Ein aktueller Dokumentarfilm zeigt, wie US-Bundesstaaten das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den Vereinigten Staaten torpedieren. Arne Koltermann zum Streit über "Roe vs. Wade" – ein Urteil, das sogar Supreme-Court-Richter macht.
Die hitzige Debatte um die Missbrauchsvorwürfe gegen den am 06. Oktober zum Obersten Bundesrichter ernannten Brett Kavanaugh haben ein Thema in den Hintergrund gedrängt, welches sonst die Nominierungen der Supreme-Court-Richter der vergangenen Jahre bestimmt hat: Das Urteil "Roe vs. Wade", in welchem der Supreme Court 1973 ein Recht auf Abtreibung feststellte.
Immer wenn ein US-Präsident in den vergangenen Jahrzehnten einen Richter für den Supreme Court nominiert hat, stellten die Senatoren dem von ihrem Plazet abhängigen Kandidaten die Gretchenfrage: Wie stehen sie zu Roe vs. Wade? Das Urteil des Supreme Court aus dem Jahr 1973, das aus dem 14. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung ein Recht der Frau auf einen Schwangerschaftsabbruch bis zum Zeitpunkt der Lebensfähigkeit des Fötus ableitet, ist zum Menetekel für Abtreibungsgegner geworden. Die Befürworter des Rechts auf Abtreibung fürchten dagegen seit Jahren, dass das Urteil zurückgenommen werden könnte.
So versprach Präsident Donald Trump während seiner Wahlkampagne, Richter zu nominieren, die Roe vs. Wade aufheben würden. Und bereits heute torpedieren Staaten wie Kansas das Urteil faktisch durch rechtliche Auflagen, wie die Netflix-Dokumentation "Selbstbestimmung ./. Politik – Abtreibung in den USA" veranschaulicht. Der Film begleitet die Frauenärztin Colleen McNicholas, die jährlich tausende Kilometer durch Amerika fliegt, um Schwangerschaftsabbrüche dort vorzunehmen, wo Bundesstaaten dies zu unterbinden versuchen. Der Film hört Aktivisten beider Seiten zu und zeichnet die Nachwirkungen des Urteils nach. Doch wie kam es zur berühmtesten Entscheidung der jüngeren amerikanischen Rechtsgeschichte?
Vor der Entscheidung: Abtreibung nur in besonderen Fällen
Die junge zweifache Mutter Norma McCorvey war Ende der Sechzigerjahre ungewollt zum dritten Mal schwanger. Sie sah sich außerstande, für ein weiteres Kind zu sorgen. Der Bundesstaat Texas, in dem McCorvey lebte, stellte Abtreibungen unabhängig vom Zeitpunkt unter Strafe, sofern die Schwangerschaft nicht aus einer Vergewaltigung resultierte, einem Inzest entsprang oder das Leben der Frau in Gefahr brachte. McCorvey gab daher an, Opfer eines Übergriffs geworden zu sein, nahm dies aber später zurück. Um sie nicht öffentlich bloßzustellen, reichten ihre Anwältinnen Linda Coffee und Sarah Weddington ihre Klage gegen den Bezirksstaatsanwalt von Dallas County, Henry Wade, im Namen von "Jane Roe" ein – angelehnt an das männliche Pseudonym John Doe. Bereits das texanische Bezirksgericht entschied zu ihren Gunsten.
Wer Roe vs. Wade heute liest, dem fällt die ausführliche Behandlung der Abtreibungsgeschichte ins Auge. Schon in der Antike nahmen Ärzte Abbrüche vor. Der Eid des Hippokrates untersagte dies, fand aber erst mit Ausbreitung des Christentums Beachtung. Das für die damals junge USA maßgebliche britische Common Law kannte kein allgemeines Verbot. Im Laufe des 19. Jahrhundert schließlich untersagten die ersten amerikanischen Bundesstaaten Abtreibungen. Allerdings waren vor der Etablierung antiseptischer Operationsmethoden Abtreibungen - wie auch andere Eingriffe - mit einem hohen Risiko für die Frau verbunden. Das Verbot ließ sich neben dem Schutz ungeborenen Lebens also auch mit dem Schutz der Mutter begründen. Heute gehören fachgerechte Abbrüche zu den sichersten medizinischen Eingriffen.
Auslegung oder Wortlaut?
Der Supreme Court kam in seiner Entscheidung sodann zu dem Schluss: Ein aus dem 14. Zusatzartikel abgeleitetes Recht auf Privatsphäre, im deutschen Recht vermutlich dem garantierten Selbstbestimmungsrecht am nächsten, gibt der Frau das Recht, eine Schwangerschaft während der ersten drei Monate abzubrechen. Von diesem Zeitpunkt bis zur Lebensfähigkeit des Fötus – die man 1973 mit der 28. Woche annahm, aber heute schon ab der 24. Woche bejaht – sei es den Bundesstaaten möglich, Art und Weise des Abbruchs zum Schutz der Gesundheit der Schwangeren zu regulieren. Ab der Lebensfähigkeit des Fötus sei es auch möglich, eine Abtreibung zu verbieten.
Zum Vergleich: Das deutsche Bundesverfassungsgerich befand dagegen zwei Jahre nach Roe vs. Wade: "Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden" (BVerfG, Urt. v. 25.02.1975, Az. 1 BvF 1/74). Es verwarf damit die 1974 eingeführte Fristenlösung, ließ es dem Gesetzgeber aber offen, einen Abbruch unter bestimmten, im Schutz der Frau gründenden Umständen straffrei zu stellen. Ein ausdrückliches Recht, die Schwangerschaft abzubrechen, erkannte es nicht an.
