Wie reagiert eine Gesellschaft, wenn Kinder als "verschollen" oder "geraubt" gelten? An die Stelle von rassistischem Vorurteil, archaischen Rechtsrudimenten und zynischer Inszenierung sollten Eigenwert und Würde des Kindes treten.
Im Herbst 2013 erregte anlässlich einer Razzia in der thessalischen Kleinstadt Farsala ein vierjähriges Mädchen die Aufmerksamkeit der griechischen Polizei. Wegen seiner blonden Haare, hellen Haut und blauen Augen passte es nach Auffassung der Beamten nicht zu seinen mutmaßlichen Eltern.
Die bald darauf in der internationalen Presse verbreiteten Polizeibilder zeigten ein schwergewichtiges, dunkelhaariges und dunkelhäutiges Ehepaar. Bei der Frage nach den Papieren für das Kind verstrickten sich der Mann und die Frau in Widersprüche. Ein DNA-Test erwies, dass sie nicht die leiblichen Eltern sein konnten.
Man sollte annehmen, dass es sich um einen zwar außergewöhnlichen, von einem Jugendamt jedoch professionell zu bearbeitenden Vorgang handelte. Im Fall der vierjährigen Maria trat jedoch die internationale Boulevard-Presse von Daily Mail bis Spiegel Online auf den Plan.
Grund dafür, in die Privatsphäre des Kindes einzubrechen, gab der Umstand, dass die Razzia in einer sogenannten Roma-Siedlung stattgefunden hatte und es sich bei den Zieheltern um Angehörige dieser nicht nur in den Balkanländern zwischen Österreich und Griechenland unwürdig behandelten, schikanierten ethnischen Minderheit handelte.
Liberale Historiker und Ethnologen wiesen 2013 zu Recht darauf hin, dass es zum festen Bestand christlich-abendländischer Wahnvorstellungen zählte, Juden zu unterstellen, fremde Kinder aus rituellen Gründen zu töten, während sogenannten Zigeunern vorgehalten werde, anderer Leute Nachwuchs in Bettelei und Prostitution zu verschleppen.
"Kinderraub" – ein archaischer Straftatbestand
Welche Motive die Zieheltern der damals Vierjährigen dazu brachten, das Kind zu sich zu nehmen, blieb am Ende jedenfalls öffentlich ungeklärt. Bulgarische Behörden gaben bekannt, dass auch die biologischen Eltern der Roma-Minderheit angehörten. In Betracht kam, dass – unter den Bedingungen der bürokratisch unzureichenden Balkan-Staaten – eine "Adoption ohne Papiere" stattgefunden hatte, das Kind also möglicherweise übergeben worden war, um es vor der materiellen Not seiner Herkunftsfamilie zu bewahren.
Dass es Boulevardpresse und Social Media im Jahr 2013 gelang, die europäische, ja internationale Aufmerksamkeit auf diesen Fall zu fokussieren, hatte indes wohl nicht ausschließlich mit zigeunerfeindlichen Traditionen zu tun, sondern auch mit einigen archaischen Aspekten des Strafrechts.
Der heute unter der Bezeichnung "Kindesentziehung" geführte Straftatbestand des § 235 Strafgesetzbuch (StGB), der mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bedroht, "wer
1. eine Person unter achtzehn Jahren mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List oder
2. ein Kind, ohne dessen Angehöriger zu sein" namentlich den Eltern oder dem berechtigten Elternteil "entzieht oder vorenthält",
wurde historisch unter dem merkwürdig anmutenden Begriff "Kinderraub" geführt.
Parallelen zwischen Kinderraub und Diebstahl
Man will hier nicht von Framing sprechen, doch ein Blick in den StGB-Kommentar des wegen der nach ihm benannten "Formeln" berühmten Reinhard Frank (1860–1934) zeigt, dass der vom Wortlaut ähnliche Tatbestand des "Kinderraubs" seine archaisch anmutende Bezeichnung mit Bedacht trug.
