Darf der Einzelne töten, um den Staat zu "verteidigen"? Diese Frage beschäftigte in den 1920er-Jahren anlässlich der "Fememord-Prozesse" Rechtsprechung und Rechtsgelehrte, woran Sebastian Felz erinnert.
Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg bestimmte Art. 159 des Versailler Vertrages, dass die deutschen Streitkräfte "demobilgemacht und herabgesetzt" werden mussten. Es durfte 100.000 Soldaten im Heer geben und 15.000 Marinesoldaten. Luftstreitkräfte waren verboten. Dennoch gab es paramilitärische Organisationen wie die "Schwarze Reichswehr", die von der regulären Reichswehr unterstützt wurden. Diese illegalen Einheiten sollten unbedingt geheim gehalten werden. Drohte die (vermeintliche) Aufdeckung, kam es innerhalb der Organisation zu einer Art blutiger Selbstjustiz, den so genannten "Fememorden".
Der deutschnationale Strafverteidiger dieser Täter, Friedrich Grimm, definierte diese Selbstjustiz in einer Veröffentlichung euphemistisch als Notwehrakt, wenn bei der Tat "keinerlei Motive privater Natur, wie Eifersucht, Hass, Rohheit und dergl., vorliegen" und "die Tat vielmehr ausschließlich in der Auffassung begangen wurde, dass die Tötung zur Verhütung eines Verrates der geheim zu haltenden Einrichtung der Schwarzen Reichswehr im Interesse der Landesverteidigung notwendig sei".
"Verräter verfallen der Feme"
Den wahren – verbrecherischen – Charakter dieser Taten beschrieb Carl Martens, ein ehemaliges Mitglied der "Schwarzen Reichswehr" 1925 in einem Bericht in der "Weltbühne" wie folgt:
"Ohne Verfahren wird das Opfer bestraft. Wer verdächtig ist, ist schon verurteilt. Es kommt nicht auf die Berechtigung eines Verdachts oder die Vollendung des 'Verrates' an. Das persönliche Misstrauen eines Vorgesetzten, Gegensätze – oft privater Natur – genügen, um den Mordapparat in Bewegung zu setzen." Neulinge wurden mit der Drohung "Verräter verfallen der Feme" willkommen geheißen.
Ab 1928 kam ein Teil dieser Fememorde (teilweise wurde gegen Täter gar nicht erst ermittelt, teilweise waren sie flüchtig) innerhalb der "Schwarzen Reichswehr" vor Gericht. Strafverteidiger Grimm suchte dort nach kreativen Wegen, die Taten zu rechtfertigen.
Er argumentierte, die Täter hätten in Staatsnothilfe gehandelt. Es habe ein gegenwärtiger Angriff auf die Landesverteidigung durch die vermeintlichen Spione stattgefunden, der auch rechtswidrig war. Denn auch ein Verrat von Geheimnissen, nämlich die illegale Aufrüstung des Deutschen Reiches und damit ein Verstoß gegen den Friedensvertrag von Versailles, sei ein Landesverrat. Des Weiteren brachte der Rechtsanwalt vor, dass der Staat, der die "Schwarze Reichswehr" organisiere, in solche Taten einwillige.
Noch abenteuerlicher war Grimms Anleihe aus dem französischen Recht. Er versuchte, die Straffreiheit durch Ausschluss der strafrechtlichen Schuld mit der Rechtsfigur der "force majeure morale" aufgrund eines "patriotisme exagéré" zu begründen. Das Handeln aus Vaterlandsliebe könne eine solche "Zwangsvorstellung" werden, dass die Akteure sogar dann nicht belangt werden könnten, wenn sie auch eine rechtswidrige Tat begangen hätten.
Zwar zeigte das Schwurgericht Berlin viel Verständnis für die Angehörigen der "Schwarzen Reichswehr". Es konnte aber den fragwürdigen Verteidigungsargumenten Grimms nicht beipflichten und verurteilte den Angeklagten zu einer milden Strafe von drei Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe.
