Unternehmensbesteuerung: Ver­steckte Idee des Sozia­lismus

von Martin Rath

10.10.2021

Am 10. Oktober 1961 billigte das Bundesverfassungsgericht eine Gesellschaftsteuer, die im heutigen Zeitalter famoser Start-up-Finanzierungen fremd wirken muss. Hinter dem harmlosen Beschluss verbergen sich Untiefen deutscher Staatsfinanzen.

Die Sache betraf ausgerechnet einen Hersteller von Instrumenten, die zentral für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt gewesen waren: Die im badischen Lahr ansässige Firma Albert Nestler AG war auf die Fertigung von Rechenschiebern und Zeichenbrettern spezialisiert – Gerätschaften, ohne die Ingenieure weder große Eisenbahnnetze hätten planen noch die ersten Menschen in den Weltraum schicken können.

Anfang der 1950er Jahre erhielt die Aktiengesellschaft von ihrem "Unterstützungskasse der Albert Nestler AG e.V." ein Darlehen über 250.000 Deutsche Mark (DM).

Wegen dieses Darlehens der Unterstützungskasse an die Gesellschaft erhob das Finanzamt eine Gesellschaftsteuer in Höhe von 7.500 DM nach §§ 3 und 4 Kapitalverkehrsteuergesetz (KVStG).

Nach erfolglosem Einspruch setzte das Finanzgericht das Verfahren nach Artikel 100 Absatz 1 Grundgesetz (GG) aus, um das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) um Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von § 3 Abs. 1 KVStG in der Fassung des Jahres 1955 mit dem Grundgesetz zu ersuchen.

Streit um die Bestimmtheit von Steuergesetzen

Das Kapitalverkehrsteuergesetz unterwarf grundsätzlich den "Erwerb von Gesellschaftsrechten an einer inländischen Kapitalgesellschaft durch den ersten Erwerber" – vereinfacht gesagt – einer Gesellschaftsteuer von drei Prozent auf den Betrag, der der Gesellschaft zugeführt wurde, § 1 KVStG.

Nicht etwa ganz ausgesetzt, sondern nur auf 1,5 Prozent ermäßigt wurde die Gesellschaftssteuer, wenn die Überschuldung der Gesellschaft von ihren Inhabern aufgefangen oder ein Verlust des Grundkapitals gedeckt werden musste, § 9 KVStG.

Um eine Umgehung des zentralen Steuertatbestands zu unterbinden, unterlagen auch Darlehen von Gesellschaftern an die Kapitalgesellschaft der Steuer, "wenn die Darlehnsgewährung eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung … ersetzt" – so der im Verfahren vor dem BVerfG umstrittene § 3 Abs. 1 KVStG.

Im vorliegenden Fall war die Besteuerung des von der Unterstützungskasse an die Gesellschaft geleisteten Darlehens in besonderer Weise ungewiss, weil zwar eine weitgehende Identität der jeweils führenden Köpfe von Verein und Gesellschaft bestand, diese Männer das Darlehen aber doch nicht unmittelbar ihrer Firma zugeführt hatten.

Darüber hinaus sah man die Bestimmtheit der Vorschrift, § 3 KVStG, mit ihrer Formulierung einer "nach Sachlage gebotene(n) Kapitalzuführung" generell als zweifelhaft an – heutige Start-up-Jungunternehmer und ihre Business Angels können das nachempfinden. Sie kämen kaum aus den Fluren der Finanzämter fort, müssten sie diese Gebotenheit mit den Beamtinnen und Beamten ausdiskutieren.

Aber auch strebsamen, wirtschaftlich denkenden Menschen der 1950er Jahre leuchtete es nicht ohne Weiteres ein, dass sie es besteuern mussten, wenn sie ihrem Unternehmen Kapital zuführten.

In seinem Beschluss vom 10. Oktober 1961 machte das BVerfG jedoch nicht viel Federlesen um das ökonomisch nachvollziehbare Anliegen, die Substanz unternehmerischen Kapitals womöglich doch nicht versteuern zu müssen. Ein feiner Witz liegt darin, dass es dabei selbst auch soziologisch, ökonomisch argumentierte.