Während die Strafrechtswissenschaft und -praxis einig darüber sei, dass das "Entziehen" eines Kindes "in der tatsächlichen Lösung des elterlichen oder vormundschaftlichen Gewaltverhältnisses oder des Obhutsverhältnisses des Pflegers" beruhe, sei es, so Frank (1931), noch strittig, ob "zu dem Begriffe des Entziehens die Begründung eines andern Gewaltverhältnisses an die Stelle des gebrochenen gehört".
Es ist kein Zufall, dass diese Auslegung des "Entziehens" an den "Gewahrsamsbruch" im Straftatbestand des Diebstahls, § 242 StGB, erinnert. Auch das ältere deutsche Recht konzipierte die Beziehung zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern wie einen Eigentums- bzw. Besitztatbestand. Zwar verstand bereits das Preußische Allgemeine Landrecht (Teil II Titel 20 Abschnitt 13 §§ 1083–1088) den "Menschen-" bzw. "Kinderraub" als "Beleidigung der Freiheit", griff aber als typische Motive für den "Raub" den Wunsch an, das Kind "in einer andern Religion zu erziehn" (§ 1083) oder pönalisierte "Unbefugte gewaltsame Werber [für den Militärdienst, MR], Bettler und Bettlerinnen, welche Kinder stehlen, um sich deren zum Betteln zu bedienen" (§ 1088).
Die moderne Strafrechtsdogmatik sieht den Zweck des heutigen § 235 StGB nach wie vor darin, vorrangig das elterliche Sorgerecht zu schützen – wobei der Begriff des "Sorgerechts" seine besitz- und eigentumsrechtlichen Wurzeln nur kaschiert. Denn bis 1980 sprach das Gesetz noch von der "elterlichen Gewalt des Vaters und der Mutter". Bis heute knüpft der vormals ehrlich als "Kinderraub" bezeichnete Tatbestand also an einem possessiven, gewahrsamsähnlichen Konzept an, während mögliche körperliche oder seelische Schäden des Kindes als Qualifikationsmerkmale berücksichtigt werden.
Sonderstellung verschwundener Kinder im Verschollenheitsrecht
Wenn eine Mutter und/oder ein Vater daher in der Parallelwertung in der Laiensphäre der Vorstellung anhängt, das Recht schütze hier eine Art Eigentumstitel an dem Kind, liegt sie bzw. er damit gar nicht so falsch.
Dass sich vor diesem Hintergrund in gesellschaftlichen Krisenzeiten das alte rassistische Klischee von ethnischen Gruppen reaktivieren lässt, die als "Clan" oder anderweitiges Teufelskollektiv den Gewahrsam an fremden Kindern brechend durch die Lande ziehen, um eigenen an ihnen zu begründen, ist vielleicht noch die weniger befremdliche Beobachtung – es fragt sich auch, wie diese juristische Konstruktion mit Eigenwert und Würde des Kindes zu vereinbaren ist.
Es finden sich weitere Beispiele für merkwürdige Festlegungen des Gesetzgebers in Fragen verschwundener Kinder. Das Verschollenheitsgesetz (VerschG) regelt etwa, dass ein Mensch, dessen "Aufenthalt während längerer Zeit unbekannt ist, ohne daß Nachrichten darüber vorliegen, ob er in dieser Zeit noch gelebt hat oder gestorben ist, sofern nach den Umständen hierdurch ernstliche Zweifel an seinem Fortleben begründet werden" (§ 1 Abs. 1 VerschG) gegebenenfalls für tot erklärt werden kann.
Während das Gesetz den Zeitraum zwischen dem letzten Lebenszeichen und der Todeserklärung generell auf rund zehn Jahre, für mutmaßlich über 80 Jahre alte Menschen auf fünf Jahre festlegt (§ 3 Abs. 1 VerschG), wird für verschwundene Kinder und Jugendliche eine Ausnahme gemacht: Vor dem Ende des Jahres, in dem der Verschollene 25 Jahre alt geworden wäre, ist eine Todeserklärung nicht zulässig. Dass es dem Gesetzgeber dabei um die emotionale Verfassung verwaister Eltern ging, dürfte auszuschließen sein: Nach älterem Recht war die Todeserklärung eines ohne besondere Gefahrenumstände Verschollenen erst in dem Jahr zulässig, in dem er das 31. Lebensjahr vollendet hätte – der nationalsozialistische Gesetzgeber änderte die Frist des § 14 Abs. 1 BGB a.F. im Jahr 1939.
