Slapstick auf dem Friedhof als juristische Alternative: Monty Python vor dem Reichs­ge­richt

von Martin Rath

06.11.2011

Der Unterhaltungswert der deutschen Justiz ist eher gering – zu wenig Blut, Schweiß und tränenreiche Rhetorik. Gut, dass auch für die Justizbehörden Loriots berühmtes Wort gilt: "Früher war mehr Lametta!" Vor 100 Jahren beschäftigte das Reichsgericht ein Fall, der jeder Horrorfilmparodie gut zu Gesicht stünde. Auf ins Zeitalter der Reichsgerichtsräte mit Martin Rath.

Die Angaben des Reichsgerichts, übernommen aus dem Urteil einer Strafkammer des Amtsgerichts Grätz in Schlesien waren so präzise, man hätte damals einen Stummfilm danach drehen können. Der Anlass war, wie es heute in den Medien bei jedem Verkehrsunfall heißt, tragisch: "Der Rentner von P. hatte Selbstmord verübt. Seine Leiche sollte deshalb auf dem ungeweihten Teile des katholischen Kirchhofs 'am Zaun'" beerdigt werden.

Zum ungeweihten Boden des Friedhofs kam man über eine Abbiegung, an der es eng werden konnte. Der Verlauf des 30. April 1910, der Tag, an dem es dramatisch zuging, sollte sich an dieser Abbiegung kriminell zuspitzen. Die Angehörigen des "Rentners von P." hatten geltend gemacht, dass dieser "den Selbstmord in geistiger Umnachtung begangen habe, und deshalb vom erzbischöflichen Konsistorium in Posen die ausnahmsweise Genehmigung erhalten, die Leiche in geweihter Erde zu bestatten."

Dem ranghöchsten Geistlichen vor Ort war diese Genehmigung aus dem Amt seines bischöflichen Vorgesetzten aber nicht ganz geheuer. Zusammen mit einem zweiten Priester fuhr er darum nach Posen, um beim Bischof die Frage der "geistigen Umnachtung" des Suizidenten klären zu lassen. In der Zwischenzeit sollte der Totengräber die Bestattung in ungeweihter Erde vorbereiten.

Skandal um ein Grab in geweihtem Boden

Nachmittags um 4 Uhr ereilte den letzten vor Ort gebliebenen Geistlichen ein Anruf vom höchsten Verwaltungschef des Bischofs, dem Generalvikar, und er gab die Weisung gleich an den Totengräber weiter, ein Grab in geweihtem Boden zu schaufeln. Bis hierhin verlief die Geschichte unspektakulär, abgesehen vielleicht davon, dass die katholische Kirche damals offenbar keinen Priestermangel kannte.

Als nun der Trauerzug jenen Punkt erreichte – dramaturgisch interessant am Mittelkreuz des Friedhofs gelegen –, an dem sich der Weg gabelte, geradeaus zum Grab in ungeweihter, links zum Grab in geweihter Erde, schlossen sich die Reihen jener dort bereits versammelten Menschen, in den drehbuchreifen Worten des Reichsgerichts, "die sich absichtlich, ein Körper an den anderen und auch mehrere Reihen hintereinander fest hingestellt hatten und durch dieses Zusammenschließen den Durchgang des Leichenzuges verhinderten".

Die halbamtliche Sammlung von "Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen" (RGSt 45, 153-157) widmet dem weiteren Skandal eine ganze Seite. Die versammelten Menschen wichen den Sargträgern nicht aus dem Weg, als diese sie zu überzeugen versuchten, die Genehmigung des Bischofs liege vor. Vermutlich traute man dem technischen Spuk eines Telefonanrufs nicht, mit ihrer Autorität konnte die geballte Ortspriesterschaft ja nicht auftreten. Zwei der drei Pastoren waren derweil noch beim Bischof in Posen. Die Menschenmenge bedrängte den Trauerzug. Es fielen böse Worte: "An den Zaun mit ihm, wir lassen es nicht zu!" Ein später wegen Landfriedensbruchs Angeklagter sagte zu einem der Sargträger: "Wenn ich mich aufhänge, komme ich auch in den Winkel."

Körperliche Gewalt, wie sie wenige Jahre später in den populären Slapstick-Stummfilmen von Charlie Chaplin & Co. allgegenwärtig war, kam nicht ins Spiel. Filmreif dürften aber die drohenden Gesten gewesen sein, die Amts- und Reichsgericht dokumentierten.

