Die historische Rechtsprechung gibt Hinweise auf eine fremd wirkende Position zu den Rechten des Kindes. In der Diskussion um die Änderung des Grundgesetzes spielt sie keine Rolle mehr, obwohl sie zur Mäßigung beitragen könnte.
Von der seelischen und physischen Natur der Kinder hatten diese Richter eine klare Vorstellung: Lehrer sollten von der körperlichen "Züchtigung von Mädchen" möglichst ganz absehen, der Grund für entsprechende amtliche Anweisungen liege auf der Hand: "Sie sind in deren oft feinem und reizbarem Nervensystem zu suchen, das namentlich in den Entwicklungsjahren besonderer Schonung bedarf."
Generell gelte seit einer Regierungsanweisung aus dem Jahr 1825, dass "Züchtigungen von Kindern den Lehrern nur insoweit gestattet sind, als sie sich im Rahmen der Schulzucht halten und der Gesundheit des Kindes auch nicht auf entfernte Art schädlich werden könnten".
In dem hier zitierten Urteil zum "Umfange des Züchtigungsrechts eines Lehrers in Preußen" vom 17. Oktober 1922 hatte sich das Reichsgericht mit dem Schadensersatzanspruch eines Vaters gegen den Staat zu beschäftigen. Sechs Jahre zuvor war seine damals elf Jahre alte Tochter von ihrem Lehrer zunächst mit zwei Stockschlägen auf die Hand gezüchtigt worden, weil sie die Lösung zu einer Aufgabe aus dem Buch hatte abschreiben wollen. Auf ihr Weinen hatte der Lehrer reagiert, indem er ihr "mit einem Pack von 3–6 Schreibheften" auf den Kopf schlug und sie aus der Schulbank zerrte, "wo sie hinfiel und anscheinend bewusstlos liegen blieb".
In der Folgezeit war das Kind von Schwächeanfällen und Verfolgungsideen betroffen, die nach einer akuten Phase etwas abklingen sollten (RG, Urt. v. 17.10.1922, Az. III 168/22).
Nur Mädchen bleiben von Gewalt etwas verschont
In diesem Fall hatte das Landgericht dem Vater zunächst Schadensersatz wegen der Heilbehandlungskosten zugesprochen.
Das Oberlandesgericht war jedoch zu einem anderen Urteil gekommen. Nicht allein die Kausalität zwischen den Schlägen und der beim Kind wahrgenommenen "Hysterie" zweifelten die Richter an, sie sahen hier auch in den Stockschlägen eine "angemessene Züchtigung".
Das Reichsgericht stützte sich hingegen wieder auf wiederholte Versuche der preußischen Regierung, die Lehrergewalt einzuschränken. Aus den Erlassen ergebe sich ein Ultima-ratio-Prinzip: "Wenn ein Lehrer eine Schülerin, die abschreibt, ohne weiteres mit dem Stocke auf die Hand schlagen dürfte, dann hätte die Weisung, Züchtigungen nur da vorzunehmen, wo andere Strafmittel versagt haben, und sie bei Mädchen möglichst ganz zu vermeiden, keinen Sinn."
Ein Blick ins Gesetz zeigt aber, dass dieser Versuch einer Eindämmung erzieherischer Gewalt gegen weibliche Kinder und Jugendliche eine Ausnahme von der weithin gebilligten Regel körperlicher Züchtigungen machte. § 127 S. 1 Gewerbeordnung (1883) unterwarf beispielsweise den Lehrling ausdrücklich "der väterlichen Zucht des Lehrherren".
Wie weit dieses "väterliche" Züchtigungsrecht gehen konnte, deutet etwa ein Urteil des Reichsgerichts vom 4. Juni 1896 an. Während das Kammergericht annahm, dass ein Fall körperlicher Gewalt außerhalb des Lehrvertrages vorliege, kam für das Reichsgericht in Betracht, dass eine zwar eskalierte, aber grundsätzlich zulässige Züchtigung vorlag: Einem Maurerlehrling war von seinem Ausbilder mit einem "Holzpantoffel" – dem Sicherheitsschuhwerk des Jahres 1891 – so kräftig vor das Schienenbein getreten worden, dass ein dauerhafter Schaden zu beklagen war (RG, Urt. v. 04.06.1896, Az. VI 40/96, RGZ 37, 326–331).
