Schluss der Debatte mit zwei Buchstaben: "Das ist hM und kann nicht ange­zwei­felt werden"

von Martin Rath

23.10.2011

In der Jura-Ausbildung gilt sie als potenzieller Auslöser für akademisches Naserümpfen, aus der Praxis ist sie nicht wegzudenken – die "herrschende Meinung". Selbst wenn es kaum noch wilde Revoluzzer gibt, die sie als "Meinung der Herrschenden" aus der Welt schaffen wollen, auch seriöse Juristen mögen die "hM" nicht – unverdient, meint Martin Rath, nicht ganz ironiefrei.

Dem Reichskammergericht war auch zur Vermeidung von "h.M."-Bildung die Veröffentlichung seiner Urteile verboten. Um den Richtern und anderen interessierten Juristen trotzdem Orientierung über die höchstrichterliche Rechtsprechung zu geben, kursierten zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert inoffizielle Entscheidungssammlungen. Urteilssammlungen, wie sie Juristen heute kennen, kamen in Deutschland erst im 19. Jahrhundert auf. Bis dahin war es schwer, eine detaillierte "h.M." zu entwickeln.

Auch verboten Gesetzgeber immer wieder die Veröffentlichung von Kommentaren. Einer der letzten Herrscher, dem dieses juristenfeindliche Treiben nachgesagt wird, war Napoleon I. beim Inkrafftreten des Code Civil. Motiv dürfte dabei nicht allein die Geltungssucht des schöpferischen Potentaten gewesen sein. Man stellte sich vielmehr vor, dass zwischen den Buchstaben des Gesetzes und den Richter, der einen Fall zu entscheiden hatte, kein mehr oder weniger interessengeleiteter Kommentar treten sollte. Die sprichwörtliche Geschmeidigkeit des Juristenstandes, sie war Herrschern und moralischen Untertanen stets unsympathisch.

Zwischen die Lösung eines Falls und den Buchstaben des Gesetzes schieben sich heute viele Regalmeter juristischer Literatur. Studenten der Rechtswissenschaften lernen hierzulande vor allem, fiktive Fälle mit Hilfe von Kommentaren, Aufsätzen und Monografien argumentativ zu lösen. Eine juristische Argumentation endet mit einer Antwort auf die Frage, wer Recht hat. Andere Wissenschaften fragen nach Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitswerten, die Jurisprudenz unterscheidet "Recht/Unrecht".

Bei Gericht arbeitende Juristen kürzen ihre Argumentation gelegentlich mit dem Gedanken an eine "herrschende Meinung" ab oder frieren ihren Gedankengang ein. Aus Kommentaren und Gerichtsentscheidungen ergibt sich, wie wohl eine Mehrheit von Juristen den Fall lösen würde, die "herrschende Meinung" eben. Eine ausführliche Diskussion über alle denkbaren dogmatischen Aspekte erübrigt sich dann. Studenten ist dieser Weg versperrt, wie Arne Pilniok in einem Aufsatz für den Nachwuchs schreibt: "'h.M.' ist kein Argument – Überlegungen zum rechtswissenschaftlichen Argumentieren für Studierende in den Anfangssemestern" (JuS 2009, Seiten 394-397).

Während der Hamburger Juniorprofessor für öffentliches Recht und juristische Didaktik belegt, dass es einer rechtwissenschaftlichen Arbeit unwürdig ist, sich auf die "h.M." zu berufen, beklagen ältere Gelehrte wie Bernd Rüthers, dass das Jurastudium längst zu einer großen Einpaukerei der jeweils "herrschenden Meinung" missraten sei. Zur Frage, ob Rüthers damit richtig liegt, äußerte sich hier jüngst der Passauer Professor Urs Kramer.

Ehrwürdige Geschichte der "h.M."

Pragmatisch denkende Studierende trainieren es – wenn die Beobachtung nicht täuscht – in der Regel, mit möglichst wenig dogmatischem Begründungsaufwand die jeweilige "h.M" in ihren Arbeiten "nachzubauen". Das mag auf den ersten Blick etwas rückgratlos wirken und zum schlechten Ruf der "h.M." beitragen.

