Im Sommer 1933 bauten die Nazis die Verfassung der ersten Republik sukzessive ab. Die Blaupause dafür war ein zehn Jahre alter "Notstandsverfassungsentwurf", der längst hätte bekannt sein müssen, erläutert Sebastian Felz.
Ab Februar 1933 baute das so genannte "Kabinett der nationalen Konzentration", ein Kabinett des gerade installierten Reichskanzlers Adolf Hitler ohne eigene Mehrheiten im Parlament, sukzessive die Weimarer Reichsverfassung und den Rechtsstaat ab. Die NS-Regierung nutzte dazu Notverordnungen, ein Ermächtigungsgesetz und verschiedene Gleichschaltungsrechtsakte.
Hitler hatte aus seinem Scheitern beim Putschversuch zehn Jahre zuvor gelernt. Schon 1926 schrieb er im zweiten Band seiner Programmschrift "Mein Kampf", dass "die nationalsozialistische Bewegung, die als Ziel ihres Wirkens den nationalsozialistischen völkischen Staat vor Augen hat", nicht daran zweifeln dürfe, dass "alle künftigen Institutionen dieses Staates dereinst aus der Bewegung selbst herauswachsen" müssten: "Man darf sich also nicht vorstellen, plötzlich aus einer Aktentasche die Entwürfe zu einer neuen Staatsverfassung ans Tageslicht [zu] ziehen und diese nun durch einen Machtspruch, von oben 'einführen' zu können."
Hitlers Ausführungen beziehen sich auf aktuelle Entwicklungen zur Zeit der Niederschrift. Sie führen aber darüber hinaus bis ins Jahr 1923 zurück.
"Verfassungsdiskussion" mit Hitler: Im Zweifel "befehlshaberische Entscheidung"
Im Sommer 1923 hatte Adolf Hitler den bayerischen Oberlandesgerichtsrat Theodor von der Pfordten in dessen Büro aufgesucht. Zusammen mit ihm und weiteren beriet Hitler seinerzeit den Entwurf einer Notverfassung. Maßgebend sei bei der Diskussion gewesen, so der damals ebenfalls anwesende Historiker Karl Alexander von Müller, dass die Grundsätze des nationalsozialistischen Parteiprogramms Eingang in die Überarbeitung fanden: "in Zweifelsfällen warf Hitler eine rasche, befehlshaberische Entscheidung hin."
Im November 1923 folgte der erste Putsch-Versuch von Hitler und Erich Ludendorff. Bei dem starb der von der Pfordten. In seiner Hosentasche trug er den Entwurf dieser Verfassung mit sich, samt dazugehöriger Standgerichtsordnung.
Dürftiger Untersuchungsausschussbericht zum Hitler-Putsch
Im Sommer 1924 setzte der bayerische Landtag einen Untersuchungsausschuss zur Klärung der Hintergründe des ersten Hitler-Putsches vom November 1923 ein. Initiiert war der Ausschuss durch Wilhelm Hoegner (SPD) und seine Fraktion. Erst vier Jahre später wurde ein dürftiger und schmaler Abschlussbericht vorgelegt. Die bayerische SPD publizierte Auszüge der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses, die auf Hoegners Votum beruhten, anonym unter dem Titel "Hitler und Kahr. Die bayerischen Napoleonsgrößen von 1923".
In diesem Buch findet sich auch der Verfassungsentwurf von Theodor von der Pfordten. Nach den Plänen der Putschisten sollte die Weimarer Reichsverfassung aufgehoben und alle Körperschaften aufgelöst werden. Eine Vielzahl von Delikten sollte mit der Todesstrafe bedroht sein. Schon nach dieser Notstandsverfassung war geplant, "alle Angehörigen des jüdischen Volkstums" in "Sammellager" zu überführen.
Konkret bestand der Entwurf aus 31 Paragrafen. Gemäß § 1 wurde die Weimarer Reichsverfassung aufgehoben und der Belagerungszustand verhängt (§ 9). Exekutive, Judikative und Legislative sollten auf einen so genannten "Verweser" – einen staatlichen Verwalter - übergehen und alle parlamentarischen Körperschaften waren aufgelöst (§§ 2 f.). Alle Gemeinden und Länder wurden nun von Amts- und Landesverwesern geführt. Amtsinhaber, die "ihre Berufung, Anstellung oder Beförderung einer Partei" verdankten wurden ebenso entlassen wie "unzuverlässige und unfähige" und "jüdische" Beamte (§ 4).
Die Landes- und Amtsverweser konnten den "öffentlichen Bedarf an Gütern, Geld usw. „durch Umlagen nach freiem Ermessen ausschreiben und zwangsweise beitreiben", so bestimmte es § 7. Des Weiteren konnten die Verweser "sicherheitsgefährliche Personen und unnütze Esser" in Sammellager zur Zwangsarbeit internieren (§ 16). Sie konnten Personen mit "Reichs- oder Landesacht" belegen, so dass diese keinen Rechtsschutz mehr genossen. Auch konnten sie Strafrahmen nach Gutdünken erhöhen und alle Akte der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung seit 1918 nachprüfen und ändern (§§ 26, 27 und 29).
