungsrechtler an der Hochschule des Bundes im Fachbereich Nachrichtendienste, Prof. Dr. Jan-Hendrik Dietrich weist auch noch auf einen anderen Aspekt hin. "Schon jetzt kann Beamten und Angestellten in besonders sensiblen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, etwa bei Nachrichtendiensten, der Verlust des sog. Sicherheitsbescheids nach dem Sicherheitsüberprüfungsgesetz drohen", so Dietrich. "Wer mit geheimhaltungsbedürftigem Material arbeitet, dem kann bei Zweifeln an seiner Zuverlässigkeit sogar der Zugang zu dem Behördengelände verwehrt werden." Ein Instrument, das völlig unabhängig vom Ausgang der Gerichtsentscheidungen um die Einstufung der AfD, besteht.
Wie stehen die Chancen für einen Erfolg der AfD vor Gericht?
Dass das Verfahren für die Bundesregierung und den Verfassungsschutz ein Selbstläufer wird, erwarten Beobachter nicht. Nach der mündlichen Verhandlung und der Urteilsverkündung beim VG Köln im Jahr 2022 konnte man den Eindruck gewinnen, es hätte teilweise auch anders ausgehen können. Wie voraussetzungsreich die Zurechnung und Einordnung einzelner Aussagen rund um den ethnischen Volksbegriff der AfD ausfällt wurde in Köln schnell klar, Stichwort: Kontext, politische Zuspitzung, zulässige Meinungsäußerungen?
Was darf man von der Verhandlung beim OVG erwarten? Die Vorinstanz des VG hatte sich in den Monaten vor dem Prozess offenbar schon gut über mögliche Einschätzungen vergewissert. Bei einem solchen Großformat mit zehntausenden Seiten Material blieb dem Gericht nichts anderes übrig. Was im Gerichtssaal die Anwälte beider Seiten vortrugen, wirkte ebenfalls eher wie gelegentliche Kostproben aus den tausendseitigen Aktenbeständen, die hinter ihnen demonstrativ auf Tischen aufgestellt waren. Immer wieder kürzte der Vorsitzende Richter Vorträge freundlich ab, auch die Parteien waren manchmal regelrecht verlegen, ob sie ihre Argumente aus den Akten noch weiter vortragen sollten. Der mündlichen Verhandlung ging bereits ein Jahr Zeit voraus, in dem unzählige Schriftsätze und Gutachten ausgetauscht worden waren. Die Ausgangslage für das OVG-Verfahren in Münster ist ähnlich. Seit eineinhalb Jahren tauschen beide Seiten Schriftsätze aus, das Material soll mittlerweile rund 20 Meter aufgereihter Aktenordner füllen. Man darf erwarten, dass die mündliche Verhandlung wieder den Charakter einer performativen Aufführung der Aktenbestände haben könnte.
In der ersten Reihe haben dann wieder ihren Auftritt der AfD-Vertreter, Rechtsanwalt und Partner Dr. Christian Conrad von der Kölner Kanzlei Höcker, und der BfV-Vertreter Prof. Wolfgang Roth, Rechtsanwalt und Partner der Bonner Kanzlei Redeker Sellner Dahs.
Entscheidend dürfte sein, welche neuen Belege der Verfassungsschutz vor Gericht aufbieten kann. Weil das BfV Anfang 2024 noch einmal umfangreich Material nachlieferte, wurde sogar der Verhandlungstermin nach hinten verschoben. Es wäre die letzte Chance. Denn das OVG ist die letzte Tatsacheninstanz.
AfD kann vor den Gerichten auf Zeit spielen
Kommt nach dem OVG noch das Bundesverwaltungsgericht zum Zug, geht es dann nur noch um die Prüfung von Rechtsfragen. Ein eventuell mit dem Fall beschäftigtes BVerfG prüft dann noch spezifische Verfassungsrechtsfragen. All das wird noch sehr viel Zeit brauchen. Solange kann die AfD darauf verweisen, dass gerichtlich noch gar nichts abschließend geklärt ist.
Hinzukommt: Stuft das BfV die Bundes-AfD tatsächlich zeitnah zur gesichert rechtsextremistischen Bestrebung hoch, geht das Ganze von vorne los. Gegen eine solche Einstufung und die Beobachtung könnte sich die AfD wieder zunächst in erster Instanz beim VG Köln wehren, dort hat das BfV seinen Sitz. Und dann geht es unter Umständen wieder weiter über das OVG und BVerwG. Bis dahin sind nochmal einige viele Jahre vergangen.
Die AfD überwachen – mit welchem Ziel?
Einmal begonnen mit der Beobachtung, hat der Verfassungsschutz zunächst einmal sogar so etwas wie eine "Weiterbeobachtungsveranwortung". Er muss abklären, wohin sich die Partei entwickelt, ob seine jeweils aktuelle Einschätzung nach oben oder unten korrigiert werden muss. So hat es das VG Köln entschieden.
Aber welches Ziel verfolgt eine Materialsammlung? Wozu werden zehntausende Seiten Akten zur Partei angelegt? Naheliegende Antwort: Für ein etwaiges Parteiverbotsverfahren. Nicht zuletzt, weil am Mittwoch – wenige Tage vor Verfahrensbeginn – Bremen mit einem Vorstoß zur Prüfung eines AfD-Parteiverbots vorpreschte. Allerdings bleibt es noch fraglich, ob die Politik sich zu so einem Schritt durchringen wird. Und ob sie dabei gut beraten ist.
Was das BfV für die Gerichtsverfahren vorbereitet und aufbietet, mag indessen nur bedingt nutzbar sein für ein Parteiverbotsverfahren.
Denn der Maßstab ist jeweils ein anderer. Für die Einstufung als Verdachtsfall einer extremistischen Bestrebung konnten dem VG zahlreiche Äußerungen ausreichen, die die Menschenwürdegarantie verletzten. Es konnte in den Aussagen auch ein Volksverständnis erkennen, das im Widerspruch zu dem des Grundgesetzes steht, weil es Zugehörige einer anderen Ethnie ausgrenze und als Menschen zweiter Klasse behandle. Das alles mit dem Ziel, Migranten – insbesondere Muslime – auszugrenzen und verächtlich zu machen, so das VG zusammenfassend.
Nach den Maßstäben des BVerfG können Parteien nur verboten werden, wenn sie es darauf anlegen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden (vgl. Art. 21 Abs. 2 GG). Nach seiner bisherigen Rechtsprechung genügt allein die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ideen hierfür nicht. Die Aussagen müssten sich im Sinne eines koordinierten Plans und aktiven Vorbereitungen verdichten. Hinzukommen muss laut BVerfG ein planvolles Handeln, eine qualifizierte Vorbereitung die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Außerdem darf ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheinen.
Anm. d. Red. Text in der Version vom 12.03.2024, 13:57 Uhr, korrigiert wurde, dass die AfD nicht in allen Landesparlamenten vertreten ist. Präzisiert wurden auch die Maßstäbe aus der Rechtsprechung des BVerfG zu einem Parteiverbot.
OVG zu Verfassungsschutz: . In: Legal Tribune Online, 07.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54061 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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