Diese Fristenwillkür ist befremdlich. Der mit dem Problem verschollener Mitmenschen biografisch selbst vertraute Berliner Anwalt Ernst Wolff (1877–1959) erklärte zu Recht, dass die "Wirkung des Sachverhalts 'Leben'" so stark sei, dass "sie sich samt ihren Rechtsfolgen jederzeit, und zwar möglichst rückwirkend durchsetzen" müsse. Auf diesen Sachverhalt setzt der Gesetzgeber bei unter 25-jährigen Verschollenen augenscheinlich nicht. Ob dies für das seelische Befinden der mutmaßlichen Hinterbliebenen gut ist, wäre zu überdenken.
Lange Verschollenheit des Etan Patz
Dass der 25. Mai als "Tag der vermissten Kinder" begangen wird, ist auf den Fall des seit diesem Tag des Jahres 1979 verschollenen Etan Kalil Patz zurückzuführen – und auf US-Präsident Ronald Reagan.
Es wird vermutet, dass der zum Zeitpunkt seines Verschwindens sechs Jahre alte Junge einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel – ein mutmaßlicher Mörder wurde am 18. April 2017 verurteilt, ohne dass Gewissheit über den Verbleib des Kindes herzustellen war.
Während das Recht des Staates New York eine Todeserklärung nach drei Jahren zulässt – das angelsächsische Recht wählt anderenorts oft eine biblische Frist von sieben Jahren –, erfolgte sie im Fall Patz erst 2001. Vorangegangen waren langjährige Bemühungen der Eltern, die New Yorker Ermittlungsbehörden zu immer neuen Untersuchungen zu bewegen.
Den Jahrestag des Verschwindens von Etan Patz (1981–1989) im Jahre 1984 rief US-Präsident Ronald Reagan (1911–2004) zum zunächst nationalen "Missing Children‘s Day" aus. Den Eltern bot dies zwar Gelegenheiten, Druck auf die gewählten Vertreter der New Yorker Justiz auszuüben. Mit Blick auf Reagan war dieser Akt jedoch von schwer zu überbietender Doppelmoral. In der Ära von Donald Trump wird Reagan zwar in Teilen der US-Öffentlichkeit beinah angehimmelt, doch markierte seine Amtszeit das Ende vieler sozialdemokratischer Ansätze seiner Vorgänger: Die liberale Phase des US-Strafrechts wurde etwa vom verstärkten "Krieg gegen die Drogen" abgelöst, der öffentliche Wohnungsbau radikal reduziert. Es hatte die erwartbaren Folgen. Am Ende der Reagan-Ära verkaufte die US-Unterhaltungsindustrie dann mit "Kevin – Allein zu Haus" das gegen kriminelle Obdachlose kämpfende Kind in einer sadistisch-komischen Heldenrolle.
Die böse Pointe, die optimistische Pointe? Statt eines Gedenktages, der das "Verschwinden" von Kindern sentimental als Drohpotenzial äußerer Kräfte stilisiert, sollten sowohl die Rechtsnormen als auch die zugehörige Dogmatik geprüft werden, ob sie systematisch Würde und Eigenwert des Kindes schützen – und nicht die possessiven Vorstellungen ihrer Eltern. Statt dämonischer Gefahren gehören verweigerte Umgangsrechte des Kindes mit Eltern und Großeltern in den Blick. Dass man dabei schauen sollte, was Politiker entscheiden, statt auf ihre Inszenierungen, versteht sich von selbst.
Zum Tag der vermissten Kinder: . In: Legal Tribune Online, 26.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35597 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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