Todesstrafe, Arisierungen und Standgerichte
Nahezu alle Grundrechte konnten "außerhalb der gesetzlichen Grenzen" beschränkt werden (§ 9 Abs. 2). Gemäß § 14 konnte das "gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen der Angehörigen des jüdischen Volks" beschlagnahmt werden. Gleiches galt für "Gewinne" aus Krieg und Umsturz. Wer sich diesen Enteignungen widersetzte, wurde mit der Todesstrafe bedroht (§ 15). Die Pressefreiheit ruhte. § 12 verbot alle Parteien und politische Vereine sowie die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände; Aussperrungen und Streiks wurden mit dem Tode bestraft.
In der "Notstandsverfassung" wurden "Tätlichkeiten" gegen die Verweser, Handlungen gegen "den Bestand der Staatsordnung" sowie die "bewusste Schädigung der Sicherheit und Wohlfahrt des Reiches und der Länder", "bewusste Bereicherung an der Not des Volkes", Geldfälschung, Mord, Raub, Vergewaltigung, gemeingefährliche Verbrechen (Brandstiftung, Explosionen usw.) mit dem Tod bestraft (§ 24). Alle diese Taten sollten standgerichtlich abgeurteilt werden. Die Tatbestände "Schädigung" und "Bereicherung" wurden rückwirkend ab dem 7. November 1918 in Kraft gesetzt. Die "Verfassung" von der Pfordtens enthielt über 20-mal die Androhung der Todesstrafe.
Der Jurist und Journalist Rudolf Olden schrieb in seiner im Jahr 1935 in Amsterdam erschienenen Hitler-Biographie über von der Pfordtens "erste nationalsozialistische Verfassung" treffend wie lakonisch, sie enthalte: "Tod, Tod, Tod…". Die sozialdemokratische Zeitung "Volksfreund" beschrieb sie im Dezember 1927 als das "blutrünstigste Dokument, das die politische Geschichte überhaupt kennt".
Das "blutrünstigste Dokument, das die politische Geschichte überhaupt kennt"
Viele NS-Regelungen ab 1933 beinhalteten also das, was 1923 schon "Verfassung" werden sollte – und das war auch lange bekannt.
Schon im Mai 1926 hatte die preußische Polizei aufgrund von Informationen über einen "Rechtsputsch" Verhaftungen und Durchsuchungen bei verschiedenen Protagonisten der rechtsextremen Szene durchgeführt. Allerdings leiteten die Ermittlungsbehörden nur gegen Heinrich Claß (Vorsitzender des rechtsextremen Alldeutschen Verbandes) wegen Vorbereitung zum Hochverrat in der Folge ein Strafverfahren ein. Die Eröffnung des Hauptverfahrens aber lehnte das Reichsgericht 1927 ab mit der Begründung, dass Claß eine konkrete Absicht, die verfassungsmäßige Ordnung auf illegalem Wege zu beseitigen, nicht nachzuweisen sei.
Dies verwundert, denn bei Claß wurde dessen Korrespondenz mit dem im holländischen Exil befindlichen Ex-Kaiser Wilhelm II sowie weiteren monarchistischen Zirkeln entdeckt, welche Reichspräsidenten Paul von Hindenburg für eine Diktatur gewinnen sollte. Darüber hinaus fand sich auch bei Claß die "Notverfassung".
"Nur ein bißchen Geschwätz"
Bis heute ist Theodor von der Pfordten einer der wenig bekannten Förderer der frühen NSDAP. 1919 wurde er Rat am Bayerischen Obersten Landesgericht und war Herausgeber der Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern. Er war ein Bekannter des bayerischen und späteren Reichsjustizministers Franz Gürtner. Von der Pfordten war auch Gutachter im Gnadenverfahren nach dem Prozess gegen den SPD-Politiker und Journalisten Felix Fechenbach. Fechenbach war u.a. nach Denunzierungen seiner geschiedenen Ehefrau wegen Landesverrats angeklagt und wegen der Veröffentlichung angeblich geheimhaltungsbedürftiger Dokumente zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Von der Pfordten hielt dies trotz der nach § 22 Pressegesetz eingetretenen Verjährung für richtig. Fechenbach wurde nach öffentlichem Druck 1924 begnadigt und 1933 von den Nazis ermordet.
Der zu der Zeit längst verstorbene und von den Nationalsozialisten als Märtyrer gefeierte von der Pfordten wurde hingegen ab 1933 geehrt. In diesem Jahr brachte der bayerische Justizminister und "Justizgleichschaltungskommissar" Hans Frank fünf Aufsätze von ihm ("Bürokrat und Streber" oder "Der weltgeschichtliche Sinn der völkischen Bewegung") in einem Sammelband heraus. 1937 folgte eine weitere Gedenkschrift für den "Heros des Rechts" und "heldenhaften deutschen Rechtswahrer". In der "Chronik der Bayerischen Justizverwaltung" hieß es: Bei den "Ereignissen" am 9. November [1923] sei "einer der Besten", "ein echter deutscher Mann" und kein "trockener Begriffsjurist" "einem tödlichen Schuss zum Opfer gefallen".
Bei so viel Unterstützung aus bayerischen Justizkreisen verwundert es nicht, dass der den Angeklagten im Prozess gegen Hitler und Co sehr zugeneigte Richter des bayerischen Volksgerichts, Georg Neithardt, dieses Dokument eines terroristischen Ausnahmezustandes für "nur ein bißchen Geschwätz" hielt und daher im Urteil auch nicht würdigte.
Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Referent in einem Bundesministerium (Bonn) und im Vorstand des Forums Justizgeschichte.
Todesstrafe und Standgericht: . In: Legal Tribune Online, 15.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51542 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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