Doch ist die "h.M." keine Ausgeburt einer Massenuniversität, die ihren Studenten die Liebe zum dogmatischen Detail nicht zu vermitteln versteht. Denn dazu hat sie eine viel zu lange rechtshistorische Ahnenreihe.

Schon die alten Römer waren juristisch viel zu produktiv für die späteren Zeiten, in denen der Rechtsanwender bestenfalls eine Art Lanzerlatein sprach. Vor den Toren des Imperiums mit seiner elaborierten Juristerei hockten die Vandalen. Hinter den Mauern kamen Juristen ins Grübeln, welche Rechtstexte man ins finstre Mittelalter mitnehmen wollte, das den Vandalen bekanntlich auf dem Fuße folgen sollte. Den römischen Kaisern Theodosius und Valentian wird es zugeschrieben, im Jahr 429 n. Chr. einen frühen Vorläufer der heutigen "h.M." erfunden zu haben: Ihr so genanntes Zitiergesetz traf eine Auswahl unter den längst verstorbenen juristischen Autoritäten, die in Zukunft als verbindlich anzusehen seien.

Diesem Vorbild folgten spätere Herrscher, die natürlich jeweils andere "Meinungsapparate" zu verbindlichem Recht erklärten. So erging im Jahr 1613 das Gesetz eines Herzogs mit dem schwungvollen Namen Francesco Maria II. della Rovere, der für sein italienisches Herzogtümchen die Norminterpretationen beziehungsweise -kreationen des angesehenen mittelalterlichen Rechtsgelehrten Bartolus de Sacoferrato zur "h.M." erklärte: Nicht nur, dass Prozesse für ungültig erklärt werden konnten, wenn die Parteien sich nicht nach Maßgabe des Bartolus stritten – dem Richter und den Anwälten drohte gar bei "h.M."-Ignoranz der Verlust ihrer Ämter.

Zu Ehren kam die "h.M." später durch ein Gesetz, das die Südafrikanische Republik am 5. Mai 1859 erließ. Die niederländischen Siedler, deren Staat im Burenkrieg von 1899-1902 dem britischen Imperium einverleibt werden sollte, hatten ein "römisch-holländisches" Recht ins südliche Afrika mitgebracht. Normative Gültigkeit sollten von 1859 an die Lehrbücher der Juraprofessoren Joannes van der Linden, Simon van Leeuwen und des berühmten Hugo Grotius haben.

Sogar ohne Anwendungsbefehl des Gesetzgebers kam zur gleichen Zeit in deutschen Landen Bernhard Windscheids großes systematisches Lehrbuch des "Pandektenrechts" auf jeden gut sortierten Richtertisch. Dieser wissenschaftlichen Arbeit wurde bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahr 1900 vielerorts normative Verbindlichkeit zugebilligt – auch hier eine funktionale Ähnlichkeit zur "h.M.", wenn man so will.

Von der offiziellen Unbeliebtheit der "h.M."

Gut 200 Jahre nach dem Tod des genialen niederländischen Juristen Hugo Grotius wurde also seine akademische Interpretation des römischen Rechts zur verbindlichen "h.M." der burischen Justiz. Man sollte denken, heutige Juraprofessoren würden ihren Ehrgeiz darauf setzen, so geniale Lehrbücher zu schreiben, dass Richter von New York über Berlin bis Beijing und Novosibirsk ihre Entscheidungen begeistert auf eine "h.M." stützen können, die sie diesen Werken entnähmen.

Stattdessen stößt die "h.M.", wenn sie – was selten genug geschieht – als eigenständiges rechtswisssenschaftliches Problem behandelt wird, überwiegend auf Ablehnung. Im inzwischen eingestellten linken Zeitgeistmagazin "Kursbuch" schrieb etwa der Berliner Zivilrechtsprofessor Uwe Wesel 1979 eine lange nachwirkende Kritik an der "h.M.". Wesel sprach von ihrer Anonymität. Dass der "h.M." faktisch eine normative Funktion innewohnt, ohne dass diese Kraft demokratisch legitimiert sei, weckte bei Wesel verfassungsrechtlichen Argwohn.

