Ursula Krechels "Landgericht": Rückkehr ins Exil

von Dr. Markus Sehl

20.10.2012

Ein Portrait des abgründigen Nachkriegsdeutschlands gewinnt dieses Jahr den Deutschen Buchpreis. Mit dem Roman "Landgericht" erzählt Ursula Krechel die Geschichte eines jüdischen Richters, der 1947 aus Kuba nach Deutschland zurückkehrt. Zurück in ein zweites Exil, eine brüchige Welt des Verdrängens, die ihm fremd bleibt. Markus Sehl über das Erinnern und Vergessen im Recht.

"Er hatte von den Zerstörungen der Städte in Deutschland gelesen, von Trümmerwüsten, von Feuerstürmen. In dieser Stadt sah er kein einziges zerstörtes Haus, nicht einmal ein Dachziegel schien von einem Dach gefallen zu sein."

Als Richard Kornitzer im Sommer 1947 aus Kuba in das scheinbar unversehrte Bodenseepanorama um Lindau zurückkehrt, beginnt für ihn die Zeit in einem zweiten Exil. Der jüdische Richter aus Berlin kommt als displaced person in das Nachkriegsdeutschland und muss von nun an darum kämpfen, seine bürgerliche Existenz wiederaufzubauen. Hinter der brüchigen Fassade einer die Ärmel hochkrempelnden Bundesrepublik sitzt das unheimlich Abgründige in Gerichtskammern, Behördenzimmern und Nachbargärten.

Portrait der deutschen Nachkriegsgesellschaft

Mit ihrem Roman "Landgericht" gewinnt Ursula Krechel den Deutschen Buchpreis 2012. Die 64-jährige promovierte Germanistin aus Trier arbeitete zunächst als Dramaturgin und veröffentlichte Lyrik. Erst 2008 erschien ihr Debütroman "Shanghai fern von wo". Krechel erzählt darin von den Tausenden jüdischen Menschen, für die Shanghai der letzte Zufluchtsort vor dem ausbrechenden Zweiten Weltkrieg ist.

Mit ihrem jetzt vorgelegten zweiten Roman schlägt sie die Brücke vom Vorabend des Zweiten Weltkriegs zu einem Portrait der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Dieser Zusammenhang zwischen den beiden Werken ist kein Zufall.

Bei den jahrelangen Recherchen und Materialsammlungen zu ihrem Debüt stieß sie auf einen jungen, jüdischen Richter aus Berlin. Sie war beeindruckt von dessen schneidender Sprache und begann, nachzuforschen. Schließlich entdeckte sie seine Personalakte im Landesarchiv Rheinland-Pfalz. Darin Atteste, Beurteilungen und dienstliche Verfehlungen. "Die Geschichte habe ich nicht gesucht, ich habe sie gefunden", sagt die Schriftstellerin.

Vier Zeilen zwischen Bilderbuchkarriere und Entlassung

Richard Kornitzer hat hervorragende juristische Examina und bereits promoviert, da ist er gerade mal 23 Jahre alt. Er hat beste Beurteilungen seines Vorgesetzten erhalten und steht kurz vor dem Eintritt in eine Bilderbuchlaufbahn als Richter am Landgericht Berlin. Dann beendet ein Brief mit nur vier Zeilen all seine Hoffnungen. Kornitzer wird aufgrund des § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums fristlos ohne Pension und Gehalt entlassen.

Auf seiner Flucht 1939 muss Kornitzer seine Frau in Deutschland zurücklassen, seine Kinder werden vor dem Kriegsausbruch zu einer Pflegefamilie nach England geschickt.

1941 wird ihm die Staatsbürgerschaft entzogen, der Richter ist von nun an staatenlos. Auf Kuba arbeitet er in einer Kanzlei und lernt Spanisch. Zurück in Deutschland muss er mit der Hilfsorganisation Englisch sprechen und mit der Militärverwaltung in Süddeutschland Französisch. Noch fremder ist dem gebürtigen Preußen das Alemannisch auf den Straßen am Bodensee. Kornitzer spricht nicht mehr, als er unbedingt muss. Er schreibt.

Verstörend bis floskelhaft

Briefe, Anträge und Beschwerden. Immer wieder sind im Text offizielle Dokumente oder Zeitungsausschnitte eingefügt. Krechel gelingt es damit, eine bedrohlich echte Atmosphäre herzustellen, die für den Leser die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation eindrucksvoll verwischt.

Zwar hat der nüchterne, knarzige Originalton der Anträge und Empfangsbestätigungen etwas zutiefst Verstörendes. Das literarische Erzählen in der Lücke zwischen den Fragmenten hält diese Stimmung aber nicht immer durch. Zu oft dümpelt die Sprache im Floskelhaften zwischen "sein Herz ausschütten" und "eigene schmerzhafte Erfahrungen machen." Der Figur des wenn auch überzeugten Juristen Kornitzer nimmt man es trotzdem nicht ab, dass er auch noch im Bett nach einem Streit mit seiner Frau an eine "innere Verfassungsbeschwerde gegen sich selbst" denkt.

Viele Bilder sind hier zu einfach und werden dem Anspruch der Autorin nicht gerecht, eine durchdringende Ortsbegehung im Nachkriegsdeutschland vorzulegen.

Kornitzer muss nach seiner Rückkehr sehr schnell erfahren, dass kein geographischer Ort in Deutschland vom Krieg unversehrt geblieben ist. Vor allem die Menschen, die er trifft, sind innerlich schwer beschädigt. Sie hadern mit dem eigenen Verdrängen und Vergessen. Sein Optimismus, in der jungen Bundesrepublik etwas mitgestalten zu können, schlägt immer wieder um in Fassungslosigkeit und Verzweifelung.

Das Erinnern und Vergessen im Recht

Krechel sagt, sie will mit ihren Romanen "Menschen Denkmäler setzen" gegen das Vergessen.

"Dem Recht wohnt beides inne: Das Erinnern und das Vergessen", dieses Zitat von Bernhard Schlink (Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, Suhrkamp, 2002) steht an einer Schlüsselstelle im Roman. Es bleibt offen, wie Kornitzer Anfang der 1950er Jahre an diesen Ausspruch geraten soll. Aber er beschreibt den Konflikt zwischen Gerechtigkeitsanspruch und Rückwirkungsverbot in einem noch jungen Rechtsstaat.

Ganz oben in der Personalakte aus dem Landesarchiv fand Krechel einen Brief des Sohns des Richters, dessen Hinterlassenschaft Grundlage ihres Romans war. Der Richter soll in eine geplante Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Emigranten aufgenommen werden. Die Antwort des Sohns an die Redaktion bleibt knapp. Er schreibt zurück, dass er die Lebensdaten seines Vaters nicht bestätigen kann. Die Enzyklopädie erscheint ohne den Namen des jüdischen Richters aus Berlin.

Zitiervorschlag

Markus Sehl, Ursula Krechels "Landgericht": . In: Legal Tribune Online, 20.10.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7350 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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