Die Frage, wie weit der US Supreme Court nun die Kompetenzen der amerikanischen Bundesstaaten, in deren Hand – anders als in Deutschland – das Strafrecht liegt, begrenzen darf, verschmilzt mit einem Konflikt, der nichts zu tun hat mit dem Schutz ungeborenen Lebens: jenem der Originalisten ("Was haben sich die Gründerväter beim Schreiben der Artikel gedacht?") gegen die Verfechter einer lebenden, atmenden Verfassung, die zeitgemäß auszulegen sei.
Deren von der Richtermehrheit in Roe vs. Wade angewandte Lehre vom "substantial due process" erkennt an, dass es fundamentale, aber ungeschriebene Rechte gibt, die dem Zugriff der Gesetzgebung entzogen sind.
Originalisten wie der in den Achtzigern von Ronald Reagan berufene und 2016 verstorbene Richter Antonin Scalia wandten dagegen stets ein, in der Verfassung finde sich nichts über Abtreibung, auch nichts über Privatsphäre. Es gebe entsprechend keine fundamentalen Rechte, welche die Verfassung nicht nennt oder die nicht "in der amerikanischen Geschichte tief verwurzelt" seien. Alles andere stehe somit unter dem Demokratievorbehalt und könne entsprechend beschränk werden. Eine ironische Volte dieser vermeintlich konservativen Ansicht ist dabei, dass sie das Recht unberechenbar macht und auch in Kernfragen ständigem Wandel unterzieht.
"Pro Life" dominiert die öffentliche Debatte
Der Supreme Court hat die Möglichkeiten der Bundesstaaten Anfang der Neunziger in "Planned Parenthood vs. Casey" gestärkt. Es ist ihnen seither gestattet, die Entscheidungsfindung der Frauen durch Auflagen zu beeinflussen, die keine "unzumutbare Belastung" darstellen, also in etwa vergleichbar mit der in Deutschland geltenden Beratungspflicht mit dreitägiger Bedenkzeit. Aber auch die Konfrontation mit dem Ultraschall des Ungeborenen wird der Schwangeren in den USA zugemutet.
Die Abtreibungsfrage, das zeigt "Reversing Roe", war in den USA dabei nicht immer so umkämpft wie heute. Präsident Ronald Reagan unterzeichnete in den Sechzigern als kalifornischer Gouverneur ein liberales Abtreibungsgesetz. Sowohl George Bush Senior als auch Donald Trump haben sich einst "Pro Choice" positioniert. Inzwischen haben es aber die evangelikal geprägten, sogenannten Pro-Lifer geschafft, dass nur noch sich zu ihnen Bekennende Aussichten haben, für die Republikaner Ämter zu bekleiden. Sie verteilen vor Kliniken Fotobroschüren mit abgetriebenen Föten und arbeiten sowohl mit schwarzer Pädagogik als auch mit hierzulande eher der Linken zugeschriebenen Mitteln zivilen Ungehorsams, wie etwa dem Anketten (zum Beispiel an Krankenhausbetten). Einige Aktivisten schrecken auch vor Morden wie dem am Arzt George Tiller nicht zurück, der regelmäßig Abtreibungen vornahm. Ein "March for Life" brachte in den vergangenen Jahren bis zu 650.000 Menschen auf die Straßen von Washington D.C.
Abtreibungsgegner sind dabei nicht immer religiös motiviert: So bestrafte beispielsweise das sozialistische Rumänien in den Achtzigerjahren Abbrüche, um die Bevölkerungszahl zu steigern. Der spätere demokratische Vorwahlkandidat Jesse Jackson prangerte Abtreibungen noch den Siebzigern als Genozid an der schwarzen Community an. Eine stabile Mehrheit der Amerikaner möchte Roe vs. Wade indes nicht aufgehoben sehen.
In Deutschland erfahren die hier als Lebensschützer auftretenden Aktivisten weniger Aufmerksamkeit, nehmen aber vermehrt Einfluss: Auf sie gehen zahlreiche Strafanzeigen gegen sogenannte Abtreibungsärzte zurück. Bekanntheit erlangte die wegen Werbung für einen Schwangerschaftsabbruch nach § 219a StGB zu einer Geldstrafe verurteilte Dr. Kristina Hänel. Sie hatte auf ihrer Internetseite angegeben, auch Abbrüche vorzunehmen. Wenn es einer Schwangeren unter Umständen rechtlich möglich ist, eine Abtreibung durchführen zu lassen, warum darf eine Ärztin dann nicht darüber informieren? Eine Folge der unentschiedenen deutschen Rechtslage. So nehmen auch hier aus Furcht vor Bloßstellung immer weniger Ärzte Schwangerschaftsabbrüche vor. Die Zahl der Kliniken, die Eingriffe anbieten, sinkt.
Norma McCorvey, die 2017 starb, hat nach eigenen Angaben nie abgetrieben. Ihr drittes Baby gab sie zur Adoption frei. In den Neunzigern bekannte sie sich zu den Pro-Lifern und versuchte als direkt Beteiligte schließlich erfolglos, Roe vs. Wade zu Fall zu bringen. Faktisch wird das im Urteil festgestellte Recht auf Abtreibung aber schon torpediert: Ein Abbruch der Schwangerschaft ist für Frauen aus vielen republikanisch regierten Staaten wieder ebenso schwierig wie im Texas der sechziger Jahre für die Frau, die als Jane Roe Rechtsgeschichte schrieb.
Der Autor Arne Koltermann ist Volljurist und auch als freier Journalist und Filmkritiker tätig.
Abtreibung in den USA: . In: Legal Tribune Online, 13.10.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31475 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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