Er gehörte zu den ersten, die fürs Jurastudium in die USA reisten, ohne politischer Flüchtling aus Deutschland zu sein: Walter Otto Weyrauch. Obwohl er sogar für die NASA forschte, ist er heute kaum noch bekannt.
Es war ein schönes juristisches Argument, das im Jahr 1964 dazu beitrug, eine Kampagne gegen vermeintliche Kommunisten und Homosexuelle in Florida unmöglich zu machen.
Der vom Staatssenator Charley Johns (Demokrat, 1905–1990) zur Untersuchung insoweit befürchteter unamerikanischer Umtriebe geführte Ausschuss hatte die Verbreitung der Broschüre "Homosexuality and Citizenship in Florida" veranlasst. Gegen diese in hoher Auflage gedruckte, teils aufklärend, aber auch etwas voyeuristisch gestaltete Druckschrift zum Sexualstrafrecht wurde vorgebracht, dass ihr Bildmaterial obszön und damit vom Versand mit der US-Bundespost auszuschließen sei.
In einem ausführlichen biografischen Interview, das der deutsche und amerikanische Jurist Walter Otto Weyrauch (1919–2008) im März 1993 als Professor in Florida gab – übrigens ein nachahmenswertes Beispiel der "oral history"-Tradition – ist die Affäre nur ein lustiges Detail unter vielen.
Weyrauch, geboren in Lindau am Bodensee, hatte dank einer Erkrankung nur rund ein halbes Jahr als Soldat in der Wehrmacht dienen müssen. Das erlaubte ihm, sein Jurastudium in Frankfurt/Main zu Ende zu bringen – u. a. dazu, wie seine Professoren seinerzeit die Vermittlung des NS-Staatsrechts vermieden, gibt er kurz Auskunft.
Als Sohn eines früh verstorbenen Kunstmalers mit mehrfachem Migrationshintergrund – eine Großmutter war in Russland geborene Belgierin – hatte Weyrauch generell eine gesunde Distanz gegenüber dem, was er nach einem zweiten Jurastudium in den USA kritisch als deutsches Kirchturmdenken beschrieb. 1945 durch den Stillstand der deutschen Rechtspflege zunächst beschäftigungslos geworden, suchte er beispielsweise im Auftrag der US-Besatzungsmacht den Zugriff auf die Kartei, die von der Frankfurter Gestapo über ihre V-Leute geführt worden war. Sein Bericht zu den Gestapo-Spitzeln zählt zu den ersten, nicht juristischen, sondern soziologischen Studien zur Zusammensetzung dieser Personengruppe – von dem er 1993 mit feiner akademischer Ironie erklärte, er sei später von der DDR-Staatssicherheit evaluiert worden.
Persönliche Atlantikbrücken werden gebaut
Zunächst in der Kanzlei von Max Ludwig Cahn (1889–1967) mit Rechtsfragen von überlebenden Frankfurter Juden beschäftigt, dann in eigener Sozietät tätig, wurde Weyrauch 1950 erstmals als Experte für fünf Monate in die USA eingeladen, die seinerzeit die Liberalisierung der seit Jahrzehnten von dicht verwobenen Kartellen geprägten deutschen Volkswirtschaft in Gang bringen wollten – nicht zuletzt mit Blick auf deren Rolle in den vorangegangenen beiden Weltkriegen.
Zu seiner Überraschung erhielt Weyrauch, der nebenbei den Fragebogen für ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in den USA ausgefüllt hatte, 1952 ein Visum, das er nach Absprache mit seinen Frankfurter Sozii zunächst testweise nutzen wollte.
Einmal dort angekommen, studierte Weyrauch ein zweites Mal und erwarb nach dem Bachelor das juristische Berufsdoktorat, gefolgt von einer weiteren, wiederum soziologisch geprägten Arbeit: 1962 veröffentlichte die Yale University Press seine Studie "The Personality of Lawyers. A Comparative Study of Subjective Factors in Law, based on Interviews with German Lawyers". Im Rückblick erklärte Weyrauch 1993: "Im Wesentlichen behauptete ich, dass Juristen bestimmte Eigenschaften mit Menschen teilen, die Zwangsneurotiker sind, zum Beispiel zwanghafte Rituale durchführen und so weiter."
