2/2: Staatsterroristische Übungen
In der Frühzeit der DDR, geprägt von nachkriegsbedingter wie selbstgemachter Mangelwirtschaft, machten einen Gutteil des politischen Strafrechts Prozesse wegen vorgeblicher Verschwendung "sozialistischen Eigentums" aus. . Hier konnte Wyschinski tatsächlich als Lehrmeister dienen, auch wenn man – hart an der noch halbwegs offenen Grenze zum freien Teil Deutschlands – weniger oft zum "Tod durch Erschießen" greifen konnte.
Vor seiner Berufung zum Generalstaatsanwalt hatte sich Wyschinski nämlich in der Anklage kleinerer Wirtschaftsdelikte geübt, die politisch umso größer theatralisiert wurden: Der Direktor einer Mähdrescherfabrik hatte – für die sowjetische Staatswirtschaft keinesfalls untypische – Fertigungsprobleme zu verantworten? Man macht ihm den Prozess, einem Hochverräter gleich. Zeitgleich verhungerten in der Ukraine mehrere Millionen Menschen – das Europäische Parlament betrachtet dieses staatlich verordnete Aushungern, den "Holodomor", heute als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Derweil dient ein dramatischer Mähdrescher-Prozess dazu, angeblich Verantwortliche vorzuführen.
Sein Meisterstück, das ihm die Berufung zum Generalstaatsanwalt sicherte, lieferte Wyschinski – von Haus aus im Übrigen ein unter der Stalinistischen Führung selten anzutreffender humanistisch gebildeter Jurist – 1930 mit dem sogenannten Industrieprozess. Arkadi Waksberg (1933-2011), ein regimekritischer Jurist und Journalist, in den 1980er-Jahren Biograph Wyschinskis, gibt an, dass dieses Verfahren die Weltöffentlichkeit in Erstaunen versetzte: Erstmals gestanden alle Angeklagten den Vorwurf, sie hätten als Wissenschaftler eine militärische Intervention des Auslands vorbereitet. Der Kronzeuge der Anklage, der prominente Ingenieur Leonid Konstantinowitsch Ramsin (1887-1948), so belegten in den Gorbatschow-Jahren zugängliche Akten, stand bei dieser völlig absurden Verschwörungstheorie im Dienst der Anklagebehörde, wurde zwar ebenfalls zum "Tod durch Erschießen" verurteilt, dann aber begnadigt und später in höchste staatliche Ehren eingesetzt.
Statt "Ach Europa" bald: "Ach DDR"?
Der berühmte Hans Magnus Enzensberger (1929–) veröffentlichte 1987 ein kleines Buch mit politischen Reiseberichten aus allerlei europäischen Ländern, "Ach Europa" war der aufseufzende Titel. Aufsehen erregte damals sein Porträt der schwedischen Verhältnisse, die er als wohlmeinend autoritär beschrieb: Eine größere Anzahl Stockholmer Jugendlicher beispielsweise, die sich dank einer kostenlosen Telefonschaltung für ein unpolitisches Treffen in einem Stadtpark zusammenfand, wurde dort von der Polizei empfangen, auseinandergetrieben und anschließend von Sozialarbeitern und Psychologen in die Mangel genommen, die wissen wollten, warum sich die schwedische Jugend nicht in den schönen sozialdemokratisch verwalteten Jugendheimen treffen mochte.
Menschen neigen dazu, mit zunehmendem Alter die biografische Vergangenheit zu verklären. Man möchte nicht wissen, wie viele frühere Untertanen des SED-Staats heute ein Bild von der DDR im Kopf haben, das dem von Enzensberger 1987 beschriebenen Schweden gleicht: autoritär, aber fürsorglich.
Aus der Erinnerung an die DDR-Wissenschaft ergeben sich sogar kleine Heldengeschichten, die ein solches Selbstbild stützten könnten. Beispielsweise konnte sich die biologische Forschung im SED-Staat den Lehren des sowjetischen Scharlatans Trofim Denissowitsch Lyssenko (1898-1976) entziehen, der gegen jede naturwissenschaftliche Vernunft, aber mit dem Segen und der brutalstmöglichen Förderung Stalins behauptete, Lebewesen könnten erworbene Eigenschaften vererben.
Ein Blick in die verbrecherischen Werke der frühen DDR-Rechtswissenschaft mit ihrer ungehemmten Liebe zum sowjetischen Lehrer "sozialistischer Gesetzlichkeit" mag vor allzu rosigen Selbstbildern bewahren.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Zum Tag der Deutschen Einheit: . In: Legal Tribune Online, 03.10.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13390 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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