Acht Teilnehmer an der Zusammenrottung auf dem Friedhof wurden wegen Landfriedensbruchs nach § 125 Abs. 1 Reichstrafgesetzbuch verurteilt. Das Reichsgericht hatte sich in der daraufhin eingelegten Revision mit der Frage zu befassen, ob strafbare "Gewalt" durch körperliche Krafteinwirkung ohne Körperkontakt ausgeübt wird oder ob hier der rein psychische Druck auf Sargträger und trauernde Verwandtschaft genügte (Urt. v. 30.06.1911, Az. IV 479/11).

Ist "Gewalt" das, was Nicht-Juristen darunter verstehen?

Wenn preußische Adelsfamilien im Jahr 1911 ihre acht- bis zehnjährigen Söhne in einer königlichen Kadettenschule abgaben, damit diese auf eine Offizierslaufbahn vorbereitet würden, zog man den Knaben dort zunächst alle eventuell noch verbliebenen Milchzähne. Ob das medizinisch sinnvoll ist, mag man anzweifeln. Ethnologen könnten darin ein Übergangsritual von der Wärme der Familie zum schulischen Drill erkennen.

Der Zahn, der bis heute angehenden Juristinnen und Juristen schon im ersten Semester gezogen wird, besteht in ihrem bisherigen Sprachverständnis. Sie treten in einen neuen Sozialverband über, indem sie zum Beispiel in strafrechtlichen Anfängerveranstaltungen lernen, dass eine "Waffe" nicht etwa – wie man das seit dem Cowboy-und-Indianer-Spiel seit Kindesbeinen kannte – irgendein Mordwerkzeug zum Schießen, Schneiden oder Stechen ist, sondern jedes beliebige "Werkzeug", mit dem einem anderen Menschen körperlicher Schaden zugefügt werden kann. Beliebt unter Professoren und Repetitoren ist hier der Damenschuh. Dem Begriff der "Gewalt" geht es unter Juristen ähnlich wie dem der "Waffe": Viele Menschen denken sich, dass "Gewalt" etwas mit körperlicher Kraft zu tun haben muss: Man schlägt sich, bedrängt sich, stößt und bewegt sich dabei.

Juristen können hingegen "Gewalt" auch dort erkennen, wo nur psychischer Druck ausgeübt wurde. Der Bundesgerichtshof (BGH), nach eigenem Verständnis der Nachfolger des Reichsgerichts, sollte insoweit im Jahr 1969 über einen studentischen Sitzstreik gegen die Fahrpreisgestaltung der Kölner Straßenbahnbetriebe urteilen: "Mit Gewalt nötigt, wer psychischen Zwang ausübt, indem er auf den Gleiskörper einer Schienenbahn tritt und dadurch den Wagenführer zum Anhalten zwingt."

In dieser über Jahrzehnte ebenso richtunggebenden wie umstrittenen Entscheidung zur "psychischen Gewaltausübung" vom 8. August 1969 (Az. 2 StR 171/69) nahmen die BGH-Richter zwar mehrmals Bezug auf das Urteil aus dem Jahr 1911, vermieden aber wohlweislich, dabei allzu sehr ins Detail zu gehen.

Denn das, was die Kollegen Reichsgerichtsräte damals über die slapsticktauglichen Vorgänge auf dem schlesischen Friedhof zu urteilen hatten, war viel zu skurril gewesen, um sich in einer seriösen BGH-Entscheidung in Zeiten des Studentenprotests wiederzufinden. Doch dazu gleich mehr.

Leipzig 1911 – humoristisch moderne Justiz

Denn vor dieser komischen Seite des höchsten deutschen Zivilgerichts, das zwischen 1879 und 1945 in Leipzig residierte, lohnt es sich, einige andere Kapitel im spannenden Werk "RGSt" Band 45 aufzuschlagen.  Die halbamtlichen Entscheidungssammlungen der höchsten deutschen Gerichte sind ja oft sehr reizvoll, wenn man sie als Prosatexte liest – also nicht nur auf der Suche nach juristisch verwertbaren Argumenten. Zum Geburtstag des BGH neu gelesen, boten die "Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen" und "in Zivilsachen" – die vor 60 Jahren mit ihrem jeweiligen "Band 1" erschienen, ein Panorama an Sex und Gewalt, inklusive zwischen den Zeilen mindestens passiv-aggressiv argumentierender Richter.

Unter den 1911 gefällten Entscheidungen der Strafsenate des Reichsgerichts finden sich, mit hinreichend bösem Blick gelesen, noch weitere merkwürdige Urteile. Beispielsweise erging am 5. Oktober 1911 ein Urteil des ersten Strafsenats (Az I 458/11), mit dem ein Verdikt des Landgerichts Zweibrücken kassiert wurde. Der Angeklagte hatte deutschen Untertanen eine Schiffsreise der "Niederländisch-Amerikanischen Dampfschiffahrtsgesellschaft" vermittelt. Das war nach Ansicht des königlich-bayerisches Gerichts strafbar. Erstens, weil die Schifffahrtsreisenden Auswanderer waren. Zweitens, weil dem Angeklagten angeblich die notwendige Genehmigung nach dem "Gesetz über das Auswanderungswesen" vom 9. Juni 1897 gefehlt hatte.

Zwischendeckauswanderer als Vorreiter des Tourismusrechts

Die Reichsgerichtsräte blickten tiefer ins Gesetz als ihre saarländischen Kollegen und stellten fest, dass die "Niederländisch-Amerikanische Dampfschiffahrtsgesellschaft" womöglich überhaupt nicht am damals florierenden Geschäft mit deutschen Auswanderern beteiligt war. Ihr – angeklagter – Reiseverkäufer fiel damit gar nicht unter das engmaschig gestrickte Gesetz von 1897.

Schaut man heute in dieses Gesetz, das die Verhältnisse deutscher Auswanderer nach Übersee regelte, entdeckt man viele strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Reisevertragsrecht, das als angeblich beispiellos modernes Verbraucherschutzrecht in den 1970er-Jahren ins Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen wurde.

Auch hübsch: Während obskure Bundestagsabgeordnete heutzutage davon fabulieren, dass die spanischen Baleareninseln zu einem "17. Bundesland" der Deutschlands taugten, plagten den als Impfgegner und Antisemit in den Reichstag gewählten Abgeordneten Dr. Paul Förster (verschwägert mit der berüchtigten Philosophenschwester Elisabeth Förster-Nietzsche) bei der Verabschiedung des kaiserlichen Verbraucherschutzgesetzes für Auswanderer ähnliche Gedanken: Der Strom der Deutschen ins Ausland möge so gelenkt werden, dass diese in der Ferne ihr "Deutschthum" erhalten könnten und ihre Verbindung in die Heimat nicht abrisse.

Gärten und Wettbewerbsföderalismus

Mit einer Entscheidung seines vierten Strafsenats vom 27. Oktober 1911 (Az. IV 760/11) lässt das Reichsgericht all jene Politiker komisch aussehen, die heute von einem "Wettbewerbsföderalismus" träumen. Es ging um die Frage, ob der Angeklagte vom Landgericht Rudolstadt zu Recht wegen schweren Diebstahls verurteilt worden war. Er hatte aus einem fremden Garten zwei "Stachelbeerstämmchen" entwendet.

Das ebenso obskure wie kleine Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt hatte, wie die anderen Territorien des Deutschen Reichs auch, landesherrliche Vorschriften über so genannte Forst- und Feldpolizei-Übertretungen. Diese gingen, in bestem deutschen Föderalismus, dem Strafrecht des Reiches ausnahmsweise vor. Eine Norm betraf, in geringen lokalen Abweichungen, den sogenannten "Feldfrevel". Die Aneignung fremder Botanik war demnach unter Umständen weniger anrüchig als der schnöde Diebstahl nach dem StGB des Reichs. Die Reichsgerichtsräte grübelten, nicht frei von Komik, aber im Ergebnis für den Angeklagten, über den Unterschied zwischen Stachelbeere und Stachelbeerpflanze sowie jenen zwischen Blume und Schnittblume.

Reichsrecht und Handyaufladerei

Und während man heute von Rechts wegen dazu tendiert, beispielsweise mit Arbeitnehmern eher freundlich umzuspringen, die ihr Mobiltelefon an der Steckdose ihres Dienstherren aufladen, obwohl ihnen dies nicht erlaubt wurde, verurteilte der erste Strafsenat des Reichsgerichts am 23. Oktober 1911 einen Schreinerssohn, der mit jener Elektrizität, die zum Betrieb einer Maschine vorgesehen war, eine Glühbirne zum Leuchten gebracht hatte, wegen "Stromentziehung".

