Am Mittelfinger, lateinisch "digitus tertius", besteht rechtliches Interesse – anders als man vielleicht erwartet, ist es aber nicht überwiegend strafrechtlicher Natur.
Nach einem regionalen Aberglauben hatte es einst besonders böse Folgen, vor dem heutigen Amtsgericht Ehingen an der Donau einen Meineid zu schwören. Denn wahlweise lief der Zeuge Gefahr, "augenblicklich kohlrabenschwarz" zu werden oder postmortal unangenehm aufzufallen – ihm wüchsen nach seinem Tod die Schwörfinger, also Zeige- und Mittelfinger, sowie der Daumen aus dem Grab heraus.
Das vom Schweizer Volkskundler Hanns Bächtold-Stäubli (1886–1941) herausgebrachte "Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens" erklärt, derartige Vorgänge seien nach den Vorstellungen der Einheimischen im schwäbischen Ehingen in "früherer Zeit durchaus nichts so seltenes gewesen".
Das magische Denken wuchs nicht im rechtsfreien Raum. Ganz im Gegenteil: Nach Art. 107 Constitutio Criminalis Carolina (CCC), dem 1532 erlassenen, bis ins 19. Jahrhundert einflussreichen Strafgesetzbuch des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, drohte dem Meineidigen die Amputation von Zeige- und Mittelfinger.
Obwohl sie als Tochter ihres Zeitalters in Bildungs- und Justizfragen durchaus eine aufgeklärte Fürstin war, wünschte auch Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn (1717–1780, im Amt seit 1740), dass ihre vorsätzlich meineidigen Untertanen in schweren Fällen neben der Enthauptung zusätzlich mit "Ausreißung der Zung, oder Abbhauung der Schwurfingern, oder mit beyden zugleich verschärffet" bestraft würden.
Wenngleich Österreich bis in die 1970er Jahre ein vergleichsweise rückständiges Strafrecht mit einigem religiösem Tand pflegte, traf es unsere südlichen Nachbarn nicht gar so harsch. Die Constitutio Criminalis Theresiana (CCTh) hatte nur bis 1787 Bestand. Hier fand sich die Amputation der Schwurfinger in Artikel 59 § 3 CCTh geregelt.
Betroffen waren die beiden Finger, weil sie in der älteren christlichen Tradition bei der Eidesleistung mit dem Daumen gespreizt werden, als Bekenntnis zum dreifaltigen Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist. Freigeister schwören, wenn überhaupt, mit der geöffneten Handfläche. Amtsträger christlicher Parteien sieht man beim politischen Eid hingegen bis heute häufig die drei Finger recken.
Interesse am Mittelfinger in zivilisierten Zeiten
Als im 19. Jahrhundert das Interesse an Körperstrafen in Justiz und Rechtspolitik allmählich nachließ – immerhin wurde noch 1841 in Preußen ein letzter Delinquent posthum aufs Rad geflochten, die Prügelstrafe im Arbeits- und Zuchthaus blieb hier bis 1918, in anderen Teilen Deutschlands bis 1923 erhalten – wurde der Verlust von Zeige- und Mittelfinger nicht länger als archaisches Strafregister betrieben – wer nicht mehr alle Finger besaß, war womöglich vorbestraft.
In der Rechtsprechung des Reichsgerichts lässt sich erstmals ein neueres Interesse am Mittelfinger entdecken, das seither nicht länger vorrangig auf dem Gebiet des Strafrechts zu liegen scheint – wobei hier quantifizierende Aussagen natürlich mit Vorsicht zu genießen sind.
Mit Urteil vom 1. November 1911 sprach das höchste deutsche Zivilgericht einem früheren Soldaten, der sechs Jahre zuvor eine Dienstbeschädigung seines rechten Mittelfingers erlitten hatte, einen Militärrentenanspruch zu. Begehrt hatte der Kläger 20 Prozent, das Reichsgericht bestätigte das zusprechende Urteil des Landgerichts über zwölf Prozent der Vollrente (RG, Urt. v. 01.11.1911, Az. III 573/10).
Das Urteil des Reichsgerichts macht den Anfang einer nicht mehr abreißenden Rechtsprechung zur Frage, wie der Verlust oder die Funktionsbeschädigung des Mittelfingers zu vergüten sei – wobei der auf den ersten Blick beachtliche Militärrentenanspruch aus der Epoche des Kaiserreichs nicht erhalten blieb.
Beispielsweise dokumentiert das Urteil des Bundesdisziplinarhofs vom 23. September 1958, das Teil einer seinerzeit schier endlosen Folge oft drakonischer Entscheidungen gegen meist alkoholkranke oder kleinkriminelle Beamte der unteren Dienstränge war, die wirtschaftlichen Verhältnisse eines verbeamteten Postfacharbeiters. Für den doch gravierenderen Verlust des rechten Daumens und die Versteifung des Mittelfingers durch eine Kriegsverwundung erhielt er eine Beschädigtenrente von monatlich nur 30 Mark, zusätzlich zu seinen regulären Dienstbezügen in Höhe von rund 420 Mark netto (Urt. v. 23.09.1958, Az. III D 73/56).
