Nach der Messerattacke in Mannheim will der Hamburger Innensenator prüfen lassen, ob Abschiebungen in unsichere Länder wie Afghanistan oder Syrien möglich sind. Die Debatte ist alt – genau wie die Antwort darauf.
Der Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD) hat einen Antrag zu Abschiebungen in die Innenministerkonferenz (IMK) eingebracht, die in zwei Wochen das nächste Mal tagen wird. Danach sollen Personen, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen, auch nach Afghanistan und Syrien abgeschoben werden können. Derzeit sind Abschiebungen in beide Länder ausgesetzt. Die Bild hatte zuerst über den Vorstoß berichtet. Hintergrund der aktuellen Forderung ist der Tod eines Polizeibeamten nach einer Messerattacke in Mannheim. Der Beschuldigte der Tat ist ein 25-jähriger Afghane.
Zu dem Antrag, der LTO vorliegt, sagt Grote: "Wer hier schwere Straftaten begeht, muss das Land verlassen, auch wenn er aus Afghanistan kommt. Hier wiegt das Sicherheitsinteresse Deutschlands schwerer als das Schutzinteresse des Täters. Wir müssen einen Weg finden, für Straftäter, aber auch für Gefährder und islamistische Verfassungsfeinde Abschiebungen nach Afghanistan wieder aufzunehmen.“
Über Pakistan nach Afghanistan
In dem Vorschlag wird das Bundesinnenministerium (BMI) gebeten, "darauf hinzuwirken, dass das Auswärtige Amt eine aktuelle Bewertung der Sicherheitslage für Afghanistan und Syrien, konkret bezogen auf die Region um Damaskus, vornimmt". Ziel sei, "die bestehenden internationalen Flugverbindungen auch für Rückführungen nutzen zu können".
Außerdem solle das BMI "eine Vereinbarung mit der pakistanischen Regierung“ anstreben, "die eine Rückführung afghanischer Staatsangehöriger teilweise auf dem Landweg innerhalb Pakistans bis zur afghanischen Grenze ermöglicht". Syrische Menschen sollen dagegen in die Hauptstadt Damaskus geflogen werden, wo nach Bild-Informationen türkische und irakische Airlines noch immer regelmäßig landen.
Auch SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese sagte zu Bild: "Der Tod des jungen Polizisten in Mannheim macht wütend und fassungslos. Wenn jemand, wie der wahrscheinliche Täter, hier schwerste Straftaten begeht, dann hat er hier sein Bleiberecht verloren und muss nach Afghanistan abgeschoben werden können."
Die IMK ist längst tätig
Nur am Rande scheint in der aktuellen Berichterstattung durch, dass sich IMK und BMI längst mit diesen Fragen beschäftigt. Im Dezember 2023 hatte das Gremium das BMI gebeten, bis zur Sitzung in zwei Wochen zu prüfen, auf welchem Weg Abschiebungen und kontrollierte freiwillige Ausreisen verurteilter schwerer Straftäter und Gefährder in ihre Herkunftsstaaten, einschließlich Syrien und Afghanistan, durchgeführt werden können.
Entsprechend hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages Anfang April dieses Jahres einen Sachstand veröffentlicht. Titel: “Zu Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien aus Deutschland und ausgewählten EU-Mitgliedstaaten".
Um es vorwegzunehmen: Nach dem aktuellen Stand der Rechtslage sind Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan wegen der politischen Situationen in diesen Ländern in aller Regel nicht möglich, wie der wissenschaftliche Dienst auch unter Darlegung der Rechtsprechung darstellt.
Das Abschiebungsverbot gilt absolut
Nach aktuellen Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) machten Afghanen im vergangenen Jahr 14,3 Prozent aller Asylantragstellenden aus. Von den zuletzt 46.373 Personen erhielten im vergangenen Jahr 35 Prozent Asyl gem. § 3 Asylgesetz (AsylG), 2,4 Prozent subsidiären Schutz gem. § 4 AsylG, bei 39 Prozent besteht ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Bei weiteren 22 Prozent wurde der Antrag aus formellen Gründen abgelehnt – das sind die so genannten Dublin-Entscheidungen, bei denen die Personen bereits einen Asylantrag in einem anderen EU-Land gestellt hatten. Nur ein Prozent der Antragstellen wurde abgelehnt. Das heißt: Nach dem geltenden Recht haben die meisten Personen ein Bleiberecht bzw. können nicht zurückgeführt werden.
Das festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG ist dann ein absolutes. "Das heißt man muss sich die weiteren Ausnahmen gar nicht weiter anschauen", sagt Constantin Hruschka, Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Denn ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht ist. Und das gelte auch für die Abschiebung von so genannten Gefährdern oder Straftätern, die sich nach § 60 Abs. 8 AufenthaltsG nicht auf das Refoulementverbot der Genfer Flüchtlingskonvention berufen können.
Statt mit Abschiebungen mit Strafrecht und Asylrecht reagieren
Für Hruschka kommt es nicht überraschend, dass die Debatte nun wieder entbrannt ist: Die Diskussion komme seit der Kölner Silvesternacht 2015 immer wieder auf. Und immer wieder werde dabei ein Fehler gemacht: "In diesen politischen Forderungen werden die Fragen nach dem individuellen Schutz und der Situation in den Ländern vermischt", sagt der Asylrechtler. Als Argument werde – auch von Politikern – gerne genannt, dass Personen ihr Gastrecht verwirkt hätten. Doch gerade die Politik wird es wissen – auch Grote ist Volljurist: Das Asylrecht gibt ein individuelles Schutzrecht. "Dieses Schutzrecht kann man nicht vollständig durch eigenes Verhalten verwirken", so Hruschka. Es sei das Fundament demokratischer Gesellschaften, nicht in Foltergefahren abzuschieben.
Auf Straftaten könne man stattdessen mit dem Asylrecht und dem Strafrecht reagieren. So könnten neben dem Strafverfahren Duldungen ausgesprochen werden, Arbeitsverbote auferlegt oder dem Flüchtling ein konkreter Aufenthaltsort zugewiesen werden, sagt der Asylrechtler. "Wir haben die Möglichkeit, mit deutschem Recht zu reagieren, da muss man nicht das Völkerrecht verletzten."
ProAsyl verurteilt das Verbrechen an dem Polizisten "aufs Schärfste". Islamist:innen seien eine Gefahr für die Gesellschaft und auch für Geflüchtete, die vor dem Islamismus geflohen sind. "Ein Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass gegen Straftäter mit rechtsstaatlichen Mitteln vorgegangen wird", so die Organisation. Sie ergänzt: "So wird sichergestellt, dass die Personen ihre Bestrafung erhalten und Menschen vor ihnen geschützt werden. Eine Abschiebung von Straftätern hingegen garantiert nicht, dass der Täter einen Prozess erhält – er kommt also womöglich ungestraft davon und die Gerechtigkeit für die Opfer bleibt aus."
Keine Zusammenarbeit mit der Taliban, keine Abschiebung nach Afghanistan
Für die meisten Personen sei das Leben in Afghanistan bzw. Syrien unzumutbar, ein Überleben nach einer Rückkehr aus dem Ausland kaum möglich, so Hruschka. Rechtlich notwendig ist aber immer eine individuelle Prüfung der konkreten Situation für jede einzelne Person im Schutzverfahren – und an dieser rechtsstaatlichen Vorgabe zur individuellen Prüfung ändert es nichts, wenn ein Staat als sogenannter sicherer Herkunftsstaat klassifiziert wurde.
Diese Einstufung bezieht sich auf wenige Länder, die klar in der Anlage II zum AsylG benannt sind. Zwar werden Asylanträge Menschen aus diesen Staaten grundsätzlich als offensichtlich unbegründet abgelehnt – aber nur grundsätzlich. Eine Prüfung muss trotzdem erfolgen. Entgegen dem Anschein in einigen Medienberichten hat Grote eine Einstufung Afghanistans und Syriens als sicheren Herkunftsländer allerdings nicht gefordert.
Obwohl es schon bei Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze nicht möglich ist, Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien vorzunehmen, dürfte der Plan darüber hinaus auch an praktische Grenzen stoßen. Nach eigenen Aussagen der Bundesregierung sind Rückführungen nach Syrien und nach Afghanistan seit geraumer Zeit bereits aus praktischen Gründen nicht durchführbar. Der Grund: Es braucht für eine Abschiebung immer eines aufnehmenden Landes, um die Menschen in ein Land zu verbringen. Die Bundesregierung "erkennt jedoch die De-facto-Regierung der Taliban in Afghanistan nicht an und arbeitet nicht mit ihr zusammen", so der wissenschaftliche Dienst. Und für Syrien geht das Auswärtige Amt selbst laut Medienberichten in einem vertraulichen Bericht von Februar 2024 davon aus, dass eine sichere Rückkehr nach Syrien nicht gewährleistet werden kann, legte der Wissenschaftliche Dienst dar.
So halten es auch andere europäische Länder: Dänemark, Griechenland, Estland oder Lettland führen keine Abschiebungen nach Syrien oder Afghanistan aus. Schweden ist differenzierter: In Syrien müsse man die Binnenflucht prüfen, in Afghanistan seien einige Regionen zu gefährlich und die Lage insbesondere für Frauen und Mädchen seit der Machtübernahme der Taliban problematisch.
Was sagen die Gerichte?
Die Gerichte sind sich derweil uneins, was Abschiebeverbote in die zwei Länder angeht. Kürzlich hätte das Bundesverwaltungsgericht wegen der divergierenden Rechtsprechung die Sicherheitsfrage in Afghanistan beantworten sollen – die Klage wurde kurzfristig zurückgezogen.
Festhalten lässt sich: Die Gerichte analysieren sehr genau die konkrete Lage in einem Land, ziehen diverse Quellen für eine Gefahreneinschätzung hinzu. Die Tendenz der obergerichtlichen Rechtsprechung geht dahin, dass es im Einzelfall besonderer begünstigender Umstände bedarf – zum Beispiel ein besonderes soziales Netz oder Familie im Zielland oder entsprechendes Vermögen –, damit selbst ein alleinstehender Mann in diese Länder abgeschoben werden dürfte. Was Afghanistan betrifft, gehen sogar die meisten Obergerichte gehen davon aus, dass es auch einem gesunden Mann ohne Unterhaltspflichten kaum möglich ist, in Afghanistan zu überleben.
Diskussion nach Messerattacke in Mannheim: . In: Legal Tribune Online, 03.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54689 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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