Gegen die Allmacht der "h.M." wurden seinerzeit zwei Strategien formuliert. Beide sind leider weitgehend vergessen. Zum einen versuchte man, eine "Gegenöffentlichkeit" zu formen. Autoren rund um den Braunschweiger OLG-Präsidenten Rudolf Wassermann (1925-2008) mühten sich, mit ihren "Alternativkommentaren" die dogmatisch eng geführte "h.M." der hergebrachten Kommentarliteratur von Palandt und Co. mit praller Erkenntnislust zu konfrontieren. Der SPIEGEL widmete dem 1981 sogar eine ausführliche Geschichte - nicht zuletzt, weil am "Alternativkommentar" zum Strafvollzugsgesetz ein leibhaftiger Strafgefangener mitschreiben durfte.

Zum anderen begab sich mit Rita Zimmermann 1982/83 endlich eine Doktorandin daran, über "Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts" (Berlin, Duncker & Humblot 1983) zu promovieren – soweit man weiß, die erste größere Monographie zur deutschen "h.M." überhaupt. Zimmermann schlug vor, der fehlenden demokratischen Legitimation von "h.M." durch ein Stufenmodell beizukommen. Wenn es um "wesentliche, politische und insbesondere grundrechtsrelevante Fragen" gehe, solle die Anwendung von "h.M." verboten sein. Erlaubt, aber nicht geboten sei "h.M." dort, wo "Konkretisierungs- und Abgrenzungsfragen" ein Bedürfnis nach Rechtssicherheit hinterließen, das durch "die bereits vorhandene Normdichte" nicht befriedigt werde. Geboten sei die Bildung und Verwertung von "h.M." schließlich dort, wo ein überragendes Bedürfnis nach Rechtssicherheit bestehe, ohne dass die genannten grundrechtsrelevanten Fragen angeschnitten seien.

So leicht wird man "h.M." nicht los

Gegen Uwe Wesels und Rita Zimmermanns Kritik, dass die "h.M." im Grundgesetz so wenig wie in jeder seriösen Rechtsquellenlehre vorkommt, formulierte Thomas Drosdeck in seiner Frankfurter Dissertation von 1988, "Die herrschende Meinung – Autorität als Rechtsquelle" einen äußerst naheliegenden Einwand. Was würden Juristen wohl tun, so könnte man im Anschluss an Drosdeck fragen, wenn sie etwa eine "h.M." in Zimmermanns Stufenmodell einsortierten müssten – je nachdem, ob die "h.M." mehr oder weniger grundrechtsrelevant ist? Ganz einfach: Sie müssten für diese Einteilung selbst wieder eine "h.M." entwickeln.

Die "h.M." funktioniert offenbar viel zu gut, als dass man sie loswerden könnte. Worin "h.M." gut funktioniert, hatte Rita Zimmermann schon beschrieben: Die "h.M." gibt Lösungshinweise, wie die Gerichte und die Mehrheit der juristischen Wissenschaft wohl entscheiden würden. Eine Änderung der "h.M." wird in nächster Zukunft nicht zu erwarten sein. Schließlich ist eine "h.M." in der Lage, Kontroversen über die Auslegung der Gesetze selbst dort zu beenden, wo sich der Gesetzgeber undeutlich ausgedrückt hat.

Insgesamt kommt der "h.M." also erhebliche Orientierungskraft zu, sie leistet damit ihren Beitrag zur Rechtssicherheit. Als Thomas Drosdeck 1988 promovierte, wurden erste Entscheidungssammlungen elektronisch greifbar. Er zog daraus den Schluss, dass sich die Autorität der "h.M." in Zukunft leichter würde untergraben lassen, weil Präjudizien und abweichende Literatur leichter aufzufinden seien.

"h.M." bald kulturdenkmalschutzwürdig?