Bias zum Horror historischer Kindheit
Solche Rechtsgeschichten illustrieren heute meist bloß Erzählungen über eine historische Horrorwelt, aus der der deutsche Gesetzgeber die Kinder "erst im Jahr 1998" befreit habe.
Der seinerzeit geänderte § 1631 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gilt in solchen Nacherzählungen als eine Art Schluss- oder doch Höhepunkt in einem "langen Kampf für die Kinderrechte".
Abgesehen davon, dass diese unter Journalistinnen und Politikern weit verbreitete rhetorische Figur, "erst im Jahr x" habe der Gesetzgeber irgendeinen lobenswerten Akt geleistet, eine oft längst modernere gesellschaftliche Praxis ausblendet, sind im Fall des Züchtigungsrechts weitere Zweifel angebracht.
Für das Reichsgericht war das Züchtigungsrecht kein auf Kinderfragen fixiertes Anliegen. Vor Inkrafttreten des BGB hatte das Gericht etwa noch ausdrücklich klarzustellen, dass ein Dienstherr für körperliche Schäden, die er beim gezüchtigten Hauspersonal hinterließ, nach allgemeinen Regeln haften müsse und nicht generell durch die preußische Gesindeordnung aus dem Jahr 1810 von Haftung freigestellt sei (RG, Urt. v. 02.10.1890, Az. VI 124/90) – dies war die wichtigere soziale Frage der Zeit!
Auch die Historikerinnen Michelle Perrot (1928–) und Anne Martin-Fugier (1950–) zählen in der großen "Geschichte des privaten Lebens" zu den Motiven damaliger bürgerlicher Kreise, sich gegen Gewalt in der Erziehung auszusprechen, dass das Erleiden physischer Gewalt eine Sache von Strafgefangenen und von anderem sozialem Abschaum sei – hier war nicht, jedenfalls noch nicht ausschließlich von einem "Kampf um Kinderrechte" die Rede: Der Bürger wollte sein Kind nicht geschlagen sehen, weil diese Praxis unter seinem sozialen Stand war, nicht zwingend unter der Würde des Kindes.
Wie ambivalent die spätere Zutat der personalen Würde des Kindes zunächst blieb, deutet ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 14. Oktober 1952 an: Gestapo-Beamte, angeklagt wegen Tötungs- und Körperverletzungsdelikten zum Nachteil vor allem polnischer Zwangsarbeiter, hatten zu ihrer Verteidigung angeführt, dass die auf Weisung des Reichssicherheitshauptamts ausgeführte Prügelstrafe nicht derart entwürdigend sein könne, wie von der Anklage behauptet, weil "zahlreiche Rechtsordnungen ein Züchtigungsrecht für Lehrer und Erzieher" anerkennten. Dieses Argument wies der BGH von sich, weil die an den Zwangsarbeitern vollzogene Prügelstrafe "bewusst den Menschenwert und die Menschenwürde der Opfer" verneint habe (BGH, Urt. v. 14.10.1952, Az. 1 StR 791/51).
Dass Kinder zu dieser Zeit in Schule und Familie nach wie vor gezüchtigt werden durften, wurde also nicht nur nicht als Verstoß gegen ihre Würde gesehen, es galt sogar als würdiges erzieherisches Verhalten, von dem sich die Gewalt gegen Zwangsarbeiter negativ abhob.
Wurzeln der Kinderkitschrhetorik
Diese Vorstellung der BGH-Richter des Jahres 1952 von kindlicher Würde dürfte heute vielen als schlicht pervers gelten – aber warum?