Gegen den Vorwurf, er bewege sich als Jurist mit solchen Aussagen auf einem psychologisch heiklen Terrain, unterstützte ihn erfolgreich der promovierte Psychiater Jacob Katz (1922–2008), der später zu den bekanntesten Kritikern der ethisch fragwürdigen Tuskegee-Syphilis-Studie an afroamerikanischen Bürgern zählte.
Weyrauch hatte nach einer in Ethnologie und Soziologie durchaus anerkannten Methode 70 deutsche Juristen frei assoziierend über ihren Beruf und ihre Weltsicht sprechen lassen und dabei das Bild einer weitgehend in Versorgungs- und anderem Kirchturmdenken gefangenen Profession gewonnen – was sich der große deutsch-amerikanische Zivilrechtslehrer Max Rheinstein (1899–1977) nur damit erklären mochte, dass Weyrauch ihnen nicht den einen oder anderen fachlichen Gesprächsimpuls gegeben hatte. Rheinstein, der 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft aus Deutschland exiliert war, hatte die Erfahrung gemacht, dass deutsche Juristen nach 1945 weniger über ihren Status als Opfer der Zeitumstände jammerten, sobald man sich ihnen fachlich als Kollege offenbarte.
Blick auf das Recht und jene, die es veranstalten
An der kleinen Rechtsschule der Universität von Florida – eine Berufung nach Stanford nahm Weyrauch nicht an, weil das Angebot zehn Tage später kam – wurde der an deutschen Juristen und Gestapo-V-Leuten erstmals erprobte soziologische Blick produktiv – im Rechtsunterricht zum strategischen Vorgehen bei Gericht.
Nicht nur Buchstabe und Auslegung des Gesetzes zu lehren, sondern auch die Einstellungen derer systematisch zu thematisieren, die es anzuwenden haben, ist zwar keine Erfindung Weyrauchs. Doch ohne das Zutun der europäischen Neulinge, der ungezählten deutschen, meist jüdischen Juristinnen und Juristen der Exiljahre oder auch des Nachkriegsemigranten Weyrauch, hätte sich diese Perspektive wohl schwerer getan.
Es wurden dabei nicht nur die Geschworenenbank oder der Spruchkörper des U.S. Supreme Court ihrer mehr oder weniger bloß unterstellten juristischen Erhabenheit entkleidet. Weyrauch konnte dank seiner Spezialisierung auf die strategische Analyse und Lehre juristischer Handlungspraxis auch noch einen Beitrag zum US-Raumfahrtprogramm leisten, der ungleich sympathischer war als die Geschichte des erst zum amerikanischen Helden umgearbeiteten Wernher von Braun (1912–1977).
Weil noch nicht absehbar war, wie weit die Weltraumreisen gehen sollten, wurden ab Dezember 1965 im Auftrag der NASA neun Freiwillige in einem Penthouse auf dem Gelände der Universität Berkeley isoliert, betreut von rund 30 wissenschaftlichen Mitarbeitern. Hauptziel war die Kontrolle der Nahrung – für den Aufbruch in die unendlichen Weiten ausreichend, aber sparsam im Gewicht. Weyrauch war für die Analyse der spontanen Bildung von Regeln, wenn nicht sogar von Recht, zwischen den abgesonderten Probanden zuständig ("Law in Isolation the Penthouse Astronauts").
Rechtsverhältnisse kleiner Völkerschaften und isolierter Gruppen
Für die NASA zu erforschen, welche Normen in einer isolierten Gruppe als verbindlich anerkannt oder ausgehandelt werden – das klingt ein wenig nach der popkulturellen Selbstvermarktung, mit der die amerikanischen Universitäten auf einem hart umkämpften Markt die begabtesten Köpfe auf ihren kostenpflichtigen Campus locken wollen.
