Uwe Boysen: "Ich nehme Dinge anders wahr und urteile ohne Ansehen der Person"

Gil Eilin Jung

30.07.2010

Uwe Boysen ist Vorsitzender Richter am Bremer Landgericht und einer von rund 60 blinden Richtern, die in deutschen Gerichtssälen Recht sprechen. Boysen gewährte LTO-Autorin Gil Eilin Jung Einblicke in sein außergewöhnliches Arbeitsleben.

Uwe Boysen ist häufig einer der ersten, der morgens das Bremer Landgericht betritt. Um kurz nach 8 Uhr führt ihn sein Weg von der Straßenbahnstation Domsheide, wo er die Bahn verlässt, über das holprige Kopfsteinpflaster zu den Eingangsstufen des schmuckkästchenschönen Justiz-Gebäudes aus dem Jahr 1895. Er geht zwei Treppen hoch, vorbei am Bildnis der Justitia, über einen langen, säulenverzierten Korridor, bis er schließlich in sein Amtszimmer gelangt. Raum 141a, erster Stock, letzter Gang links.

Dass er so früh an seinem Arbeitsplatz erscheint, ist dem Umstand der - auch zeitlichen - Unabhängigkeit eines Richters geschuldet, wie Boysen später erklärt. Aber auch dem Umstand, dass morgens keine Hindernisse wie Aktenwagen im Weg stehen, über die der 62jährige Rechtsgelehrte stolpern könnte. Denn Uwe Boysen ist vollständig erblindet. Eine fatale Kombination aus grünem und grauem Star nahm dem Juristen im Alter von sechs Jahren sein Augenlicht.

"Ich habe Erinnerungen an Farben", erzählt Boysen in seinem Erkerzimmer am schlichten Konferenztisch, an dessen Ende sich Dokumente und Ordner stapeln. "Wenn Sie mir von Rot erzählen, verbinde ich damit eine Erinnerung an Leuchtschriften. Weiße Schwäne auf einem See sind auch noch präsent." Boysen trägt eine schmale, getönte Brille, die anders als viele Blindenbrillen nichts Trennendes oder Verbergendes hat, sondern die Illusion von Sichtkontakt vermittelt. "Ich sehe nicht dunkel", erläutert der Jurist, "auch nicht schwarz. Es ist einfach nichts da und macht auch keine Angst – ich bin kein ängstlicher Typ."

"Wir hatten immer das Gefühl, besser sein zu müssen als Sehende."

Boysen ist Volljurist und Diplom-Sozialwissenschaftler. Das Abitur machte der Sohn eines Justizbeamten am Kieler Landgericht an der Deutschen Blinden-Studienanstalt im hessischen Marburg, der einzigen Schule Westdeutschlands, die blinden Schülern das damals ermöglichte. "Meine Mutter ist mit mir nach Marburg gezogen. Mein Vater fand später einen Job am Bundesarbeitsgericht in Kassel – alles nur meinetwegen", erzählt Boysen. Jura studierte er schließlich "weil die beruflichen Chancen für Blinde in diesem Gebiet am erfolgversprechendsten waren und meine Mitschüler und ich darauf hin beraten wurden". Und: "Wir hatten immer das Gefühl, besser sein zu müssen als Sehende". Seinem Studium der Rechtswissenschaften (mit Abschlüssen "gut" und "voll befriedigend") in Marburg schloss Boysen ein Folgestudium der Sozialwissenschaften in Bremen an, "weil ich nicht nur wissen wollte, wie man Gesetze anwendet, sondern wie sie entstehen", wie er sagt.

Nach Boysens Auffassung war manches anders als bei sehenden Kollegen. "Wir blinden Jungs haben Fußball mit Glöckchenball gespielt und sind nach der Tanzschule in die Kneipe gegangen, anstatt die jungen Damen nach Hause zu begleiten." Auch beruflich gebe es bis heute Unterschiede, aber keine, die den üblichen Klischees entsprechen. "Ich hasse Plattitüden wie 'Er wandelt im Dunkeln' oder auch nett gemeinte Unterstellungen, wonach Blinde eine bessere Wahrnehmung hätten."

"Ich habe andere Antennen", sagt der Richter. "Dass die wirklich feiner sind als die anderer Menschen, das glaube ich nicht. Ich werde durch andere Faktoren beeinflusst – aber nicht beeinträchtigt. Und ich soll in meinem Amt natürlich urteilen ohne Ansehen der Person." Besser, sagt Boysen noch, sei seine Wahrnehmung nicht, "aber sicherlich anders als die sehender Kollegen".

