Das OLG Hamburg urteilte im Streit zwischen Till Lindemann und dem Spiegel zu Vorwürfen rund um sexuelle Kontakte während Rammstein-Konzerten. Das OLG differenziert dabei zwischen K.O.-Tropfen und Alkohol. Der Rechtsstreit geht weiter.
Mit leicht gesenktem Kopf schaut Simone Käfer durch den oberen Teil ihrer Brillengläser die Prozessvertreter des Spiegel und von Till Lindemann fast mitleidig an. Der Blick der Vorsitzenden Richterin des Pressesenats des Oberlandesgerichts (OLG) Hamburg, der abgeklärte und der selbstsichere Tonfall verraten: Hier lohnt sich ein anwaltliches Plädoyer eigentlich nicht mehr.
Kurz zuvor hatte Käfer deutlich gemacht, dass das Gericht, wie zuvor das Landgericht (LG) Hamburg im einstweiligen Verfügungsverfahren, im Hauptpunkt zu Ungunsten des Spiegel entscheiden will. Das LG hat dem Nachrichtenmagazin die Verdachtsäußerung verboten, Rammstein-Sänger Till Lindemann habe Frauen mithilfe von K.O.-Tropfen oder Drogen betäubt oder betäuben lassen, um ihm zu ermöglichen, sexuelle Handlungen an den Frauen vorzunehmen.
Spiegel-Anwalt Dr. Marc-Oliver Srocke (Advant Beiten) setzt an diesem 10. Juli der mündlichen Verhandlung trotz der klaren Ansagen zur Anwaltsrede für die Galerie an. Allein seine kurze Einleitung "Na gut" verrät, dass er wohl selbst um die Chancenlosigkeit seiner Bemühungen weiß. Er argumentiert, dass die Spiegel-Berichte vom Juni 2023 "Sex, Macht, Alkohol – Was die jungen Frauen aus der 'Row Zero' berichten" und "Götterdämmerung" schon gar nicht den Verdacht aufstellen würden, dass Rammstein Sänger Till Lindemann Frauen mit K.O.-Tropfen sexuell gefügig gemacht habe. Dieser unterstellte Eindruck sei "wie ein Flickenteppich aus verschiedenen Äußerungen zusammengebastelt". "Wo steht das denn?", fragt Srocke die Senatsmitglieder.
"Für MeToo braucht es keinen K.O.-Tropfen-Verdacht"
Der Bericht habe vielmehr allein das "Casting-System" von Till Lindemann rund um Rammstein-Konzerte beschrieben – ein "eiskaltes Rekrutierungssystem" mit verschiedenen Stufen. Frauen seien auf Rammstein-Konzerten in Situationen gebracht worden, in denen sie aufgrund einer Vielzahl von Umständen nicht mehr in der Lage waren, ein klares "Nein" zu formulieren, oder dass ihnen das jedenfalls schwergefallen sei. Ihnen sei das Handy weggenommen, Alkohol aufgedrängt und so ein entsprechender Druck erzeugt worden. All dies seien unbestrittene Vorwürfe. Vorwürfe, die so schwer wögen, dass sie allein die Fragestellungen im Artikel rechtfertigten, wie etwa diejenige, warum die Band nach den Vorwürfen einfach weiter machen könne. Eine solche Frage deute nicht darauf hin, dass mit Vorwürfen eigentlich die heimliche Abgabe von K.O.-Tropfen gemeint seien. "Für MeToo braucht es keinen K.O.-Tropfen-Verdacht", so Srocke.
Senatsvorsitzende Käfer hat ihr Gegenargument direkt parat. Unter anderem im Artikel veröffentlichte Zitate von Konzertbesucherin Shelby Lynn ("I got spiked at Rammstein" und "Till gave everybody a tequila shot") legten nahe, dass Lindemann etwas mit K.O.-Tropfen zu tun haben könnte. Dabei handele es sich nicht nur um eine Meinungsäußerung, sondern es würden tatsächliche Anhaltspunkte vermittelt, die darauf hindeuteten, dass ein Geschehen wirklich stattgefunden habe. Die Entgegnung von Srocke, dass das LG Hamburg genau diese Aussage von Shelby Lynn als zulässige Meinungsäußerung in Form einer Schlussfolgerung eingestuft habe, verhallt im großen Sitzungssaal 210.
"Vorwurf von K.O.-Tropfen geht zu weit"
Srockes Gegenspieler, Lindemann-Anwalt Simon Bergmann (Schertz Bergmann), ist klar, dass er in dem zentralen Punkt einen Sieg nach Hause tragen wird. Denn der Vorwurf des Verdachts des Einsatzes von K.O.-Tropfen ist für Till Lindemann der mit Abstand schwerwiegendste, auf dessen Untersagung es ihm entscheidend ankommt. Bergmann kann sich damit begnügen festzustellen, dass es selbstverständlich erlaubt sei, Sex eines 60-Jährigen mit einer 20-Jährigen zu kritisieren. "Der Vorwurf der Vergabe von K.O.-Tropfen geht aber zu weit", so Bergmann.
So sah es dann erwartungsgemäß auch das OLG im am 19. Juli 2024 verkündeten Urteil (Az. 7 U 37/23). Die Hauptargumentation des Spiegel, wonach der Verdacht gar nicht erweckt wurde, wird dort mit der bloßen Feststellung abgehandelt, dass "die in Bezug genommene Berichterstattung" derartige Anhaltspunkte vermittele. Aus welchen der 22 im Verfügungsantrag genannten Passagen das Gericht die Verdachtsäußerung des Einsatzes von K.O.-Tropfen ableitet, sagt es nicht. So bleibt für den Spiegel auch unklar, welche es alle streichen müsste, um aus dem Verbotstenor herauszukommen.
Tiefgehender wird die Argumentation des OLG hingegen beim fehlenden Mindestbestand an Beweistatsachen. Ein solcher ist Voraussetzung für zulässige Verdachtsberichterstattung. Tragfähige Indizien für die Verabreichung von K.O-Tropfen seien nicht glaubhaft gemacht, so das OLG. Wenn die Frauen über Erinnerungslücken im Zusammenhang mit den Aftershowpartys berichten, reichte das nicht aus, um anzunehmen, dass den betreffenden Frauen Drogen oder K.O.-Tropfen verabreicht worden wären. Auch hätte der Artikel dann darstellen müssen, welche Symptome bei K.O.-Tropfen zu erwarten sind, und diese hätten mit den von den Frauen geschilderten Symptomen abgeglichen werden müssen. Abgesehen davon, dass es schon keine tragfähigen Indizien für den Einsatz von K.O.-Tropfen überhaupt gebe, existierten erst recht keine Indizien dafür, dass Lindemann selbst dahinterstecken würde.
Das lyrische Ich von Till Lindemann
Auch eines seiner Gedichte, das in dem Spiegel-Artikel zitiert wird, gebe dafür nichts her. Hier hatte Lindemann getextet:
"Ich schlafe gerne mit dir wenn du schläfst, /
wenn du dich überhaupt nicht regst. / ...
so soll das sein, so macht das Spaß /
etwas Rohypnol im Wein."
"Aus der Veröffentlichung eines solchen, gezielt auf eine Provokation der Öffentlichkeit gerichteten Textes kann und darf naturgemäß nicht geschlossen werden, dass dessen Verfasser das den Leserinnen und Lesern des Gedichts als erkennbar fiktiv präsentierte Verhalten auch in Wirklichkeit praktiziere", so das OLG in der Urteilsbegründung.
Alkohol und Sex auf Rockparties normal
Doch ganz ungetrübt ist Simon Bergmanns Erfolg für Till Lindemann nicht. Denn vor dem Landgericht hatte Bergmann noch durchsetzen können, dass dem Spiegel auch die Verdachtsäußerung untersagt wird, Lindemann habe Alkohol eingesetzt, um Frauen sexuell gefügig zu machen. Warum das OLG dieses Verbot nun aufgebe, fragt Bergmann nach eindeutigem Hinweis bereits in der mündlichen Verhandlung. "Wenn tatsächlich Wodka maßlos getrunken und ausgeschenkt wurde, dies dann zu verbieten – finden wir schwierig", erwidert Käfer.
Also versucht es Bergmann noch einmal – mit einem Verweis auf das Strafrecht. Es gehe ja nicht um Alkohol an sich, sondern den Verdacht, dass Frauen damit sexuell verfügbar gemacht werden sollten, womit der Verdacht eines sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 2 Nr. 2 Strafgesetzbuch (StGB) im Raum stehe. Käfer antwortet knapp: Ganz im Gegensatz zur Vergabe von K.O.-Tropfen sei es Tatsache, dass es auf den Aftershowparties viele betrunkene Frauen gebe.
Im Hinblick auf den ausgeschenkten Alkohol führt das OLG später im Urteil aus, dass bereits kein entsprechender Verdacht erweckt werde, dass dieser gerade mit dem Ziel verabreicht würde, Lindemann die sexuellen Handlungen mit den Frauen überhaupt erst zu ermöglichen. Der Umstand, dass auf Aftershowpartys hochprozentiger Alkohol konsumiert werde, entspreche vielmehr der Erwartungshaltung der Leser und sei deshalb für sich allein nicht geeignet, einen Verdacht der beschriebenen Art hervorzurufen.
