Das "Schmutz- und Schundgesetz" von 1926: Sün­dige Lite­ratur aus der Unter­welt

von Martin Rath

18.12.2016

2/2: War Theodor Heuß wirklich ein Liberaler?

Der Gesetzgeber bewegte sich also im Jugendmedienschutz des Jahres 1926 auf bereits dogmatisch erschlossenem Gelände.

Über Wertungswidersprüche wie jenen, dass das Schutzalter für "Schmutz- und Schund-Literatur" bei 18 Jahren, jenes der gleich hoch pönalisierten Verbreitung von Pornografie bei 16 Jahren lag, mag man noch hinwegsehen – letztere war ja eigentlich altersübergreifend untersagt.

Nun kennen wir die Methode, ein weitgehend geregeltes Rechtsgebiet einfach noch einmal mit neuen und vagen Normen zu überschreiben, auch aus der Gegenwart. Wirklich schmerzhaft war allerdings die parlamentarische Auseinandersetzung, die in den Reichstagsprotokollen des Jahres 1926 dokumentiert ist.

Kam der verantwortliche Reichsinnenminister Wilhelm Külz (1875–1948) aus den Reihen der nach eigenem Verständnis liberalen "Deutschen Demokratischen Partei", war es Sache seines Parteifreundes Theodor Heuß (1884–1963), das Schmutz- und Schundgesetz gegen die Kritik von Seiten der SPD, der Kommunisten sowie aus den Kreisen von Künstlern und Journalisten  zu verteidigen.

"Eine Sozialpolitik der Seele"

Der Abgeordnete Heuß, zwischen 1949 und 1959 erster Bundespräsident, verteidigte das Verbot von Schmutz und Schund wortreich und pathetisch mit folgenden Argumenten.

Erstens: Was die Autoren von beispielsweise Heftchen-Romanen schrieben, sei keine Kunst und habe mit den Grundrechten der Verfassung nichts zu tun: "Wir wollen keine breite Soziologie der Kunst versuchen – aber: schreiben können und dürfen, was man will, pinseln können und dürfen, was man will – das Ergebnis ist noch lange keine Kunst. Die künstlerische Freiheit ist keine Funktion der bürgerlichen oder gar der staatsbürgerlichen Ordnung, sondern des eingeborenen Schöpfertums – sie hat mit Paragraphen eines Staatsgesetzes noch nie etwas zu tun gehabt, sondern bedeutet die ungebrochene Gestaltung des inneren Gesetzes des künstlerischen, des schöpferischen Menschen."

Zweitens: Der Kampf gegen den Schund sei kein konservatives, sondern ein von den "Sozialradikalen" der Jugendbewegung losgetretenes Anliegen. Als Kronzeugen benannte Theodor Heuß hier einen Hamburger Rechtsanwalt und Richter, Hermann Popert (1871–1932). Bekannt war Popert durch seinen Bestseller "Helmut Harringa", in dem ein blonder, blauäugiger Friesen-Held gegen Alkohol, vorehelichen Geschlechtsverkehr und die Mischung nordischer Hochwert- mit slawischen oder südländischen Minderwert-Rassen im grauslich urbanen Hamburg zu Felde zog.

Drittens: "Was und wen das Gesetz treffen soll, ist jene Literatur der Unterwelt, sind jene in der Schuljugend verbreiteten billigen und schlecht gedruckten Hefte, die durchaus nicht 'unsittlich' sind im landläufigen Sinne des Wortes, sondern durch ihre verlogene Phantasie, ihre sprachliche Minderwertigkeit, ihr falsches Heldentum, ihre gekünstelten Abenteuer eine ungesunde Trübung der Welterkenntnis und eine Verwirrung ethischer sowie auch geschmacklicher Werte in sich schließen. Wenn es nicht zu pathetisch oder zu sentimental klingt: es gibt nicht nur eine Sozialpolitik der Tarifverträge, sondern es gibt auch eine Sozialpolitik der Seele" (240. Sitzung des Reichstags vom 27.11.1926, S. 8233 C ff.). 

1953: Definition & Rechtsschutz nachgeliefert

Bereits acht Jahre nach seinem Inkrafttreten wurde das Schmutz-und Schundgesetz entbehrlich: Im NS-Staat durfte ohnehin nur publizieren, wer einer der sieben Kammern der "Reichskulturkammer" angehörte.

Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953 beseitigte zwei Defizite des 1926er-Gesetzes: § 1 Absatz 1 gab vor, dass "vor allem unsittliche sowie Verbrechen, Krieg und Rassenhaß verherrlichende Schriften" zu unterdrücken seien, als Regelbeispiele für "Schriften, die geeignet sind, Jugendliche sittlich zu gefährden".

Dem bildungsbürgerlichen Qualitätsverständnis wurde damit nicht mehr ganz allein zugemutet, eine Verbotspraxis zu begründen. Das Naserümpfen über "eskapistische" oder "triviale" Literatur ist gleichwohl bis heute eine berufstypische Geste des gehobenen Printfeuilletons geblieben.
Das zweite behobene Defizit: Nun war der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben. Damit hatte der Gesetzgeber von 1926 die Prüfstellen der Weimarer Republik noch nicht belästigen wollen.

Theodor Heuß würde wohl "Münster"-Tatort gucken

Was wurde daraufhin verboten? Vermutlich vieles, was zu Recht vergessen ist. Vielfach aber auch, was inzwischen wiederentdeckt wurde.

So wie beispielsweise Kriminalerzählungen, in denen es "keine Kritik des Verbrechens, keine Ergründung seiner Ursachen [gibt], keinen Tadel an der Polizei, nur eine harte und kalte, sehr detailgenaue Darstellung nicht endender Kämpfe, Tricks und Finessen mit den Ingredienzien: Sex, Geldgier, Browning, Smith & Wesson. Fast immer fühlt sich ein Akteur verfolgt und ist es auch meist, verfolgt von Polizeispitzeln, konkurrierenden Banden, exzentrischen Mädchen oder allen zugleich", wie Christoph Schmitz-Scholemann die unterdrückten Werke der "Schund-Autoren" wie etwa Werner Serner (1889–1942) beschrieb (NJW 1989, S. 356–359).

Das Verbot, die "Schundlisten" selbst als Mittel der Literatursuche zu verbreiten, ist seit 1935 aufgehoben. Vielleicht sollte man das als Einladung verstehen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Das "Schmutz- und Schundgesetz" von 1926: . In: Legal Tribune Online, 18.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21496 (abgerufen am: 18.11.2024 )

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