Unter hunderten von Entscheidungen zur (sozial-)versicherungsrechtlichen Stellung des Mittelfingers finden sich nicht wenige, die einen Einblick in die Evolution der Arbeits- und Arbeitsschutzverhältnisse der Bundesrepublik erlauben – der Versuch, sich als "Betriebsfotograf" mit Bildern einer neuen Strickmaschine zu etablieren, brachte einem 22 Jahre jungen Mann beispielsweise 1951 den Verlust eines Teils des Mittelfingers und ausgedehnte Weichteilverletzungen ein, weil ihm das Blitzlichtpulver vorzeitig explodierte. 50 Jahre später prozessierte er erneut vergeblich gegen die Berufsgenossenschaft – niemand mochte sich erinnern, dass er seine Tätigkeit aus betrieblichen Gründen verrichtet haben wollte (Landessozialgericht Bayern, Urt. v. 16.01.2002, Az. L 2 U 40/01).
Mittelfinger als Problem der Ehre
Vom Küssen des Mittelfingers als Zeichen der Demut bis zum Zeugnis, was von den Verhältnissen in Nordkorea zu halten ist, hat dieses Körperglied zwar eine breite Spur in der Symbolgeschichte hinterlassen, überraschend spät findet es sich aber in handelsüblichen Entscheidungssammlungen als Ausdruck ehrenrühriger Absichten.
Als einem zum Tatzeitpunkt 23-jährigen Zeitsoldaten 1962 im Disziplinarverfahren der Versuch zur Last gelegt wird, sich in sexuellen Absichten einem 13-jährigen Mädchen genähert zu haben, wird zwar eine obszöne Geste geschildert – er habe bei der Frage, ob das Kind wisse, was "ficken" ist, "den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger" der geballten Faust gesteckt. Mit der später auch vor Gericht als "Stinkefinger" bezeichneten Ausdrucksform hatte dies aber noch nichts gemein (Bundesdisziplinarhof, Urt. v. 18.07.1963, Az. WD 68/63).
Einer anderen symbolischen Ordnung gehörte auch noch der sogenannte "Widerstandsgruß" an – gespreizter Daumen, Zeige- und Mittelfinger, angewinkelter Ring- und kleiner Finger –, mit dem der Anhänger einer rechtsextremen Gruppierung 1981 dem Vorwurf entging, den "Hitlergruß" gezeigt zu haben (Bundesgerichtshof, Urt. v. 12.05.1981, Az. 5 StR 132/81).
Als genuiner "Stinkefinger" taucht die Geste etwa erst im Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25. Februar 1986 (Az. 5 StR 833/85) auf: Der Angeklagte hatte sie zwei Männern vor einer Gaststätte in Hamburg gezeigt und auf sie geschossen, nachdem sie ihn deshalb "zur Rede stellen wollten". Wenngleich in Frage stand, ob die Schüsse in Tötungsabsicht durch Notwehr gerechtfertigt waren, blieb der gereckte Mittelfinger ohne bundesrichterliche Würdigung – vielleicht ein Zeichen dafür, dass sein provokativer Charakter, im Vergleich beispielsweise zum populäreren "Vogel zeigen", seinerzeit noch unausgereift war.
Vierzehn Jahre später war die Geste so verbreitet, dass sie zwar noch als "gestreckter Mittelfinger" konkret beschrieben wurde, mit darstellungsökonomischer Kürze aber bereits auch schlicht als "Stinkefinger" bezeichnet werden konnte – wie im Fall eines Verkehrsteilnehmers aus Bayern, der sich erfolglos damit zu verteidigen suchte, sein Gruß habe einer Überwachungskamera, nicht den Polizisten gegolten, die in beamtentypischer Beleidigungsanfälligkeit mit der Auswertung der Aufnahmen betraut waren (Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschl. v. 23.02.2000, Az. 5 St RR 30/00).
Knapp 2.000 Jahre, nachdem der römische Staatsmann Gaius Caesar Augustus Germanicus, genannt Caligula (12–41, im Amt 37–41 n. Chr.), das Küssen seines Mittelfingers zwecks Demütigung nachgeordneter Amtsträger einführte, entdeckte die Berliner Wirtschaftsverwaltung unter der "Grünen"-Senatorin Ramona Pop (1977–) im Bild einer älteren, mit Mundnaseschutz ausgestatteten Frau ein didaktisches Mittel, das Publikum zur Einhaltung seuchenpolizeilicher Regeln aufzufordern. Ihre Empörung darüber, dass der Staat hiermit dem Volk den "Stinkefinger" zeigte, ließ noch im fernen Saarland eine Kosmetikerin im vergeblichen Versuch erbeben, sich von COVID-19-Regelungen zu befreien (Oberverwaltungsgericht Saarland, Beschl. v. 09.11.2020, Az. 2 B 325/20).
Obwohl sich die Justiz in den vergangenen gut 100 Jahren überwiegend auf versicherungs- und versorgungsrechtlichem Niveau mit verloren gegangenen, unbeweglich gewordenen oder zerfleischten Mittelfingern befasst hat, taugt das Glied heute wieder als Ausdrucksmittel im Verhältnis von Staat und Bürger.
Ganz lächerlich ist es also nicht, dass im Jahr 2012 der 1. August als "World Middle Finger Day" ausgerufen wurde. Denn dabei, dass die Ausdeutung des "digitus tertius" nur humanistisch Gebildeten Sorgen bereiten musste, ist es ja leider nicht geblieben.
Zum World Middle Finger Day 2021: . In: Legal Tribune Online, 01.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45605 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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