Eine gewisse Fortschrittsfreundlichkeit war den Reichsgerichtsräten eigen. So mochten sie etwa dem damals modernen Flugapparat des Grafen Zeppelin keine juristischen Scherereien machen, selbst wenn der einmal beträchtlichen Schaden anrichtete. Mit Entzücken hätten sie wohl zur Kenntnis genommen, dass ein E-Book-Reader mit voller Datenladung ein wenig schwerer ist als ein Gerät ohne E-Bücherladung – wenn auch im unmessbaren Bereich. Die gebundenen Elektronen machen den Unterschied aus. Dann hätten sie vielleicht zu einer anderen Begründung für ihr Urteil (Az. I 523/11) gefunden: Weil der elektrische Strom zwar abgerechnet, aber für Beleuchtung (teuer) statt für Maschinenbetrieb (billig) genutzt worden war, mussten sie lange über das Wesen der Elektrizität grübeln, um zu einer Strafbarkeit wegen "Stromdiebstahls" zu kommen.

Laepple & Co. wurden keine deutschen Monty Pythons

Nachdem die Richter des BGH im Jahr 1969 über den studentischen Straßenbahnsitzstreik von Köln gerichtet hatten, bekam ihr Urteil – was der deutschen Tradition widerspricht – ausnahmsweise den Namen des Verfahrensbeteiligten. Man kennt es als "Laepple-Urteil". Dem rädelsführenden Studenten, dem später langjährigen CDU- und Tourismusfunktionär Klaus Laepple hat es nicht geschadet, dass sein Name immer wieder im Zusammenhang mit dem BGH-Urteil über Nötigung und Landfriedensbruch steht. Mit "Laepple" ließ der BGH den psychischen Druck, der etwa von einer Sitzblockade ausgeht, für den Straftatbestand der Nötigung genügen.

In den 1980er-Jahren wurde auf dieser Rechtsgrundlage viel Gewalt ausgeübt – von Sitzblockierern, die Sattelschlepper mit US-amerikanischen Rüstungsgütern nicht ungehindert in ihre Standorte fahren ließen oder sich in Wackersdorf dem Fortschritt der bayerischen Nuklearindustrie hinderlich zeigten.

Bei den Blockaden saßen auch zahllose Prominente und fühlten sich wichtig. Lange bevor Tränengas über öffentlichen Protestveranstaltungen liegt, weht längst eine kräftige Brise Narzissmus. Zu den Nationen, die ihre Narzisstinnen und Narzissten zweifellos zu produktiveren Beschäftigungsformen animieren als die deutsche, gehört Großbritannien. Nicht nur die Universitäten, sondern schon das höhere Schulwesen pflegt dort eine reiche Theatertradition. Die deutschen Studentenproteste der 1960er- und 1970er-Jahre brachten terroristische Banden auf der einen, CDU-angehörige Lobbyisten auf der anderen Seite hervor. Die Briten erfreuten sich derweil an Monty Python oder später an Black Adder.

BGH versagte in der Narzisstennachwuchsorientierung

Als der BGH 1969 "Laepple" judizierte, verschwiegen die Bundesrichter wohlweislich die obskuren Seiten des an sich einschlägigen Reichsgerichtsurteils aus dem Jahr 1911: Die Reichsgerichtsräte hatten den Protestierern auf dem schlesischen Friedhof attestiert, gegen die Sargträger "gewalttätig" gewesen zu sein – und zwar physisch! –, obwohl sie diese nicht körperlich angegriffen, sondern nur armefuchtelnd und schimpfend im Weg gestanden hatten.

Was wäre wohl geworden, hätte der BGH diese komische Konzeption des Reichsgerichts ausgiebig zitiert und höchstrichterlich aufgegriffen? Physische Gewalt, die ohne Körperkontakt ausgeübt wird, aber nicht bloß psychisch wirkt? Dazu die absurde Szene auf einem schlesischen Friedhof, wo sich der abergläubische Dorfpöbel mit Sargträgern zankt, während die Geistlichkeit mühsam mit der modernen Telekommunikation des Jahres 1911, also dem Fernsprechapparat, kämpft!

Wäre es damals wirklich möglich gewesen, dass sich auch deutsche Studenten mit krausem Hirninhalt komödiantisch in den Medienbetrieb trollen, statt bierernst Revolutionsträumereien nachzugehen – man könnte es dem BGH nur schwer verzeihen, das Urteil aus dem 43. Band der Reichsgerichtsentscheidungen nicht populär gemacht zu haben.

Wenigstens dienen juristische Begriffe wie "Gewalt" heute dem virtuellen Milchzahnziehen unter juristischen Erstsemestern. Dem will man den Wert auch nicht absprechen.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

 

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Slapstick auf dem Friedhof als juristische Alternative: . In: Legal Tribune Online, 06.11.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4729 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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