Reichsgericht: Staatsnothilfe denkbar
Im Mai 1929 entschied das Reichsgericht über die Revision in dieser Sache (Urt. v. 8.5.1929, Az. II 1368/28). Nach § 53 StGB, der dem heutigen § 32 StGB entspricht, war eine Handlung nicht strafbar, wenn "die Handlung durch Notwehr geboten" war, wobei § 53 Abs. 2 StGB definierte, dass Notwehr diejenige Verteidigung sei, "welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden".
Das Reichsgericht erweiterte das Tatbestandsmerkmal "anderen" über natürliche Personen hinaus. Es könne nicht angenommen werden, so das Reichsgericht, dass "der Gesetzgeber dem Bestand des Staates geringeren Schutz gewähren wollte als der Erhaltung sonstiger Rechtsgüter". Das Reichsgericht gab folgendes Beispiel für eine mögliche Anwendung der Staatsnothilfe: "Man denke an den Fall, dass ein Spion mit Gegenständen, deren Geheimhaltung im höchsten Interesse der Landesverteidigung liegt, im Begriffe ist, die Reichsgrenze zu überschreiten, und obrigkeitliche Hilfe nicht sofort zur Stelle ist".
In dem zu verhandelnden Fall lehnte das Reichsgericht ab, dass eine objektive Notstandslage vorgelegen habe, da es keine dafür Hinweise gebe, dass der Getötete ein Spion gewesen sei. Auch habe sich der Täter nicht in einem Irrtum über das tatsächliche Vorliegen eines Staatsnotstandes befunden: Der Täter habe den Bestand des Staates im Frühjahr 1923 nicht als bedroht gesehen.
Einige Wochen später kassierte das Reichsgericht eine weitere Entscheidung in Sachen "Fememord" (Urt. v. 3.4.1930, Az. III 1201/29). Der Senat monierte, dass das Schweriner Schwurgericht die "Gegenwärtigkeit" der Gefahr rechtsfehlerhaft angenommen hatte. Selbst wenn der Getötete ein Spion gewesen wäre, so sei spätestens mit der Festnahme dieser Angriff abgeschlossen und somit nicht mehr gegenwärtig gewesen. Das Gericht ließ deshalb offen, "ob der einzelne Staatsbürger uneingeschränkt berechtigt ist, unter Ausschaltung der an sich zum Schutze des Staates berufenen Organe, Notwehr zugunsten des Staates auszuüben."
Kritik der Verteidigungsakrobatik durch Gustav Radbruch
Die Verteidigungstheoreme in den Fememordprozessen riefen heftige Kritik hervor. Der ehemalige Reichsjustizminister und Heidelberger Jura-Professor Gustav Radbruch zerlegte im Sommer 1929 in der Zeitschrift "Die Justiz" die Rechtsfiguren Friedrich Grimms.
Der Tatirrtum in Bezug auf die Rechtswidrigkeit war für Radbruch eine Ungeheuerlichkeit. Er schrieb, dass es kein Einverständnis des Staates in den Gesetzesbruch geben könne. Die Rechtsfigur des "Handelns aus Vaterlandsliebe" lehnte Radbruch ebenfalls ab. Wenn die französische Strafrechtswissenschaft von einer "force majeure morale" spreche, dann meine sie im Gegensatz zu Grimms Annahme nicht einen moralisch unwiderstehlichen Zwang, sondern einen psychischen. Wenn Grimm seine Verteidigung auf einen "patriotisme exagéré" stütze, welcher die Schuldfähigkeit des Täters aufheben solle, dann führe dies zur "absoluten Versubjektivierung des Strafrechts". Notwehr oder Putativnotwehr, so Radbruch, seien überhaupt nicht anwendbar. Weder habe ein gegenwärtiger Angriff vorgelegen, da schon fraglich sei, ob eine illegale Einrichtung wie die "Schwarze Reichswehr" überhaupt notstandsfähig sei, noch sei die Tötung erforderlich gewesen.