Wenn etwa die Bundesjustizministerin, die Sozialdemokratin Christine Lambrecht (1965–), in der Debatte zur Ergänzung des Grundgesetzes um Kinderrechte begründungs- und kontextfrei die Phrase anführt, Kinder dürften nicht als "kleine Erwachsene" betrachtet werden, dann ist die Erinnerung daran, dass einst die Interessen des von seiner Herrschaft geschlagenen Hausdieners durchaus identisch waren mit jenen des vom Lehrherrn misshandelten Lehrlings und des vom Vater gezüchtigten Kindes, vollständig von einem rhetorischen Amalgam verklebt, das die eigentlichen, ganz kreatürlichen und sozialen Aspekte der Sache überdeckt – also einen sozialen Stand zu erreichen, in dem man Gewalt nicht wehrlos ausgesetzt ist.
Eine recht tiefgehende Analyse, welche teils verheerende Funktion diese rhetorische Figur vom Kind als eines stets ohne jede Relativierung schutzbedürftigen Menschen unter anderem für den Rechtsstaat hat, legte die Feministin und Pädagogin Katharina Rutschky (1941–2010) in ihrem Aufsatz "Kinderkult und Kinderopfer. Protoreligiöse Aspekte des Kinderbildes der Gegenwart" vor ("Merkur" 1999, S. 953–966).
Rutschky wies – gewöhnungsbedürftig und polemisch – auf seltsame Parallelen zwischen der heiligen Familie der christlichen Tradition und heutigen Familienbildern hin: ein nur zum Unterhalt tauglicher Joseph, eine nur als Brutkörper erforderliche Mutter Maria und über allem: das angebetete Kind. Insbesondere legte die streitbare Feministin detailliert dar, wie es im Lauf des 20. Jahrhunderts dazu kam, dass sich die an den kreatürlichen Interessen von Menschen – z. B. Hausdienern, Lehrlingen, leiblichen Kindern – orientierte Perspektive hin zu einer Betrachtung von Kindern als tabuisiertem Gegenstand wandelte.
Ihre Beobachtungen enthalten etwa milden Spott über den langjährigen Justiz- und Außenminister Klaus Kinkel (1936–2019). Er hatte die Schirmherrschaft für einen Verein unter der Firma "Kinder sind tabu" übernommen, der sich als Geschäftsmodell eines Hochstaplers erwies. Rutschky sah im Kult ums Kind Bigotterie im Spiel, wenn allgemein akzeptierte Plattitüden seitens viel Geld akquirierender Medien-Prominenter "nun aber noch einmal als persönliches Bekenntnis, mutiges und selbstloses Engagement für die Schwächsten und Kleinsten öffentlich zelebriert werden − so, als habe vor Kinkels Verurteilung des Kindesmißbrauchs die Menschheit keine Ahnung von seinem verbrecherischen Gehalt gehabt". Die Redefigur vom unschuldigen Kind diene zudem dazu, ein stets härteres Sexualstrafrecht widerstandsfrei durchzusetzen.
Eine weitere Kostprobe: Religiös konservative Eltern würden mit verbrecherischen Sekten gleichgesetzt, weil sie "keine Kosten und Mühen" scheuten, um die Kinder "entsprechend ihren eigenen Ideen und Idealen zu erziehen − notfalls im Ausland. Kinderschützer machen daraus, solche Eltern würden das Recht der Kinder auf natürliche Entfaltung völlig mißachten, sie von klein auf in Ideologien zwingen, die sie unserer demokratischen Gesellschaft völlig entfremden."
Die Unicef hat den morgigen Weltkindertag unter das Motto "Kinderrechte jetzt!" gestellt. Wenn sich das als Kampf um klar definierte, in Gesetz und Haushaltsplan aufzunehmende Interessen erweisen sollte, ist dem jeder Erfolg zu wünschen.
Der rhetorische Kitsch aber, mit dem zuletzt etwa wieder die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz gefordert wurde, kann der klaren und nüchternen Betrachtung stets widerstreitender Interessen auch hier nur im Weg stehen.
Zum Weltkindertag am 20. September: . In: Legal Tribune Online, 19.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46050 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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