Betrug mit gefälschten Examenszeugnissen: Wie viel Schaden rich­tete der Hoch­sta­pler-Anwalt in der Groß­kanzlei an?

von Dr. Markus Sehl

09.04.2024

Ein Nicht-Jurist konnte jahrelang unentdeckt in Kanzleien und Unternehmen arbeiten, verdiente bis zu 123.000 Euro im Jahr. Sein Fall muss nun teilweise neu verhandelt werden, entschied das BayObLG in München. Es geht vor allem um den Schaden.

Matthias G. kann mit dem Kapitel seiner Vergangenheit nicht abschließen. Immer noch nicht. Seit fünf Jahren beschäftigt sein Fall die Justiz. Ein Fall, der nach der US-Hochstaplerserie Suits klingt, nur dass er statt in New York City in Bayern spielt.

Der Mann aus der Nähe von München, Mitte 30, hat mehr als vier Jahre lang in der Welt von namhaften Großkanzleien, Unternehmen und bei der bayerischen Versicherungskammer als Jurist gearbeitet. Stellen, die eigentlich für absolute Top-Juristen reserviert sind. Jobs mit Einstiegsgehältern von 95.000 Euro, schnell verdiente G. 123.000 Euro im Jahr. Den Weg hatten ihm zwei Spitzenexamen geebnet, 12,48 Punkte in der ersten und 11,64 Punkte in der zweiten Prüfung. Auf dem Papier gleich zweimal Prädikatsergebnisse, nur wenige Prozent der Nachwuchsjuristen eines Jahrgangs – gerade in Bayern – erreichen solche Werte. Nur waren die Examenszeugnisse von G. mit Microsoft-Word zusammengebastelt. Inklusive Tippfehler und einem verhängnisvollen Datum.

Denn G. war nach dem sechsten Semester Jurastudium an der LMU München exmatrikuliert worden. Klausuren hat er, wenn er sich überhaupt zu einer Anmeldung durchringen konnte, nicht bestanden. Es ist die Geschichte eines Mannes, der Anerkennung suchte, ein irgendwie glückliches Leben führen wollte und sich Stück für Stück in seine Lügenkonstruktion verstrickte.

Wenn man sich vor Augen führt, wie G. bei verschiedenen Arbeitgebern als Anwalt arbeiten konnte, dann wirft sein Fall auch strukturelle Fragen auf. Etwa danach, wie sich ein Rechtssystem, das so viel objektive Aussagekraft mit den Examensnoten verbindet, selbst vor Täuschung schützt?

Das LG München I muss erneut entscheiden

Nachdem alles nur durch einen Zufall aufgeflogen war, verurteilte ihn das Amtsgericht (AG) München Ende 2020 wegen Betrugs in vier Fällen, versuchten Betrugs in zwei Fällen, sowie Urkundenfälschung in 22 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren. Außerdem ordnete das Gericht die Einziehung von rund 325.000 Euro an. Das Landgericht (LG) München I verwarf im Sommer 2023 die Berufungen sowohl vom Angeklagten als auch die der Staatsanwaltschaft. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe setzte es zur Bewährung aus. Damals sagte der Vorsitzende Richter gleich zu Beginn der Verhandlung: "Man muss kein Prophet sein, um sozusagen schon die Revisionsschrift aus dem Drucker kommen zu sehen, egal was wir hier entscheiden werden." So sollte es auch kommen.

Nun hat das Bayerische Oberstes Landesgericht (BayObLG) über den Fall entschieden und das Urteil des LG teilweise aufgehoben. Das Revisions-Urteil liegt LTO vor (Urt. v. 19.03.2024, Az. 205 StRR 21/24). Der Fall geht zur Klärung offener Aspekte zurück an eine andere Strafkammer des LG München I.

Das BayObLG beanstandete das Urteil des LG gleich in mehreren Punkten. So fehlte es den Richtern in den Urteilsgründen an Ausführungen zu den hergestellten Zeugnissen für den Betrug. "Die hierzu getroffenen Feststellungen lassen schon nicht erkennen, ob der Angeklagte unechte Urkunden herstellte", heißt es in dem Urteil. Die BayObLG-Richter hielten es nicht für selbstverständlich, dass aufgrund der Tippfehler, einer fehlerhaften Notenskala sowie falsch geschriebener Namen die "Examenszeugnisse" überhaupt geeignet waren, eine überzeugende Wirkung auszulösen. Auch ob es sich wirklich um 22 einzelne Betrugshandlungen handelte, sei nicht so vom LG unterlegt worden, als dass der Senat auf Rechtsfehler prüfen könne.

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Welchen Schaden hat G. angerichtet?

Ein anderer Punkt, den das BayObLG rügt, hatte sich bereits in der mündlichen Verhandlung abgezeichnet. Es geht um den Schaden, den G. durch seine Täuschungen angerichtet haben soll. Wie lässt sich der beziffern?

Für eine Verurteilung wegen Betrugs muss ein Vermögensschaden festgestellt werden. Das AG hatte dafür Grundsätze aus der Rechtsprechung zu Beamten übertragen. Dies mit der Begründung, dass Anwälten in ihrer Funktion eine ähnliche besondere Vertrauensstellung zukäme. "Auch genießt der Stand der Rechtsanwälte eine hohe Vertrauenswürdigkeit, da diese nicht nur Interessenvertreter, sondern auch Organe der Rechtspflege sind", heißt es im Urteil des AG. Die Argumentation: Wem die fachlichen Qualifikationsnachweise fehlen, der hätte den Job nie bekommen und so ist der Schaden in Höhe des gesamten gezahlten Jahresgehalts anzusetzen. Diese Begründung hatten die Richter am LG übernommen.