Die Legalisierung des politischen Mordes?
Nochmals ätzte Radbruch kritisch gegen Grimm im Dezember 1929. Grimm habe, so Radbruch, seine Argumentation verändert. Mittlerweile sei das "Einverständnis der Staatsgewalt" als schuldausschließender Tatirrtum in Beziehung auf die Rechtswidrigkeit als Argumentationsfigur verschwunden; ebenso die frühere Annahme der Notwehr, der Putativnotwehr oder des Notwehrexzesses. Nun werde der "Staatsnotstand" als "übergesetzlicher Notstand" herausgestellt. Aber auch dieser komme hier überhaupt nicht zur Anwendung, da der Fememord nicht das einzige Mittel sei, so Radbruch.
Die Auffassung, dass der Bürger in vermeintlichen Notwehrfällen auch gegen den Willen der Staatsorgane handeln dürfe, eröffne die unerfreulichsten Perspektiven: "Man könnte mit Hilfe des so verstandenen übergesetzlichen Notstandes auch faschistische Aktivisten rechtfertigen, die es etwa unternähmen, den Staat aus dem permanenten Notstand seiner 'demoliberalen' Verfassung gewaltsam zu retten."
In der "Justiz" wandte sich Grimm gegen Radbruchs Artikel über Staatsnotwehr und Fememord. Grimm nutzte zwei Argumentationsmuster: Er betonte die Uneigennützigkeit der Femetäter und deren vaterländischen Charakter. Des Weiteren könnten die außergewöhnlichen Taten der Fememänner in außergewöhnlichen Zeiten mit Gesetzen für normale Zeiten nicht beurteilt werden.
Abschließend nahm Gustav Radbruch noch einmal Stellung. Er verwies auf Emil Julius Gumbels Materialsammlung ("Verräter verfallen der Feme") und widersprach der von Grimm den Fememördern unterstellten vaterländischen Gesinnung. Eine Vielzahl der Taten sei von solcher Rohheit geprägt, dass sie jedes weitere Motiv verdränge. Besonders die Argumentation, den "übergesetzlichen Notstand" in Anschlag zu bringen, verneint Radbruch. Denn die Güterabwägung müsste schließlich – neben anderen Voraussetzungen, wie beispielsweise der nicht vorliegenden "Gegenwärtigkeit" des Angriffs – gegen die Landesverteidigung und für das Leben des vermeintlichen Spions entschieden werden.
Zwar wurde 1927 noch die Einführung eines "Feme"-Tatbestandes (§ 176 des Strafgesetzbuchentwurfs) diskutiert, aber nicht mehr umgesetzt. Die meisten Femetäter wurden 1930 amnestiert und im "Dritten Reich" durch Roland Freisler zu "Helden der Nation" erklärt. Einige von ihnen, wie der SA-Sadist und spätere Polizeipräsident Breslaus, Edmund Heines, fielen schließlich selbst der "Staatsnotwehr" zum Opfer. Heines wurde von der SS am 30. Juni 1934 im Rahmen der Entmachtung der SA ("Röhm-Putsch") ermordet. Die Morde wurden durch ein "Gesetz" vom 3.7.1934, das nur aus einem Satz besteht, als "Maßnahmen der Staatsnotwehr" für "rechtens" erklärt. Diese Rechtsfigur wurde somit schließlich zur blutigen Pseudolegalisierung des nationalsozialistischen Staatsterrorismus.
Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Referent in einem Bundesministerium (Bonn) und Vorstandsmitglied des Vereins Forum Justizgeschichte e. V.
Tötungen in der "Schwarzen Reichswehr": . In: Legal Tribune Online, 25.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52072 (abgerufen am: 14.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag