Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde der Grünen-Politikerin stattgegeben, doch dabei vor allem den falschen Prüfungsmaßstab mit klaren Worten gerügt. Ob die Hetzkommentare tatsächlich strafbar sind, muss erst noch entschieden werden.
Im Streit um Auskunft über Nutzerdaten bei Facebook hatte das Berliner Kammergericht (KG) Renate Künast in mehreren Punkten recht gegeben und extrem beleidigende und sexistische Äußerungen eines Users – anders als zuvor das LG Berlin – als strafbar bewertet. Doch andere Äußerungen wie etwa "Pädophilen-Trulla", "kranke Frau", "Gehirn Amputiert" stellte es keine Strafbarkeit der User fest. Dabei hat es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) das Persönlichkeitsrecht von Künast verletzt und die Karlsruher Richterinnen und Richter haben ihrer Verfassungsbeschwerde nun stattgegeben.
Es ist dabei nicht ungewöhnlich, dass das BVerfG recht scharfe Worte verwendet, wenn es die Entscheidung einer Vorinstanz aufhebt. Das beruht nicht auf Verärgerung, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass das BVerfG keine Superrevisionsinstanz ist. Seine Verwerfungskompetenz besteht nur bei besonders gelagerter Fehlerhaftigkeit eines vorinstanzlichen Urteils. So darf etwa die Formulierung, die Vorinstanz habe "die Bedeutung und Tragweite" eines Grundrechts "verkannt", in einem Beschluss des BVerfG zur Begründung der eigenen Entscheidungskompetenz nicht fehlen.
Doch dass das BVerfG über die Vorinstanz schreibt, es habe "wiederholt einen fehlerhaften mit dem Persönlichkeitsrecht unvereinbaren Maßstab angenommen", ist nicht die Regel. Das KG ist bekanntlich das höchste Berliner Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Entschieden hat dort nicht irgendwer, sondern ein auf das Pressrecht spezialisierter Senat. Dennoch reflektiert die Entscheidung in weiten Teilen das äußerungsrechtliche Einmaleins nicht und das, obwohl das BVerfG die für den Streitfall anzuwendenden Maßstäbe schon vor der Entscheidung des KG klargezogen hatte. Die Richterinnen und Richter am KG hätten es also besser wissen müssen.
BVerfG bemängelt Abwägungsausfall
Die vom BVerfG aufgestellten Maßstäbe sind einfach und lauten: Eine Schmähkritik, bei der es allein um die Diffamierung einer Person, ohne Sachauseinandersetzung geht, ist stets unzulässig. Wenn keine Schmähkritik vorliegt, bedeutet dies aber nicht, dass eine Aussage stets zulässig wäre. Sondern in diesem Fall ist eine umfassende Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Aussagenden und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen vorzunehmen. Dabei gibt es keine Vermutung für den Vorrang der Meinungsfreiheit.
Das KG hat in seiner Entscheidung (Beschl. v. 11.03.2020, Az. 10 W 13/20) zwar eine Schmähkritik abgelehnt, doch dann nicht weiter geprüft: "Ausführungen zu einer Abwägung der betroffenen Rechtsgüter finden sich in der Entscheidung des Kammergerichts nicht", so fasst es das BVerfG zusammen. Das KG deute zwar eine Abwägung an, prüfe dann aber letztlich die Voraussetzungen der Schmähkritik. Es setze Schmähkritik und Beleidigung letztlich gleich, so die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG.
Die Kritik des BVerfG dürfte berechtigt sein. So formuliert das KG etwa, dass der Äußerung "Pädophilen-Trulla" im Kontext der Aussage eine Sachauseinandersetzung nicht abgesprochen werden könne. Hintergrund der Userkommentare ist, dass Renate Künast sich in einer Parlamentsdebatte im Jahre 1986 mit einem Zwischenruf zu Wort meldete, der als Verharmlosung von sexualisierter Gewalt mit Kindern gedeutet werden könnte. Die ihr im Facebook-Beitrag als Zitat unterstellte Äußerung hatte sie jedoch nie getätigt. Doch mit dem Argument „es liegt eine Sachauseinandersetzung vor“ durfte das KG nur eine Schmähkritik ablehnen und nicht eine Beleidigung per se. Auch schreibt das KG, dass einer Äußerung erst dann strafrechtliche Relevanz zukomme, wenn sie "in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen" erscheint. Doch die vom KG insoweit zitierte Rechtsprechung des BVerfG betrifft gerade nicht eine allgemeine Beurteilung der Strafbarkeit, sondern die Frage, wann eine Schmähkritik angenommen werden kann.
Schutz von Persönlichkeitsrechten von Amtsträgern auch im öffentlichen Interesse
Das Verdikt des BVerfG, das KG habe überhaupt keine Abwägung vorgenommen, dürfte eventuell etwas zu scharf ausgefallen sein. So führt das KG etwa zutreffend aus, dass sich Renate Künast "auf der anderen Seite" mit einem "zumindest interpretationsbedürftigen Zwischenruf" im Parlament über sexuelle Selbstbestimmung von Kindern "eine Angriffsfläche geliefert, an der sich Kritik festmachen kann." Doch derartige Erwägungen stehen im Beschluss des KG an der falschen Stelle und bleiben Randbemerkungen.