In anderen Worten: Weil es normal sei, dass auf Partys von Rockstars viel getrunken werde, komme der Leser – wohl im Gegensatz zu K.O.-Tropfen – nicht auf den Gedanken, dass der Alkohol gezielt zu Sexzwecken eingesetzt werde.
"Schlampenparade", "Resteficken", Bandstreit um Frau
Neben diesen Hauptaspekt entscheidet das Landgericht auch über zwei weitere Fragen. Zum einen darüber, ob der Spiegel schreiben darf, dass Mitarbeiter bei Aftershowpartys von "Schlampenparade" und "Resteficken" sprachen. Hier kommt das OLG zu dem Schluss, dass Lindemann und auch andere Bandmitglieder durch solche Äußerungen von Mitarbeitern schon nicht in ihrem Ehranspruch betroffen seien und hebt die einstweilige Verfügung des Landgerichts in diesem Punkt auf.
Ein Unterlassungsanspruch wegen Unwahrheit käme nur in Betracht, wenn solche Äußerungen mit Lindemanns übrigen Verhaltensweisen, für die er in der Öffentlichkeit stehe, nicht vereinbar seien. Angesichts des unstreitigen Castingsystems, in dem ausgewählte Frauen zur "After-Aftershowparty" geführt werden, wo es zu Sexualkontakten mit Bandmitgliedern komme, während die anderen Frauen auf der normalen Aftershowparty bleiben und dort "angemacht" würden, seien Kommentare wie "Schlampenparade" und "Resteficken" für Lindemann und Co. nicht mehr rufschädigend. Dazu führt das OLG aus, dass die "hier lediglich angegriffenen Vokabeln kein weiteres Potenzial für eine nennenswerte Rufschädigung der Bandmitglieder bergen". Das heißt: Bei Personen, die sich so verhalten wie die Rammstein-Bandmitglieder, können solche Kommentare keinen zusätzlichen Schaden mehr anrichten. Überspitzt: Der Ruf ist ohnehin schon – je nach Sichtweise – ruiniert oder für Rockstar-Standards eben intakt.
Das Verbot stehen lässt das OLG bei der Aussage des Spiegel, wonach sich Till Lindemann und Bandmitglied Richard Kruspe um eine Frau gestritten hätten. Es handele sich um eine Tatsachenbehauptung, die vom Spiegel nicht glaubhaft gemacht worden sei. Die Aussagen in eidesstattlichen Versicherungen beschränkten sich auf Vermutungen. Es nütze dem Spiegel auch nichts, dass er eine abgewandelte Unterlassungserklärung abgegeben habe, da diese von Rechtsanwalt Bergmann nicht angenommen worden sei und auch nicht angenommen hätte werden müssen.
Ziel des Spiegel: Karlsruhe
Bereits in der mündlichen Verhandlung erklärte Anwalt Srocke in Begleitung von Spiegel-Justitiar Sascha Sajuntz, man wolle, dass sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit den aufgeworfenen Fragen beschäftige, und sei daher nicht vergleichsbereit.
Doch bis zum BGH ist es noch ein längerer Weg. Das OLG Hamburg ist im Verfügungsverfahren – als gerichtlichem Schnellverfahren – die letzte Instanz. Die Hauptsacheklage läuft allerdings bereits. Nacheinander sind nun wieder das LG Hamburg und das OLG Hamburg an der Reihe und haben Gelegenheit, die aufgeworfenen Rechtsfragen in ihren Hauptsacheurteilen ausführlicher zu klären und darzustellen.
Erst dann kann der BGH im Wege der Revision oder der Nichtzulassungsbeschwerde angerufen werden. Der Lindemann-Komplex wird die Gerichte also noch länger beschäftigen.
Als nächstes steht Ende August eine Verhandlung an. Hier geht es um Vorwürfe gegenüber Lindemann in der Süddeutschen Zeitung, die das Landgericht Frankfurt für zulässig erachtete. Daraufhin legte Bergmann für seinen Mandanten Lindemann Berufung zum Oberlandesgericht Frankfurt ein.
• Die wichtigsten Rechtsdebatten des Landes zum Hören und Mitreden – im LTO-Podcast "Die Rechtslage"
OLG Hamburg zu Lindemann vs. Spiegel: . In: Legal Tribune Online, 22.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55051 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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