Im Rahmen der Einziehung hatten die LG-Richter aber in eine andere Richtung argumentiert: Der Beschuldigt habe zwar mehrere Großkanzleigehälter erlangt, der Wert seiner Arbeitsleistung sei aber davon abzuziehen. Hintergrund sei § 73 d Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB). In der Norm ist geregelt, dass grundsätzlich Aufwendungen des Täters bei der Bestimmung des Erlangten abzuziehen sind. Das Gericht nahm an, dass der Wert der Arbeitskraft des Beschuldigten den Großkanzleigehältern entsprach. Also Schaden doch gleich null?

Das BayObLG fasst sich an dieser Stelle kurz. Es lässt es genügen, dass in einigen Fällen der Vermögensschaden im Berufungsurteil nicht konkret beziffert worden sei. Pauschal das Jahresgehalt als Schaden anzusetzen, das hält das BayObLG für weiter begründungsbedürftig. Möglicherweise rechnet man beim BayObLG ohnehin damit, diesen Fall noch einmal auf den Tisch zu bekommen.

Der Rechtsanwalt Prof. Dr. Christoph Knauer, der G. in dem Verfahren vertritt, zeigte sich einerseits zufrieden, dass das BayObLG dem Aufhebungsantrag der Verteidigung gefolgt ist, andererseits habe es die Grundsatzfrage zum Schaden offen gelassen. "Für meinen Mandaten ist es bedauerlich, dass so für ihn weiterhin Unsicherheit besteht."

Die Staatsanwaltschaft München hatte ebenfalls Berufung und Revision eingelegt, der Freistaat will offenbar an diesem Fall dranbleiben. Immerhin geht es auch um die eigenen Sicherungsmechanismen. So konnte G. mit seinen Zeugnissen auch erfolgreich bei der Rechtsanwaltskammer München seine Anwaltszulassung beantragen. Die Staatsanwaltschaft will auch erreichen, die Bewährungsstrafe zu einer Vollzugsstrafe zu verschärfen. Es geht ihr offenbar auch um Generalprävention. Auf die besondere Rolle von Rechtsanwälten ging auch der Vorsitzende Richter am AG bei der Urteilsbegründung ein: "Der Beruf des Rechtsanwalts hat in der Gesellschaft einen besonderen Stellenwert und genießt besonders hohes Vertrauen, welches durch die Tat erschüttert wurde."

Seine exzellenten Examensnoten wirkten auf seinem Karriereweg offenbar wie ein Schutzschild: Unsicherheiten und Fehler erklärte man sich in einer der Kanzleien mit überheblicher Nachlässigkeit des Berufsanfängers. So konnte G. jahrelang unbemerkt in den Büros von Großkanzleien und Unternehmen juristisch "überleben".

Am Ende wird ihm ein Feiertag zum Verhängnis

So wie G. im Sommer 2023 beim LG München I auf der Anklagebank erschien, so würde der junge Mann auf den Fluren einer Großkanzlei nicht auffallen. Blau-weiß gestreiftes Businesshemd, schwarze Metallrandbrille, blonde Haare und Dreitagebart in ordentlicher Länge. Aufmerksamer Blick, ruhige tiefe Stimme. "Wenn ich noch ergänzen darf…" - so klingt es, wenn Matthias G. vor Gericht noch etwas nachtragen will. Er hatte den Sachverhalt schon beim AG eingeräumt.

Wenn man G. zuhört, scheint seine Geschichte weniger die eines skrupellosen Hochstaplers zu sein. Niemand, der gierig ausreizen wollte, wie weit er mit nichts in den Händen kommen kann. Sondern vielmehr die von jemandem, auf den die wachsenden Erwartungen seines sozialen Umfelds immer tiefer einwirkten. Das kann alles keine Entschuldigung sein, aber eine Einordnung.

Bei seinen Bewerbungen habe er darauf geachtet, nur Stellen anzuvisieren, bei denen er nicht vor Gericht hätte auftreten müssen, erzählte G. damals. "Ich wollte nie vor Gericht, weil ich damals befürchtete, Urteile unter meiner Beteiligung könnten nichtig sein." Am Ende landete er doch vor Gericht, allerdings auf der Anklagebank.

Als G. Ende 2015 die gefälschten Examenszeugnisse anfertigt, trägt er als Prüfungsdatum für das Zweite Examen den 25. Mai 2015 ein. G. wusste, so hat er es beim LG ausgesagt, dass um diese Zeit herum die Prüfungen stattgefunden hatten – allerdings ja ohne ihn. Um ein geeignetes Datum zu finden, habe er den Kalender in Windows geöffnet. Ein Klick rechts unten, so suchte er einen Montag aus. Was der Windows-Kalender ihm nicht anzeigte: Es ist der Pfingstmontag, ein Feiertag, Prüfungen finden an diesem nicht statt. Nur deshalb flog später bei einer Bewerbung alles auf. Ende 2019 durchsucht die Polizei seine Wohnung.

Heute arbeitet G. nach einer Ausbildung als Elektriker. Er hat im Sommer 2023 vor dem LG gesagt, er hat "sein Ding" gefunden. Er hat sich bei Geschädigten entschuldigt, er hat freiwillig Sozialstunden geleistet. Sein Privatleben ist zerbröckelt. Nichts konnte er retten. Aber er sagte vor Gericht, es gehe ihm nun besser, er fühle sich als der, der er sein will, der er eigentlich ist. Je länger sich die Gerichtsverfahren hinziehen, umso unwahrscheinlicher dürfte es werden, dass G. noch ins Gefängnis muss. Aber bis zu einer endgültigen Entscheidung wird noch einige Zeit vergehen.

Zitiervorschlag

Betrug mit gefälschten Examenszeugnissen: . In: Legal Tribune Online, 09.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54291 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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