In rechtlicher Hinsicht argumentierten die Verfassungsrichter, dass sich Inhalt und Zweck der Regelung aus der älteren Rechtsprechung schon des Reichsfinanzhofs erklären ließen. War zunächst noch strittig gewesen, ob die Gesellschafter der Steuer entgehen konnten, wenn sie privatautonom ein Darlehen an ihr Unternehmen so ausgestalteten, dass es nicht als versteckte Kapitalerhöhung verstanden werden musste, hatte der Gesetzgeber des Jahres 1934 diese Freiheit, wie es seine Art war, durch eine objektivierende Regelung beseitigt.

Harmloser Teil der Gesellschaftsteuer: Berechenbarkeit war gegeben

Das BVerfG erinnerte zunächst an die von ihm gerade erst formulierten rechtsstaatlichen Grundsätze, wonach eine Norm, die eine Steuerpflicht begründet, "nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt" sein müsse, damit "die Steuerlast meßbar und in gewissem Umfang für den Steuerbürger voraussehbar und berechenbar wird".

Die strittige Formulierung einer "durch die Sachlage gebotene(n) Kapitalzuführung" sahen die Verfassungsrichter aber als hinreichend bestimmbar an: Je mehr das Darlehen zur Finanzierung des Anlage- nicht des Umlaufvermögens diene – ausgewiesen durch die Bilanz –, desto eindeutiger sei der Steuertatbestand gegeben, weil dann ein Investitions-, kein kurzfristiger Liquiditätsbedarf gedeckt werde. Steuerverwaltung und Finanzgerichte könnten also im Einzelfall hinreichend sicher ermitteln, ob ein Darlehen der Gesellschaftsteuer unterworfen sei.

Zur Absicherung dieses Arguments ließ sich das BVerfG von den Finanzministern und -senatoren der Länder sowie vom Finanzamt Freiburg vorrechnen, wie praktikabel das Gesetz sei, Weil, gemessen an der Zahl der Steuerfestsetzungen, die Beschwerden der Steuerbürger selten blieben, mochte das Gericht die Regelung als nicht weiter tragisch sehen – die Richter ließen im Zusammenhang mit der Frage, ob ein Gesetz hinreichend bestimmt ist, also statistisch rechnen. Ob sich die Geltung von Normen – auch – derart soziologisch begründen ließ, sollte dann in den 1970er Jahren ein heißes Streitthema zwischen konservativen und sozialwissenschaftlich aufmüpfigen Juristinnen und Juristen werden (BVerfG, Beschl. v. 10.10.1961, Az. 2 BvL 1/59).

Mehr als ein Kampf um Berechenbarkeit der Steuer

Den Verfassungsrichtern des Jahres 1961 wird bei diesem zarten Versuch, ihre Argumentation auch mit einem Blick auf die verwaltungssoziologische Praktikabilität der steuerrechtlichen Norm abzusichern, kaum bewusst gewesen sein, dass der historische Gesetzgeber das noch ganz ähnlich gesehen hatte.

Denn das in seiner Fassung aus dem Jahr 1934 und 1955 strittige Kapitalverkehrsteuergesetz ging auf die großen Reformen nicht nur des Steuerrechts, sondern auch der Finanzverwaltung zurück, die heute meist nur noch mit dem Namen des 1921 ermordeten Zentrums-Politikers Matthias Erzberger verbunden werden.

Eingeführt wurde die Kapitalverkehrsteuer zunächst durch das "Gesetz über Änderungen im Finanzwesen" vom 8. April 1922, das als sogenanntes Mantelgesetz eine ganze Reihe von neuen und geänderten steuerrechtlichen Regelungen etablierte – unter anderem ein Vermögensteuer- und ein Vermögenszuwachssteuergesetz.