"Zeugen besichtigt man nicht"

Dass blinde Richter wie er nicht Vorsitzende einer erstinstanzlichen Strafkammer beim Landgericht sein dürfen, empfindet Uwe Boysen als "tendenziell diskriminierend und unfair". Zeugen höre man an, sagt er, "aber man besichtigt sie nicht!" Blinde seien durch ihren Gehörsinn in der Lage, andere, nicht-visuelle Informationen auszuschöpfen, erklärt Boysen, der auch Vorsitzender des DVBS ist, dem Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf. "Wir haben sehr mit dem BGH gehadert, weil diese Entscheidung darauf basiert, einen Angeklagten ansehen können zu müssen, um ihn zu verstehen – das ist schlichtweg blödsinnig."

Boysen bestreitet nicht, dass es "reale Probleme" bei Prozessen oder Anhörungen gibt, etwa wenn Angeklagte Handzeichen machen, rot anlaufen, aufstehen und mit ihren Anwälten tuscheln, "Dinge, die ich dann nicht mitbekomme", wie er eingesteht.

Aber er hält dagegen, dass Aussagepsychologen dem DVBS bestätigten, "dass eine gute Aussage-Analyse viel wichtiger ist als optische Eindrücke. Konkret: Was sagt der Angeklagte, wo sind Brüche und Unstimmigkeiten". Wissenschaftlich nachweisbar seien visuelle Lügensignale ohnehin nur, wenn man einer Person unmittelbar gegenübersteht, sagt Boysen, "aber das tut man als Richter eh nicht".

"Ich kann sämtliche Akten und Tageszeitungen am Rechner lesen"

An diesem Tag sind es zwei Herren, die Boysen gegenübersitzen. Zwei Brüder in einer zivilrechtlichen Erbschaftsstreitigkeit. Es geht um 15.000 Euro, ein befreites Vorerbe, um Pflichtteile, verletzte Gefühle und eine nicht ganz geklärte Verjährung, die der eigentliche Streitpunkt zu sein scheint. "Unangenehm", urteilt Boysen im Vorfeld und ermahnt kurz darauf in schwarzer Robe, "eine Lösung zu finden, mit der Sie beide leben können, denn Sie sind Brüder – ob sie das nun wollen oder nicht."

Dass der Mann, der den Streithähnen ins Gewissen redet und nach nicht einmal 45 Minuten eine gütliche Einigung erzielt, blind ist, scheint den Kontrahenten und deren Anwälten erst am Schluss der Verhandlung aufzufallen. Hätte Boysen nicht seinen Laptop mit einer Lesezeile für Braille vor sich, wie die Blindenschrift heißt, statt einem Laptop mit Bildschirm, würde sein Handycap womöglich ganz übersehen werden.

Hilfen wie diese gehören zum beruflichen Alltag des Vaters zweier erwachsener Kinder dazu. Boysen steht eine Arbeitsplatz-Assistentin zur Seite ("sie ist fabelhaft, aber das sag’ ich ihr nicht so oft"), sein Braille-Notebook und ein PC mit synthetischer Sprachausgabe, der sämtliche Dossiers und Akten auswertet und vom Klang eher an "Star Wars" erinnert als an das Landgericht Bremen. Boysen amüsiert das, wie ihn vieles amüsiert. Etwa: "Mein Mobilitäts-Coach sagte mir beim Ampeltraining: Wenn du das Signal für Grün hörst, gehst du rüber, und wenn ich nicht mitkomme, dann weißt du, dass noch Rot war und du dich verhört hast."

Humor und Selbstironie scheinen seine herausragenden Eigenschaften, ebenso wie Durchhaltevermögen. "Ich kapituliere so schnell vor gar nichts", sagt Uwe Boysen, "Ich kann sämtliche Akten und Tageszeitungen am Rechner lesen, wo ich früher Vorleser brauchte, ich gehe mit meinen Referendaren auf Beck Online oder Juris, ich fahre Bahn, gehe alleine einkaufen. Das einzige, wo ich mich geschlagen gebe, sind überfüllte Bahnhofsvorplätze und PDF-Dateien – aber das ist schon alles."

Zitiervorschlag

Gil Eilin Jung, Uwe Boysen: . In: Legal Tribune Online, 30.07.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1098 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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