Das BVerfG kritisiert, dass das KG die notwendige Abwägung mit der Erwägung ersetzt habe, dass Künast sich als Politikerin den scharfen Angriffe zu stellen habe. Dies sei eine "begründungslos verwendete Behauptung". Das KG berücksichtige hierbei vor allem nicht, dass ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikerinnen auch im öffentlichen Interesse liege.
Dass eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft nur erwartet werden kann, wenn ein hinreichender Schutz des Persönlichkeitsrechts gewährleistet ist, hatte das BVerfG schon in seiner Entscheidung zum Recht auf Vergessenwerden im November 2019 betont. Die Erwägung des KG in seinem Beschluss aus dem März 2020, wonach die Rechtsprechung des BVerfG keinen Raum für eine Aufwertung des Persönlichkeitsschutzes von Amtsträgern biete, war daher schon damals verfehlt. Gleiches gilt für das Beispiel des KG, in dem das BVerfG eine strafrechtliche Verurteilung wegen des Begriffs "durchgeknallte Staatsanwältin" aufgehoben hat. Auch hier verkennt das KG, dass das BVerfG die Aufhebung damit begründete, dass keine Schmähkritik vorliege und ausdrücklich – wie hier auch – eine Abwägung verlangte.
Welche Abwägungskriterien spielen eine Rolle?
Wie diese Abwägung nun im Falle der noch streitgegenständlichen Äußerungen ausgeht, ist hier – im Gegensatz zu vielen anderen erfolgreichen Verfassungsbeschwerden – tatsächlich offen. Das BVerfG betont noch einmal die wichtigen Kriterien, die ein Gericht in der Abwägung zu beachten habe, ohne dass es diese allerdings stets abprüfen müsse.
- Das Gewicht der Meinungsfreiheit sei umso höher zu gewichten, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht.
- Weiter sei von Bedeutung, ob es sich um eine Machtkritik handele, da die Meinungsfreiheit hier besonders schutzwürdig sei. Amtsträger müssen in personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angegriffen werden können. Insoweit bestätigt das BVerfG auch durchaus, dass die Grenze zulässiger Kritik bei Politikerinnern und Politikern weiter zu ziehen ist.
- Andererseits betont das BVerfG hier und in der letzten Zeit verstärkt, dass die Mitwirkung in Staat und Gesellschaft nur erwartet werden kann, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist. Politikerinnen und Politiker seien daher nicht vom Schutz vor öffentlicher Verächtlichmachung oder Hetze ausgenommen.
- Zudem hält es das BVerfG für relevant, ob Äußerungen spontan gefallen sind oder "mit längerem Vorbedacht". Dabei ordnet es Äußerungen auf Facebook – wohl in Verkennung der hauptsächlichen Verwendung dieses Mediums – grundsätzlich als solche mit Vorbedacht ein, für die also ein strengerer Maßstab gilt als für verbale Spontanäußerungen.
- Für die Abwägung weiter entscheidend sei schließlich die Breitenwirkung der Äußerung, also die Frage, wie viele Personen die Aussage zur Kenntnis genommen haben und ob sie irgendwo länger schriftlich festgehalten ist.
Strafrechtliche Beurteilung weiterhin offen
Weitere wichtige Punkte in der Abwägung, wie etwa die Frage, ob der Betroffene Anlass für die Äußerung gegeben hat, erwähnt das BVerfG nicht. Es betont aber ohnehin, dass es Aufgabe der Fachgerichte sei, aufgrund der Umstände des Einzelfalles die jeweils abwägungsrelevanten Gesichtspunkte herauszuarbeiten und miteinander abzuwägen.
Das KG wird sich also nach Zurückverweisung durch das BVerfG erneut mit den Userkommentaren bei Facebook beschäftigen müssen. Dabei könnte auch die Stolpe-Rechtsprechung des BVerfG von 2006 von Relevanz werden. Danach gilt bei mehrdeutigen Äußerungen der Grundsatz, dass eine strafrechtliche Sanktion nur in Betracht kommt, wenn die dem Äußernden günstigeren Deutungsmöglichkeiten mit hinreichender Begründung ausgeschlossen worden sind. Das BVerfG geht in seinem Beschluss auf diese Rechtsprechung nicht ein, wie schon kürzlich in seiner Naidoo-Entscheidung.Einigen der noch streitgegenständlichen Userkommentare könnte durchaus mehrdeutiger Gehalt zukommen.
So oder so ist der Rechtsstreit um die weiteren Kommentare noch nicht entschieden. Das KG könnte jedenfalls bei einigen Aussagen in der Abwägung durchaus zum Ergebnis kommen, dass die Meinungsfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsrecht der Grünen-Politikerin überwiegt. Die Entscheidung des BVerfG ist daher nur ein Zwischenerfolg für Renate Künast.
BVerfG zu Facebook-Beleidigungen: . In: Legal Tribune Online, 02.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47406 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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