In der Parlamentsdebatte um diese Gesetze führte Finanzminister Andreas Hermes (1878–1964), ein später im Widerstand gegen den NS-Staat wie die beginnende SED-Diktatur mutiger Zentrums-, dann CDU-Politiker, am 16. März 1922 fast ein wenig im soziologischen Geist der späteren Verfassungsrichter an, dass es bei der Einführung der Steuern gelte, Rücksicht auf die durch ihre neuartigen Veranlagungsarbeiten völlig ausgelasteten Finanzbeamten zu nehmen – denen neben der Gesellschafts- und der neuen Vermögensbesteuerung auch noch die Umsetzung einer großen Zwangsanleihe ins Haus stand.

Natürlich ging es 1922 nicht nur um Verwaltungssoziologie, sondern um ausgesprochen mehr, als man vielleicht glaubt.

Das Gesetzespaket, zu dem das Kapitalverkehrsteuergesetz 1922 zählte, diente zwar – wie man sich denken kann – dazu, die deutschen Staatsfinanzen mit Blick auf die Reparationsforderungen zu organisieren, die der Versailler Friedensvertrag aus dem Jahr 1919 mit sich brachte.

Eine so beschränkte Perspektive auf die Erfüllung dieser Forderungen blieb aber ein Anliegen der deutschnational-völkischen Fraktionen, etwa des Abgeordneten Karl Helfferich (1872–1924), dessen Argumentation sich im Paradoxen verirrte: ein zugleich schlanker wie autoritärer Staat sei die Lösung aller deutschen Probleme.

Finanzminister Hermes konnte hingegen auf die ersten, teils erfolgreichen Bemühungen hinweisen, die Siegermächte des Weltkriegs zu einer Perspektive zu bewegen, die dem gemeinsamen Anliegen aller europäischen Staaten dienen sollte, sich vom ungeheuren Krieg zu erholen. Bei einer Konferenz zu Reparationslasten im französischen Cannes sei es auch darum gegangen, überhaupt wissenschaftlich nachvollziehbare Maßstäbe für den Vergleich der Volkswirtschaften Europas, etwa für die Berechnung der Steuerlasten zu vereinbaren. Viel zu sehr, so hat es den Anschein, lassen sich Nachgeborene immer noch von der völkisch-deutschnationalen Polemik gefangen nehmen – denn wie sehr die junge Republik hier bemüht war, über ein wirtschaftswissenschaftliches "follow the science" zu einem gemeineuropäischen Ausgleich zu kommen, überrascht doch ein wenig.

Nicht genug damit, dass Hermes auch mit der Belastung des französischen Staats argumentierte, um die deutsche Steuerpolitik zu rechtfertigen. Der SPD-Abgeordnete Eduard Bernstein (1850–1932) führte die Debatte zur Unternehmensbesteuerung im Besonderen, zur Vermögensbesteuerung im Allgemeinen noch weit über diesen europapolitisch-fiskalorientierten Zusammenhang hinaus.

Zwar sei die Belastung von Vermögen auch eine Frage dessen, was seine heutigen Genossinnen sanftmütig "soziale Gerechtigkeit" nennen – beklagenswert sei die Belastung des Volks mit einer Umsatzsteuer von 2,5 Prozent –, doch zeichnete Bernstein den Gegensatz von Arbeit und Kapital in der Finanzierung des Staates schärfer.

Wenn heute etwa mit meist nur juristischem Sachverstand darüber diskutiert wird, Artikel 15 GG aus dem Museum des Verfassungsrechts zu exhumieren, bleibt die politische Ökonomie der Sache oft etwas blass – wie sie in starken Farben gezeichnet wird, lässt sich in der Rede Bernsteins vom 16. März 1922 nachlesen. Vermögens- und Unternehmensbesteuerung diente der sozialistischen Idee: Klar wird, woher das Geld für die Vergesellschaftung auch heute kommen müsste.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor in Ohligs.

Zitiervorschlag

Unternehmensbesteuerung: . In: Legal Tribune Online, 10.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46269 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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