Gerichtsbeschlüsse zur "Letzten Generation" online: Arne Sems­rott von "Frag­Den­Staat" ris­kiert Straf­ver­fol­gung durch Ver­öf­f­ent­li­chung

von Leonie Ott, LL.M.

22.08.2023

Es ist verboten, in laufenden Strafverfahren aus unveröffentlichten Gerichtsdokumenten zu zitieren. Ein Journalist hält die Strafnorm für verfassungswidrig und veröffentlicht trotz des Verbots Beschlüsse zur "Letzten Generation". 

Wenn Medien Ermittlungsakten oder Gerichtsbeschlüsse recherchiert haben, stehen sie vor einem Dilemma: Einerseits wird die Berichterstattung durch Zitate aus gerichtlichen Dokumenten präziser, andererseits droht Journalistinnen und Journalisten bei einer solchen Veröffentlichung eine Strafbarkeit nach § 353d Strafgesetzbuch (StGB). Hiernach wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer die Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist.

Aufgrund dieser Norm zitieren Medien regelmäßig nur sinngemäß aus den Akten. So auch LTO, das etwa als erstes Medium über den Inhalt der Beschlusses zur Beschlagnahme der Website der Klima-Gruppierung "Letzte Generation" berichtete. Am Ende des Beitrags wurde darauf hingewiesen, dass wegen der Strafnorm des § 353d StGB Zitierungen unterblieben sind. Der Journalist und Projektleiter der Informationsplattform "FragDenStaat" macht es nun anders: Er hat drei Beschlüsse des Amtsgerichts (AG) München aus dem laufenden Strafverfahren gegen Mitglieder der "Letzten Generation" wegen des Vorwurf der Bildung einer kriminellen Organisation bei "FragdenStaat" online anonymisiert zugänglich gemacht. Der Journalist nimmt damit ein eigenes Strafverfahren in Kauf. 

Begründung zu Vorwurf der Bildung einer kriminellen Organisation

Arne SemsrottDass Semsrott gerade diese Beschlüsse veröffentlicht, ist kein Zufall: Keine aktivistische Initiative der vergangenen Jahrzehnte habe derart die Gemüter erhitzt, so Semsrott. Im Mai wurden die Wohnungen von sieben Aktivisten der „Letzen Generation“ durchsucht. Polizisten nahmen Computer und Telefone mit, beschlagnahmten die Website der Gruppierung und hörten Telefonate ab. Die rechtliche Grundlage für diese Maßnahmen waren die nun veröffentlichen Beschlüsse. Nun kann jeder im Wortlaut nachlesen, warum das AG München die "Letzte Generation" für eine kriminelle Vereinigung hält. Die Frage, ob die "Letzte Generation" tatsächlich unter § 129 StGB fällt, ist nämlich höchst umstritten

In den veröffentlichten Beschlüssen begründet das Gericht, warum von der Aktivisten-Gruppierung eine "erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit" ausgehe. Die Dokumente enthalten die Anordnung verschiedener Ermittlungsmaßnahmen: In einem Beschluss geht es um Telekommunikationsüberwachung, in einem anderen um Durchsuchungen und der dritte Beschluss bezieht sich auf die umstrittene Beschlagnahme der Domain "letztegeneration.de". 

Straftatbestand habe Journalisten eingeschüchtert

Semsrott ist davon überzeugt, dass das Veröffentlichungsverbot einen einschüchternden Effekt auf die Presse hat. Im Fall der Beschlüsse zu Mitgliedern der "Letzten Generation" habe die zurückhaltende Berichterstattung das bereits gezeigt. Die Dokumente hätten einigen Medien zwar vorgelegen, durch das Zitierverbot seien die Analysen aber mehrdeutiger und unschärfer geworden als notwendig.

Gegenüber LTO erklärte Semsrott seine Motivation: "Der Umgang der Justiz mit der "Letzten Generation" wird in ganz Deutschland diskutiert. Bei so umstrittenen Verfahren ist es von überragendem Interesse für die Allgemeinheit, auch alle Fakten zu kennen. Es ist für eine umfassende öffentliche Diskussion unerlässlich, dass sich alle Menschen frei über die wichtigen Beschlüsse des AG München informieren können."

Semsrott nimmt Anzeige in Kauf  

§ 353d StGB verstößt nach Ansicht von Semsrott gegen das Grundgesetz sowie gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), weil die Norm die freie Berichterstattung der Presse unverhältnismäßig beschränke. Es müsse möglich sein, Dokumente aus Verfahren von hohem öffentlichen Interesse zu veröffentlichen, wenn dies den Interessen der Beschuldigten nicht zuwiderlaufe, so Semsrott. Dem Journalist zufolge dürfe die Veröffentlichung von Dokumenten aus Strafverfahren wegen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nur dann verboten sein, wenn sie die Wahrheitsfindung der Gerichte oder die Unschuldsvermutung beeinträchtige. 

Auf die Frage von LTO, ob er eine Anzeige provozieren wolle, antwortet Semsrott: "Ob es eine Anzeige gibt, kann ich nicht beeinflussen. Ich bin aber überzeugt, dass spätestens Gerichte auch zu dem Schluss kommen würden, dass § 353d StGB verfassungswidrig ist."

Der Straftatbestand des § 353d StGB hat auch schon in der Vergangenheit für mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Im Zuge des "MeToo-Skandals" in der baden-württembergischen Polizei war auch gegen den Innenminister von Baden-Württemberg Thomas Strobl (CDU) ein Ermittlungsverfahren wegen Anstiftung zu verbotenen Mitteilungen über Gerichtsverfahren eingeleitet worden, weil er ein Anwaltsschreiben an Journalisten herausgegeben hatte. Das Verfahren wurde gegen Geldauflage eingestellt.

 

* Auf LTO erscheint die "FragDenStaat"-Kolumne "Akteneinsicht", an der auch Arne Semsrott als Autor mitwirkt. 

Zitiervorschlag

Gerichtsbeschlüsse zur "Letzten Generation" online: . In: Legal Tribune Online, 22.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52527 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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