Nach dem EZB-Urteil des BVerfG: Droht ein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fahren gegen Deut­sch­land?

11.05.2020

Mit der Entscheidung zu den Anleihenkäufen der EZB hat sich das BVerfG gegen den EuGH gestellt. Die polnische Regierung jubelt, Rechtspolitiker warnen vor verheerenden Folgen. Wankt Europas Justiz-Architektur?

Ein "fatales Signal" nennt es die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley. Der Europarechtler Franz Mayer spricht von einer "Atombombe", die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gezündet habe. Mit ihrem Urteil (v. 05.05.2020, Az. 2 BvR 859/15 u.a) zu den milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) haben sich die Karlsruher Richter zum ersten Mal gegen eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gestellt - und damit Schockwellen in Europa ausgesendet.

Bröckelt nun die Autorität des höchsten EU-Gerichts - in einer Zeit, in der die Europäische Union ohnehin zunehmend mit Nationalismus zu kämpfen hat? EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist alarmiert.

Die deutschen Richter dürften das Beben vorhergesehen haben. Das Urteil könne "auf den ersten Blick irritierend wirken", schickte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am 5. Mai der Verkündung voraus. Dem Senat sei bewusst, "dass Entscheidungen des EuGH nur in absoluten Ausnahmefällen die Gefolgschaft versagt bleiben darf".

BVerfG vs. EuGH: Eine lange Geschichte

Der Konflikt liegt in der Natur der Sache: Auf der einen Seite das BVerfG in Karlsruhe, das über die deutschen Grundrechte wacht. Auf der anderen Seite das oberste EU-Gericht in Luxemburg, das die europäischen Verträge auslegt und damit die Union zusammenhält. Was, wenn das zu Widersprüchen führt?

In der Tendenz hat sich Karlsruhe seit den 1970er Jahren mehr und mehr zurückgenommen. Mit zwei Ausnahmen: Die Richter behalten sich vor einzugreifen, wenn sie den innersten Kern, die "Identität" des Grundgesetzes verletzt sehen. Außerdem müssten sie einschreiten, wenn ein EU-Organ sich Kompetenzen herausnimmt, die ihm der Bundestag als Vertretung der Wähler nie übertragen hat, also "ultra vires" handelt.

Den zweiten Punkt stellt die EZB mit ihrem umstrittenen Anti-Krisen-Kurs seit Jahren hart auf die Probe. 2014 unterbreiten die deutschen Richter ihre Bedenken zum ersten Mal dem EuGH. Der aber gab der EZB grünes Licht. 2017 - inzwischen hat die Notenbank viele Milliarden in Staatsanleihen gesteckt - der zweite Karlsruher Vorstoß in Luxemburg. Aber der EuGH lässt sich eineinhalb Jahre Zeit und erteilt dem Kaufprogramm dann recht pauschal seinen Segen.

Dass sich die deutschen Richter das nicht bieten lassen würden, war zu befürchten. Sie schieben das EuGH-Urteil als "objektiv willkürlich" und "methodisch nicht mehr vertretbar" beiseite und entscheiden im Alleingang, dass die Notenbank ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt habe - ein in dieser Deutlichkeit bisher einmaliger Vorgang.

Sorgen bei EU-Abgeordneten und Europarechtlern

"Ich habe die Sorge, dass sich das Urteil negativ auf die Zukunft und den Zusammenhalt der Europäischen Union auswirken könnte", sagte die frühere Bundesjustizministerin Barley der Passauer Neuen Presse am Samstag. EuGH-Entscheidungen müssten von den nationalen Gerichten respektiert werden. Der Europarechtler Mayer von der Universität Bielefeld hält die Situation für "hochgefährlich". Den Richterspruch aus Karlsruhe sieht er als Angriff auf die EuGH-Kollegen.

Diese lassen sich mit einer inhaltlichen Reaktion mehrere Tage Zeit. Am Freitag werden sie dann aber ungewöhnlich deutlich. Grundsätzlich gelte zwar: "Die Dienststellen des Gerichtshofs kommentieren Urteile nationaler Gerichte nicht." "Ganz generell" stellt der EuGH aber klar, dass derlei Urteile das Justizsystem der EU gefährdeten. Eine Vorabentscheidung sei für das nationale Gericht bindend. Dass die Handlung eines EU-Organs - in diesem Fall die EZB - gegen EU-Recht verstoße, dürfe nur der EuGH feststellen. Andernfalls seien die Einheit des EU-Rechts und die Rechtssicherheit in Gefahr. 

"In Polen knallen die Korken"

Für den Europarechtler Mayer ist der Schaden längst angerichtet. "In Polen knallen die Korken", sagt er. In dem Land baut die nationalkonservative PiS-Regierung das Justizwesen seit Jahren um. Der EuGH schritt mehrfach ein und befand, dass Teile der Reformen gegen EU-Recht verstießen. Durch das deutsche Urteil fühle die PiS sich natürlich bestätigt, sagt Mayer. "Die können ihr Glück kaum fassen." Die Regierung werde künftig auf das BVerfG verweisen und behaupten, EuGH-Urteile seien nicht bindend.

Tatsächlich wird das Urteil von der Regierung in Warschau nahezu euphorisch aufgenommen. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki schreibt in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung von einem "der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union". Es sei vielleicht jetzt zum ersten Mal in dieser Klarheit gesagt worden: "Die Verträge werden von den Mitgliedstaaten geschaffen und sie bestimmen, wo für die Organe der EU die Kompetenzgrenzen liegen."

Was also, wenn Polen, Ungarn oder andere Staaten sich ein Beispiel an Deutschland nehmen und EuGH-Urteilen künftig nicht mehr folgen? Für Mayer würde das am Kern der Staatengemeinschaft kratzen. Das gemeinsame Recht sei für den Zusammenhalt der EU entscheidend. "Die europäische Gemeinschaft ist eben nur eine Rechtsgemeinschaft. Und der EuGH ist Ausdruck dieses gemeinsamen Rechts."

Vertragsverletzungsverfahren als notwendige Antwort der EU?

Eine entschiedene Reaktion sei wichtig, sagt Mayer. "Aus Sicht des Europarechts kann man sich das nicht bieten lassen." Die EU-Kommission müsse ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten - wegen der Nicht-Befolgung des EuGH-Urteils und vielleicht auch wegen der Verletzung der Unabhängigkeit der EZB.

Solche Verfahren stößt die Brüsseler Behörde regelmäßig an, wenn ein Land aus ihrer Sicht gegen EU-Recht verstößt. Zunächst wird auf schriftlichem Wege versucht, die Differenzen auszuräumen. Falls ein Staat nicht einlenkt, kann die EU-Kommission das Land vor dem EuGH verklagen. Bestätigt der Gerichtshof den Rechtsverstoß, kann die EU-Kommission finanzielle Sanktionen gegen das Land beantragen.

Doch ist das tatsächlich denkbar? EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gibt sich in einem Brief an den Grünen-Europapolitiker Sven Giegold entschlossen. "Ich nehme diese Sache sehr ernst", heißt es in dem Schreiben, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Der Richterspruch werfe Fragen auf, die den Kern der europäischen Souveränität berührten. Die Kommission analysiere das Urteil derzeit und prüfe auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland.

"Das letzte Wort zum EU-Recht hat immer der Europäische Gerichtshof in Luxemburg", schreibt von der Leyen. Die EU sei eine Werte- und Rechtsgemeinschaft, die die EU-Kommission jederzeit wahren und verteidigen werde. "Das ist, was uns zusammenhält."

Vertragsverletzungsverfahren würde "Brücken einreißen"

In Deutschland trifft die Prüfung eines Vertragsverletzungsverfahrens aber auch auf Kritik. Die CDU-Europaabgeordneten Markus Pieper und Stefan Berger haben nach dem umstrittenen Urteil vor einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland gewarnt. "Ein Vertragsverletzungsverfahren ist unverhältnismäßig", sagte Pieper der Funke Mediengruppe am Montag. Man könne den Konflikt anders aus dem Weg räumen, "zunächst durch mehr Transparenz und bessere Begründung der Anleihekaufprogramme seitens der EZB."

Auch Berger sprach sich dagegen aus, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten: "Das Urteil des BVerfG ist das Fundament für eine neue Rechtskultur." Die EZB müsse ihre Programme zu Staatsanleihekäufen künftig besser begründen. "Deshalb jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, nützt niemandem und ist grundsätzlich das falsche Mittel". Ein Verfahren eröffne einen jahrelangen Konflikt, obwohl sich eine Lösung schon abzeichnet. "Es reißt Brücken ein, die das BVerfG mit seinem Hinweis auf die bessere Erklärung der Verhältnismäßigkeit schon gebaut hat." 

EZB will am Wertpapierkauf festhalten

Nach Aussage der deutschen Notenbankdirektorin Isabel Schnabel wird die EZB trotz des Urteils des BVerfG ihre Wertpapierkäufe fortsetzen. Dies geschehe im Einklang mit dem Mandat der EZB, sagte Schnabel der italienischen Tageszeitung La Repubblica am Montag.

Schnabel machte deutlich, dass nur der EuGH zuständig für die EZB und ihr Handeln sei. "Er entschied 2018, dass das PSPP legal ist", sagte die Notenbankerin mit Blick auf das von Karlsruhe als teilweise verfassungswidrig eingestufte Programm PSPP (Public Sector Purchase Programme). Zuvor hatte bereits EZB-Präsidentin Christine Lagarde deutlich gemacht, dass die EZB nach dem Urteil des BVerfG an ihrem Kurs festhalten wird.

ast/dpa/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

Nach dem EZB-Urteil des BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 11.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41576 (abgerufen am: 02.11.2024 )

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