Im biografischen Interview erzählte Weyrauch 1993 jedoch, dass sich gar kein anderer Jurist gefunden hatte. Auch fügt sich das Vorhaben in seine weitere Forschungstätigkeit zum informellen Rechtsleben kleiner oder isolierter Gruppen von Menschen ein.
In einem Überblicksartikel unter dem Titel "Unwritten Constitutions, Unwritten Law" aus dem Jahr 1999 ging er beispielsweise auf die grundlegenden Rechtsvorstellungen der aus dem britischen Kolonialreich zusammengekommenen Menschen auf der einsamen Atlantikinsel Tristan da Cunha ein – heute rund 240 Einwohner.
Von Bedeutung ist insbesondere Weyrauchs gemeinsam mit Maureen Anne Bell vorgelegte Darstellung des Romaniya, also der Verhaltensnormen, die in ciganiden Ethnien Europas und Nordamerikas – "Zigeunern", Gypises, Sinti oder Roma – als verbindlich gelten.
Während in Deutschland die staatlichen Rechtsquellen stets fest im Blick behalten werden und durch urwüchsig demokratische Übung anerkannte Nomen oft zum Gegenstand fremdenfeindlicher Rhetorik werden, galt Weyrauchs freundliches Interesse den normativen Bindungen aller isolierten Gruppen.
Selbst heute dürfte es sehr provokativ wirken, wollte jemand die im meist unbeobachteten Raum etablierten, womöglich über Generationen tradierten Normen beispielsweise einer ungarischen Roma-Gruppe mit jenen unter den rumänischen Vertragsarbeitern der Schlachthöfe von Rheda-Wiedenbrück und jenen der wissenschaftlichen Hilfskräfte des berühmten "3. Senats" beim Bundesverfassungsgericht auf Gemeinsamkeiten hin untersuchen.
Juristen und Ethnologinnen dürften in Deutschland doch eher zweisam in der Familienplanung als im wissenschaftlichen Interesse zusammenfinden.
Migrant erzählt US-Geschichte
Neben dieser provokativen Einladung an juristische Normwissenschaftler, einmal die ethnologische Brille aufzusetzen, lässt sich bei Walter Otto Weyrauch auch ein wenig Entspannung finden.
Als er in den 1950er Jahren in den USA ankam, stand nicht nur der Kulturkampf gegen die imaginierten Umtriebe von Kommunisten und Homosexuellen auf der Tagesordnung. Weyrauch erinnerte sich 1993 daran, dass diese Kampagne in Florida tragikomische Züge annahm, weil etliche konservative Gelehrte einen Karriereknick erlebten – natürlich nicht, weil sie als heimliche Kommunisten enttarnt wurden.
Mit allerlei Tricks, z. B. verschärfte Immatrikulationsregeln, habe sich, erzählt Weyrauch, die Universität von Florida auch gegen einen ersten afroamerikanischen Studenten zu wehren versucht. Weibliche Jurastudenten gab es zunächst nicht – die einzige Frau unter 300 jungen Männern wurde bei jeder Gelegenheit von einem Fußscharren ihrer Kommilitonen begleitet, einer wohl aus dem US-Strafvollzug entlehnten Verhaltensweise. Daraufhin ließ die Hochschule Teppich legen.
Fast allen schlecht behandelten Studierenden standen übrigens hervorragende Karrieren bevor.
Bekanntlich verkaufen sich apokalyptische Erzählungen von den USA heute wieder sehr gut. Bei Weyrauch liest man dagegen, wie diese respektable Republik seinerzeit – in deutlich härteren Konflikten – eine gute Entwicklung nahm.
Jurist mit ethnologischer Brille: . In: Legal Tribune Online, 16.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47214 (abgerufen am: 03.11.2024 )
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