Seit dieser ersten quantitativen Untersuchung zur "h.M." sollte es eigentlich fast unmöglich geworden sein, eine "h.M." ohne hinreichenden empirischen Beleg zu formulieren.  Die damals benutzte Datenbank umfasste – aus heutiger Sicht – bescheidene 250.000 Rechtsprechungsdokumente, in denen sich für den Zeitraum von 1951 bis 1986 prima facie auch nur 920 Urteile mit der ausdrücklichen Berufung auf die "h.M." fanden. Dem Landgericht Coburg genügte damals - als Beispiel dafür, was sich Richter forsch leisten konnten – im Jahr 1977 allein ein Blick in den "Palandt", um die markige Rechtserkenntnis zu finden: "Das ist hM und kann nicht angezweifelt werden."

Ob bald 25 Jahre nach der ersten elektronischen Auswertung einer auf "hM" gestützten Rechtsprechung, einige hunderttausend digitalisierte Rechtsdokumente und einige zehntausend Klapprechner auf Anwaltsschößen weiter, ein Gericht sich noch argumentativ noch so einfältig äußern dürfte?

Würden Gerichte hier wegen elektronischer Transparenzanforderungen tatsächlich vorsichtiger werden, müssten wir die "h.M." nicht nur aus Gründen der Ironielust wohl bald unter intellektuellen Denkmalschutz stellen. Denn an der Produktion einer "h.M." beteiligt zu sein, sollte zu den akademischen Initiationsritualen junger Juristinnen und Juristen zählen. Sie stünden damit nicht allein. Dem mündlichen Examen der Juristen können Ethnologen beispielsweise unschwer Züge eines Übergangsrituals ablesen: Ein Mensch wird aus seiner Herkunftsgruppe herausgelöst, durchlebt eine für Außenstehende unerklärliche Phase mit Ängsten, in der er höheren, als willkürlich erlebten Mächten ausgeliefert ist und wird hernach in eine neue Gruppe aufgenommen. Anders bilden so genannte Naturvölker ihren Führungsnachwuchs auch nicht aus.

Die Produktion einer "h.M." kann zu den ähnlich archaischen Mechanismen der juristischen Kultur gehören, wenn sie dazu dient, etwas eigentlich Verbotenes zu tun. Eigentlich verpönt sind beispielsweise "finale Subsumtionen". Wilhelm Scheuerle gab dazu ein Beispiel (Archiv für civilistische Praxis 167 [1967], Seiten 305-349):

Ein mittelalterliches Kloster steht vor einem juristischen Problem. Die Fürstin des Landes hat sich zum Besuch angekündigt. Das Kloster beherbergt nur Männer, ihre Ordentsregel verbietet es den Mönchen, einer Frau zu erlauben, die Schwelle der Klostertür zu überschreiten. Der Abt des Klosters weiß aber: Wenn wir die Fürstin nicht hereinlassen, wird die Lage für uns heikel. Ein junger, rechtskundiger Mönch findet die Lösung in Form einer finalen Subsumtion und eines Auslegungstricks: Man könne die Herzogin über die Schwelle heben, sie würde damit nicht überschritten werden (trickreich enge Wortlautinterpretation). Außerdem sei die Herzogin in ihrer Funktion als Landesherr von Rechts wegen als Mann anzusehen (finale Subsumtion).

In verzweifelter Lage brächte derlei wohl auch das trägste Gehirn des denksportuntauglichsten Juristen heutiger Zeit zustande, zöge wegen der windigen Norminterpretation aber schnell kollegiale Kritik auf sich. Es sei denn, es gelänge, die Auslegungstricks als Dogma im juristischen System zu verankern. Die verankerungswürdige Rechtserkenntnis könnte lauten: Es ist eine im Vordringen befindliche "h.M.", dass das rechtlich relevante Geschlecht eines Menschen nicht durch Biologie, sondern durch soziale Zwecksetzungen zu ermitteln ist.

Logisch ist das nicht, aber mit genügend sozialem Klebstoff der Qualität "h.M." ließe sich damit heute sogar die geplante Quotenregelung für Konzernvorstände aushebeln: Josef Ackermann? Von Rechts wegen Frau ehrenhalber! In einem angenehm stramm examinierten Juristenstand hieße es dann:

"Das ist hM und kann nicht angezweifelt werden."

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

 

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Schluss der Debatte mit zwei Buchstaben: . In: Legal Tribune Online, 23.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4625 (abgerufen am: 12.11.2024 )

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