Nicht nur VW wird vorgeworfen, durch späte Vergleiche in der Revisionsinstanz negative Grundsatzurteile zu verhindern. Die Grünen wollen das ändern: Der BGH soll trotz Rücknahme des Rechtsmittels über Grundsatzfragen entscheiden dürfen.
Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen will den Bundesgerichtshof (BGH) ermächtigen, über in der Revisionsinstanz aufgeworfene Grundsatzfragen auch dann zu entscheiden, wenn die Parteien sich vor einem Urteil einigen. Außerdem will sie gesetzlich regeln, dass Gerichte auch verfahrensleitende gerichtliche Hinweisbeschlüsse und Verfügungen veröffentlichen können.
Den Antrag, den sie am Mittwoch veröffentlichen werden, stützen die Grünen auf ein Gutachten von Prof. Dr. Beate Gsell von der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). In dem Papier, das LTO vorliegt, fordert die Fraktion zudem die Einführung eines effektiven und auf Leistung abzielenden Kollektivklageverfahrens, einer echten Sammelklage also, mit der ein Repräsentant gleiche oder ähnliche Ansprüche sämtlicher Anspruchsteller gebündelt einklagen kann.
Die Notwendigkeit dieser Vorschläge leiten die Grünen daraus ab, dass vier Jahre nach Beginn des Abgasskandals noch immer kein höchstrichterliches Urteil zur Frage der Haftung der Autohersteller vorliegt. Trotz tausender erhobener Zivilklagen, an Legal-Tech-Unternehmen abgetretener Ansprüche und der Musterfeststellungsklage vor dem Oberlandesgericht Braunschweig komme es oft nicht zu Berufungsurteilen, "weil die Berufung bei drohender Prozessniederlage – oder überhaupt zur Verhinderung einer Revision – jeweils nach außergerichtlicher Einigung zurückgenommen wird", heißt es im Antrag, der explizit auf eine Prozessstrategie der VW AG Bezug nimmt.
Bisher: Freikauf oder die Flucht in die Revisionsrücknahme
Insbesondere dem Autobauer aus Wolfsburg wird seit längerem vorgeworfen, Grundsatzentscheidungen auf höchstrichterlicher Ebene zu verhindern, wenn sich abzeichnet, dass diese nicht zugunsten von VW ausfallen.
Rechtspolitikerin Dr. Manuela Rottmann sagte dazu: "Wer genug Geld hat, wie die Hersteller manipulierter Dieselfahrzeuge, kann die Entscheidung von Grundsatzfragen zu seinen Lasten durch die Justiz jahrelang verhindern. Für die Industrie vorteilhafte Urteile lässt man rechtskräftig werden. Zeichnet sich ein Unterliegen ab, kauft man sich per Vergleich frei". Das untergrabe die Fähigkeit der Justiz, solche Streitigkeiten zügig zu klären. "Und es frustriert die Gerichte, die erleben, dass ihre Arbeit mit dem Einsatz von viel Geld in den Papierkorb geschoben wird", so die grüne Obfrau im Rechtsausschuss.
Tatsächlich kann nach einem Vergleich, der in der Regel für den Geschädigten vorteilhaft ausfallen dürfte, die Partei, die die Revision eingelegt hat, ihr Rechtsmittel zurücknehmen. Der klagende Käufer wird zum Stillschweigen über die Vereinbarung verpflichtet, das Verfahren ist beendet. Die im Zivilprozess geltende Dispositionsmaxime, nach der die Parteien den Prozess beherrschen, hindert das Gericht daran, eine Entscheidung zu treffen.
Zu verhindern ist eine solche Strategie nicht, wie auch die Grünen in ihrem Antrag unter Bezugnahme auf das Gutachten von Zivilrechtlerin Gsell feststellen. Die Taktik stehe im Einklang mit dem den Zivilprozess bestimmenden Grundsatz der Parteiherrschaft sowie auch mit der Förderung einer gütlichen Beilegung des Rechtsstreits in jeder Lage des Verfahrens, heißt es dort.
Grüne: Justizressourcen nicht für den Papierkorb
Der VIII. Zivilsenat des BGH ließ sich im Februar 2019 nicht davon abhalten, einen Hinweisbeschluss zu veröffentlichen. Er teilte mit, in der unzulässigen Abschalteinrichtung von VW, die auf dem Prüfstand zu anderen Messergebnissen führt als im realen Straßenverkehr, einen Mangel zu sehen. Dieser Hinweisbeschluss war vor der Einigung ergangen, die dann in dem Verfahren zum Vergleich und zur Rücknahme der Revision durch den klagenden Autokäufer führte.
Es ist unüblich, einen solchen Beschluss zu veröffentlichen. In der Regel veröffentlichen Gerichte verfahrensbeendende Urteile, die in Rechtskraft erwachsen (können), nicht aber anderweitige verfahrensinterne Äußerungen. Verboten ist es aber nicht. Nach dem Willen der Grünen soll in einem neuen § 173 Abs. 3 GVG eine Pflicht der Gerichte zur Veröffentlichung von Entscheidungen einschließlich verfahrensleitender Hinweisbeschlüsse und Verfügungen geregelt werden, an denen die Öffentlichkeit ein Interesse hat oder haben kann.
Es sei eine öffentliche Aufgabe von Gerichten, Gerichtsentscheidungen zu veröffentlichen, argumentiert die Fraktion. Ein öffentliches Interesse an der Veröffentlichung von Hinweisbeschlüssen der Rechtsmittelgerichte mit Rechtsausführungen könne "angesichts der großen Anzahl ähnlich gelagerter Fälle in den Diesel-Kfz-Abgas-Fällen […] kaum verneint werden".
BGH: Bald Revisionsurteile ohne Revision?
Den BGH wollen die Grünen zudem ermächtigen, aufgeworfene Rechtsfragen unabhängig von der Parteidisposition über den Rechtsstreit für die Revision zu beantworten. Eine Entscheidung in der Sache soll dabei nicht ergehen. Auch nach Rücknahme der Revision oder bei einem Verzicht oder Anerkenntnis soll das Revisionsgericht durch Beschluss Feststellungen zu den durch die Revision aufgeworfenen Rechtsfragen treffen können, soweit dies wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung in besonderem Maße geboten erscheint.
Der Antrag argumentiert mit diesen "im öffentlichen Interesse liegenden Revisionszwecken", die über das reine Parteiinteresse hinaus gingen. Diese würden, so heißt es in dem Papier, verfehlt, wenn dem Gericht die Sache aufgrund Parteidisposition entzogen und es so daran gehindert werde, die aufgeworfenen Rechtsfragen zu beantworten.
Das Gutachten von Gsell, das die Grünen zur Untermauerung ihres Antrags heranziehen, erklärt diesen Vorschlag allerdings selbst nur für begrenzt hilfreich. Die Münchener Professorin kommt vielmehr zum Ergebnis, die Flucht in die Revisionsrücknahme lasse sich dadurch "nur in begrenztem Maße effektiv bekämpfen". Je stärker die Dispositionsfreiheit in den Rechtsmittelinstanzen eingeschränkt werde, desto eher würden solche taktischen Bemühungen eben in die vorausgehende Instanz verlagert werden.
Die Berufungsinstanz allerdings wollen auch die Grünen nicht antasten. Dort stehe die Fehlerkontrolle im Interesse der Prozesspartei stärker im Vordergrund als im Revisionsverfahren, den Berufungsgerichten komme in Bezug auf die rechtssichere Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen zudem eine weniger prominente Rolle zu als dem Revisionsgericht.
Zivilrechtler: Keine Entscheidung ohne konkreten Sachverhalt
Ganz neu ist die Idee nicht. Einen ähnlichen Vorschlag wie das jetzt dem Gesetzgebungsvorschlag der Grünen zugrunde liegende Gutachten von Gsell habe schon im Jahr 2012 BGH-Anwalt Prof. Dr. Volkert Vorwerk ins Gespräch gebracht, erinnert Prof. Dr. Christian Wolf von der Universität Hannover.
Auch Wolf bewertet das Herauskaufen einzelner Kläger aus Revisionsverfahren, um eine Grundsatzentschädigung zu verhindern, als Ärgernis. "Aufgabe des BGH ist es aber nicht, als eine neue Art von Gesetzkommission losgelöst vom konkreten Fall das Gesetz abstrakt zu interpretieren", so der Zivilrechtler gegenüber LTO. Auch das Revisionsverfahren sei ein dialogisches Verfahren zwischen den Parteien und dem Gericht, auf der Grundlage eines konkreten Sachverhalts. "Ohne eine Revisionsbegründung sollte daher eine solche Leitentscheidung des BGH nicht ergehen. Auch BGH-Richter bedürfen des Dialogs mit den Parteien". Und der Teufel steckt für ihn im Detail: So hält er es für fraglich, ob die vom BGH nach dem Entwurf zu veröffentlichenden Feststellungen geeignet sind, eine Differenzvorlage zum großen Senat für Zivilsachen zu tragen oder sich nur dann eher auf der Ebene eines Obiter dictum bewegen würden.
Ähnliche und noch grundlegendere Bedenken hat Prof. Dr. Stephan Lorenz von der LMU München.
Auch er fragt sich, was geschähe, wenn ein Gericht seine Meinung ändert oder aber ein anderer Spruchkörper diese nicht teilt. Die Entscheidungen, die der Entwurf der Grünen ermöglichen will, sollen nämlich durchaus eine Art Bindungswirkung entfalten, allzu deutlich wird der Antrag dazu aber nicht. Nach dem Willen der Grünen sollte man solche "Revisionsentscheidungen, die keinen Urteilsspruch verlangen, […] In ihrer Eignung, für Rechtsklarheit zu sorgen und das Recht fortzubilden, grundsätzlich nicht anders bewerten als diejenige gewöhnlicher Revisionsentscheidungen mit Urteilsspruch über Rechtsmittel und Rechtsstreit", heißt es im Antrag.
Aus Sicht von Zivilrechtler Lorenz sollte "man den Fall VW und die öffentliche - unrichtige - Aufregung gar nicht dazu benutzen, herkömmliche Prinzipien über Bord zu werfen", sagt er gegenüber LTO. "Hard cases make bad law".
Er sieht in den Plänen der Grünen zur Erweiterung der BGH-Kompetenzen eine wenig sinnvolle Vermischung mit den Zielen der Musterfeststellungsklage. Es gebe genug Möglichkeiten, grundsätzlich wichtige Fragen gerichtlich zu klären. - und zwar auch ohne dass diese Klärung durch einen besonders günstigen Vergleich mit dem Kläger verhindert werden könnte. Lorenz verwies gegenüber LTO neben der Musterfeststellungsklage auch auf das Klagerecht von Verbänden nach dem Unterlassungsklagengesetz, die in gewissen Konstellationen zu Zwecken des Verbraucherschutzes ohne eigene Rechtsgutsverletzung klagen dürfen.
Was wirklich helfen könnte
Den Grünen reicht, was das deutsche Recht bisher an kollektivem Rechtsschutz bietet, dagegen nicht. Sie stützen sich in ihrem Antrag auf das Gutachten von Gsell auch insoweit, als diese eine auf Leistung gerichtete und zudem auch für Unternehmen nutzbare Kollektivklage für sinnvoll hält - ausdrücklich auch für sinnvoller als die Ausweitung von Befassungsrechten des BGH mit Fällen, über die er eigentlich nicht mehr entscheiden kann.
Gegen das Risiko eines Freikaufs durch einen günstigen Vergleich sei zwar auch die für die Dieselgate-Fälle eilig ins Leben gerufene Musterfeststellungsklage (MFK) immun, so die Rechtwissenschaftlerin. Sie schließt sich aber der bekannten Kritik an dem Instrument an: Die MFK sei eben bloß auf Feststellung gerichtet und bis zu einer eventuellen Leistung an die Kläger könnten viele Jahre vergehen.
Die Grünen würden es gern besser machen. Die Fraktion nimmt in ihrem Antrag Bezug auf einen eigenen Vorschlag aus 2017 für ein Kollektivklageverfahren, das auf Leistung gerichtet ist, und dem sich nicht nur Verbraucher, sondern auch Unternehmen anschließen könnten. Einen anderen konkreten Vorschlag legen sie dazu aktuell nicht vor. Neu ist schließlich auch das nicht.
Gegen Freikauf-Taktik nach dem Dieselskandal: . In: Legal Tribune Online, 16.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38197 (abgerufen am: 02.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag