In den letzten Kriegsjahren haben die Richter am Reichsgericht zwar meist harmlose Zivil- und Strafsachen abgearbeitet, doch ihre Urteile dokumentieren den NS-Justizwahnsinn in vollster Blüte. Martin Rath erinnert an einige Verfahren.
In der Frage, wie mit dem NS-Justizunrecht umzugehen sei, schieden sich in den vergangenen 70 Jahren die Geister. Der Bogen der Antworten spannt sich von einer berüchtigten Entscheidung einer bayerischen Behörde aus dem Jahr 1974 bis zur jüngsten Gesetzgebung, die jene rehabilitiert, die noch nach dem Zweiten Weltkrieg von NS-Gesetzen betroffen waren.
Den einen Ausgangspunkt dieses Bogens bildet der 1985 bekannt gewordene Bescheid des bayerischen Versorgungsamtes, Marion Freisler (1910–1997) die Witwenrente zu erhöhen, weil Roland Freisler (1893–1945) im Überlebensfall Aussichten gehabt hätte, weiter in gehobenen Positionen Einkommen zu erwirtschaften – ungeachtet seiner Tätigkeit als rechtsextremer Rechtsanwalt, Justizstaatssekretär und Präsident des Volksgerichtshofs. Anders als sozialhistorisch ist diese Anerkennung von Entscheidungen der NS-Justiz und der Leistungen ihrer Richter und Henker heute kaum noch nachvollziehbar.
Die Aufhebung von Urteilen dieser Justiz durch Entscheidungen des Bundestags oder in einer raren und bis in die 1990er Jahre hart umkämpften Wiederaufnahmepraxis der Gerichte, schließlich der Versuch, noch Geschädigte zu rehabilitieren, die von der fortgesetzten Anwendung des § 175 Strafgesetzbuch (StGB) in der Bundesrepublik betroffen waren, bildet den überwiegend symbolisch bleibenden Endpunkt dieses Bogens.
Wenig Öffentlichkeit für die späten Fälle
Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfährt die banale Entscheidungspraxis des Reichsgerichts – gerade in seinen letzten Jahren, als der bürokratische Terror bereits überwiegend von Polizei und Sondergerichten ausging.
In Zivilsachen arbeiteten seine Richter, bis sie 1945 die Arbeit einstellten, überwiegend harmlose Dinge ab – wenngleich sich auch hier der NS-spezifische Justizwahnsinn Bahn brach: es wurde ausführlich erwägt, ob ein ausländisches Unternehmen in Deutschland den Firmenzusatz "deutsch" tragen dürfe (Urt. v. 17.01.1944, Az. II 117/43) und auf Feststellung geklagt, dass der Beklagte nicht "Volljude", sondern "Mischling" sei (Urt. v. 14.06.1944, Az. IV 22/44).
Die Entscheidungen in Strafsachen zeichneten hingegen fast durchgängig das Bild einer Justiz, die sich von jeder liberalen Tradition verabschiedet hatte – hierzu elf Beispiele aus dem Jahr 1944.
Vergewaltigung oder verbotener "Umgang" mit dem Feind?
Durch "Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des Deutschen Reiches" vom 25. November 1939 war eine Reihe von Strafnormen eingeführt worden. Ihre überwiegend kaum definierten Tatbestände bedrohten mit Gefängnis-, Zuchthaus- und Todesstrafe beispielsweise denjenigen, der in einem für den Krieg "wichtigen Betrieb" eine diesem "dienende Sache ganz oder teilweise unbrauchbar macht oder außer Tätigkeit setzt" (§ 2).
Angesichts von Millionen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern reichte vor allem in landwirtschaftlichen Betrieben § 4 der Verordnung tief in den Alltag. Die Vorschrift bedrohte unter anderem denjenigen, der "mit einem Kriegsgefangenen in einer Weise Umgang pflegt, die das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt" mit Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren. Eine Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren konnte in "schweren Fällen" verhängt werden
Einen unerhörten Vorgang des "Umgangpflegens" erkannte das Landgericht Freiburg/Breisgau im Fall einer Frau, deren landwirtschaftlichem Kleinbetrieb ein Kriegsgefangener zugeteilt worden war.
Anfang Februar 1943 soll sich dieser Mann ein erstes Mal vergeblich bemüht haben, sie "zum Geschlechtsverkehr zu bringen". Ende des Monats tat er das mit Erfolg. Das Reichsgericht erläutert detailliert, in welcher Weise sie ihn hätte körperlich abwehren müssen, um glaubhaft machen zu können, dass er sie vergewaltigt und nicht sie mit ihm "Umgang gepflegt" habe. Dazu sah sich die Frau nicht im Stande. Weil sie den Kriegsgefangenen nach dem ersten Versuch nicht bei den Behörden angezeigt und sich beim zweiten nicht hinreichend zur Wehr gesetzt habe, bestätigte das Reichsgericht das Freiburger Urteil. Indem die Frau einen Vorgang im Grenzbereich zur Vergewaltigung erduldet habe, könne ein "Umgang pflegen" durch Unterlassen liegen (Reichsgericht, Urteil vom 4. Januar 1944, RGSt 77, 294–297 (1 D 364/43)).
Hilfe oder Bereicherung? Oder beides?
Spätestens seit 1938 war das Eigentum jüdischer Bürger in Deutschland systematisch verstaatlicht oder auf privatem Weg "arisiert" worden. Schon 1940 bedurfte es keiner besonderen Fähigkeit mehr, zwischen den Zeilen zu lesen, um etwa dem "Palandt" zu entnehmen, warum ihnen nicht einmal mehr die Testierfreiheit zugestanden wurde: Im staatlich organisierten Raubmord waren die Interessen des Fiskus vorrangig zu bedienen. Mitunter bestand der Verdacht, es nicht mit privaten Raubgenossen, sondern mit Menschen zu tun zu haben, die jüdischen Nachbarn oder Geschäftsfreunden helfen wollten, zunächst jedenfalls.
Vom 22. April 1938 datierte die hierzu einschlägige "Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe":
§ 1: "Ein deutscher Staatsangehöriger, der aus eigennützigen Beweggründen dabei mitwirkt, den jüdischen Charakter eines Gewerbebetriebes zur Irreführung der Bevölkerung oder der Behörden bewußt zu verschleiern, wird mit Zuchthaus, in weniger schweren Fällen mit Gefängnis, jedoch nicht unter einem Jahr und mit Geldstrafe bestraft."
Das Reichsgericht hatte noch 1944 darüber zu entscheiden, wie es im Fall eines Angeklagten stand, der sich zehn Aktien einer kleinen Grundstücksverwaltungs-Aktiengesellschaft in Berlin hatte übereignen und eine Sicherungshypothek an deren Grundstücken bestellen lassen.
Eigentümer waren je zur Hälfte der "(früher) polnische Jude H.Z." und die 1940 verstorbene "(früher) polnische Jüdin R.R" gewesen. Der Angeklagte hatte der Frau im Gegenzug Geld überlassen – für persönliche Zwecke und für den Versuch, ihre Grundstücksverwaltung zu erhalten. Schließlich hatte er aber alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sich das Eigentum an der Aktiengesellschaft bzw. am Grundstück anzueignen.
Das Reichsgericht half der Anklage hier über die Hürde hinweg, dass eine Grundstücksverwaltung nach herrschender Auffassung kein „Gewerbebetrieb“ war. Im Sinne der Verordnung könne ein "jüdischer Gewerbebetrieb" auch jedes Handelsgeschäft oder jeder eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb nach § 823 Bürgerliches Gesetzbuch sein (Reichsgericht, Urteil vom 13. Januar 1944, RGSt 77, 298–301 (2 D 225/43)).
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
Das Landgericht Offenburg verurteilte 1943 einen Landwirt zu acht Monaten Gefängnis, weil er einer 17-jährigen Hilfskraft während einer Pause der Erntearbeit ins Genital gegriffen hatte.
Vor dem Reichsgericht machte sein Anwalt geltend, dass dem Bauern die junge Frau nicht zur erzieherischen Verantwortung anvertraut worden sei. Ohne eine solche Vereinbarung fehle es an einer entsprechenden Obhutspflicht nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB in der bis 1943 geltenden Fassung. Zu einer entsprechenden Vereinbarung war es nicht gekommen, da das Arbeitsamt das Mädchen dem Landwirt als Hilfskraft zugewiesen hatte.
Das Reichsgericht vertrat jedoch die Auffassung, dass ein Dienstvertrag nicht zwingend erforderlich sei und es auch nicht darauf ankomme, ob vertraglich eine Erziehungsverantwortung und damit Pflicht zur Zurückhaltung in sexuellen Anliegen übernommen worden sei.
Vielmehr ergebe sich die nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB erforderliche Erzieherstellung, "wenn sich der Haushaltungsvorstand im Einzelfalle nach den Umständen und nach gesundem Volksempfinden für die gesamte Lebensführung der Angestellten verantwortlich fühlen müsse".
Zwar hatte der Gesetzgeber gerade erst 1943 dafür gesorgt, dass nunmehr jede minderjährige Person, die einem anderen "zur Betreuung" überlassen worden war, von diesem sexuell nicht bedrängt werden durfte. Auf eine vertragliche Absprache über eine Erziehungsverantwortung kam und kommt es seither nicht mehr an. Aus der ausdrücklich erweiterten neuen Regelung wollte das Reichsgericht aber nicht schließen, dass die ältere, liberale Norm eng auszulegen gewesen wäre. Das Urteil wurde aufgrund der eigenen, entgrenzten Auslegung daher aufrecht erhalten (Reichsgericht, Urteil vom 4. Februar 1944, RGSt 77, 311–313 (1 D 405/43)).
Vom Hilfspolizisten "zur Unzucht mißbraucht"
Spätestens nach Kriegsbeginn wurden Angehörige der Hitlerjugend für den sogenannten HJ-Streifendienst herangezogen. Das war eine Art jugendliche Hilfspolizei, die mit Dienststellen der allgemeinen Polizei, der Gestapo und der SS kooperierte.
Der Streifendienst diente der späteren Rekrutierung zur Polizei und SS, bis dahin jedoch insbesondere der Überwachung von Angehörigen der Hitlerjugend im Besonderen, aber auch aller anderen zehn- bis 18-jährigen Kinder und Jugendlichen.
Die eingeräumte Machtstellung junger Männer führte nicht nur zu den bis heute gut bekannten Konflikten, beispielsweise mit Angehörigen der Hamburger Swing-Jugend oder der rheinländischen Edelweißpiraten, sondern auch zu Fällen wie dem folgenden:
Ein "Führer des HJ-Streifendienstes" in Oldenburg hatte offenbar wiederholt zwei 17-jährige Mädchen wegen unerwünschter Kino- und Gaststättenbesuche verwarnt und ihnen gegenüber mit seiner Funktion angegeben. Einer der beiden diente er seinen besonderen Schutz bei Fliegerangriffen an. Davon beeindruckt oder eingeschüchtert, fanden sich beide Frauen bereit, mit ihm "geschlechtlich zu verkehren".
Das Landgericht Oldenburg verurteilte den Mann, weil er "unter Ausnutzung seiner Amtsstellung" die beiden "zur Unzucht mißbraucht" hatte (§ 174 Nr. 2 StGB). Recht ausführlich setzte sich das Reichsgericht in seiner Revisionsentscheidung, die das Oldenburger Urteil natürlich bestätigte, mit dem Problem auseinander, dass der "Streifenführer" die beiden jungen Damen eher allgemein in seiner Rolle als uniformierter Wicht zum Geschlechtsverkehr bewegt hatte, während seine unmittelbare Amtsgewalt über sie durchaus beschränkt geblieben war – in einer durchuniformierten Protzgesellschaft war diese Abgrenzung vermutlich vonnöten. (Reichsgericht, Urteil vom 4. Februar 1944, RGSt 77, S. 314–319 (1 D 409/43)).
Abhören von "Feindsendern", glimpflich bestraft
Eine Woche nach Kriegsbeginn trat die "Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen" vom 1. September 1939 in Kraft. Ihre Präambel begründet in pompöser Ausführlichkeit, dass "der Gegner" im "modernen Krieg" nicht "nur mit militärischen Waffen, sondern auch mit Mitteln kämpfe, die das Volk seelisch beeinflussen und zermürben sollen". Hierzu zähle auch der Rundfunk.
Angeklagt war ein Mann, der mit seiner erweiterten Familie – Mutter, Gattin, 5-jähriges Adoptivkind und eine 20-jährige Praktikantin, eine entfernte Verwandte – im April und Mai 1943 den Schweizer Sender Beromünster und auch englische Sender gehört hatte.
Das Sondergericht Köln verurteilte ihn nach § 1 der Verordnung nur wegen Abhörens ausländischer Sender, bedroht mit Zuchthausstrafe, in milderen Fällen mit Gefängnis bis zu fünf Jahren.
Die Staatsanwaltschaft erhob gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde, das einzige hier überhaupt zugelassene sogenannte Rechtsmittel. Sie war der Auffassung, durch den erweiterten Kreis der Hörerschaft sei ein Fall des § 2 der Verordnung gegeben. Dieser bedrohte das "vorsätzliche Verbreiten" von "Nachrichten ausländischer Sender", die die "Widerstandskraft des deutschen Volkes" gefährdeten, mit Zuchthaus, in schweren Fällen mit der Todesstrafe.
Das Reichsgericht, das sonst kaum je Halt machte, den privaten Raum zur potenziell regimefeindlichen Öffentlichkeit zu deklarieren, etwa nach Erzählen von Hitler-Witzen unter vier oder sechs Ohren, erklärte hier, dass alle Familienangehörigen gleichermaßen, abwechselnd und in gemeinsamer Absicht die ausländischen Rundfunksender eingeschaltet hatten. Ein "Verbreiten" sei aber regelmäßig erst dann gegeben, wenn unbeteiligte Dritte Gelegenheit bekämen, derartigen Sendungen zu lauschen (Reichsgericht, Urteil vom 9. März 1944, RGSt 77, S. 334–336 (3 C 20/44)).
Vermisst: so gut wie tot
Zunächst entspricht der Vorgang vielem, was später etwa Flüchtlinge aus dem urbanen Danzig oder Breslau in den westdeutschen Plumpsklo-Dörfern erlebten:
Die Beschuldigte hatte im September 1943 eine andere Frau beleidigt, indem sie ihr mit Schlägen ins Gesicht drohte und sie als "liederliches Stadtmensch" und "Stadtfrau" bezeichnete. Auf deren Äußerung hin, sie wisse doch selbst nicht, wo ihr Mann sei, soll die Beschuldigte geäußert haben: "Das ist mir doch egal, ob der in Stalingrad verreckt ist oder was mit dem los ist. Ihr mit Eurem schlechten Namen! Nach uns kann man fragen, nach Euch aber nicht!"
Während das Amtsgericht Kandel diesen Vorgang als Beleidigung der Frau mit einer Geldstrafe erledigt sehen wollte, griff der Oberreichsanwalt den rechtskräftigen Strafbefehl mit der Nichtigkeitsbeschwerde an, was zur Aufhebung und Rückverweisung an das Amtsgericht führte.
Die Entscheidung des Reichsgerichts hatte etwas Doppelbödiges, das den Richtern selbst aber offenbar verborgen blieb.
Der neue § 189 Abs. 3 StGB greife zwar nicht. Nach dieser Vorschrift war die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener mit Gefängnis bis zu fünf Jahren – Regeltarif: zwei Jahre –, in schweren Fällen mit Zuchthaus bedroht, wenn der "Verstorbene sein Leben für das Deutsche Volk hingegeben" hatte.
Das Reichsgericht urteilte, dass in diesem Fall § 189 Abs. 3 StGB analog anzuwenden sei. Seit 1935 verlangte § 2 StGB bekanntlich die strafbegründende Analogie, wenn die Tat "nach dem Grundgedanken des Strafgesetzes und dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient".
Daher hätten hier also "Frontkämpfer, von denen ungewiß ist, ob sie gefallen sind oder ob sie, nach tapferem Kampf in Feindeshand geraten, noch leben", den gleichen "Ehrenschutz" verdient, wie jene, die im Krieg gestorben waren.
Potenziell noch Lebende mit Toten gleichzusetzen: Dass sie ihrem Krieg damit keine günstige Prognose erteilten, scheint den Richtern entgangen zu sein (Reichsgericht, Urteil vom 31. März 1944, RGSt 77, S. 379–380 (1 StS 14/44)).
Das Volk würde es nicht verstehen
Das Landgericht Heidelberg hatte den Angeklagten nach § 211 Abs. 2 StGB wegen Tötung zwecks "Befriedigung des Geschlechtstriebs" zum Tod verurteilt. In den Urteilsgründen ordnete das Gericht zudem an, ihn in einer Heil- oder Pflegeanstalt unterzubringen.
Das Reichsgericht befand, dass diese Anordnung nicht deshalb fehlerhaft sei, weil sie – im Fall der Vollstreckung des Todesurteils – unvollziehbar werde. Sie ergehe "unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß der Täter den Augenblick der Vollziehbarkeit der Anordnung erlebt".
Diese Logik habe der Gesetzgeber auch vorgegeben, weil eine andere "Maßregel der Sicherung" – die "Entmannung", also Kastration eines männlichen Täters – nach § 42k Abs. 1 Nr. 3 StGB ausdrücklich auch für den Fall von Tötungsdelikten vorgesehen war, die "zur Erregung oder Befriedigung des Geschlechtstriebs" begangen wurden.
Dass die Anordnung der Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt nicht im Tenor des Heidelberger Urteils zu finden war, also neben der Todesstrafe, sondern erst in den Urteilsgründen erwähnt wurde, störte das Reichsgericht nicht. Im Gegenteil.
Sie im Tenor zu erwähnen, "wäre nicht mit den Regeln über die volkstümliche Gestaltung des Urteilssatzes vereinbar gewesen". Zu Deutsch: Das Publikum hätte das Nebeneinander der Rechtsfolgen vielleicht als bösen Witz empfunden (Reichsgericht, Urteil vom 18. April 1944, RGSt 77, S. 380–381 (1 D 81/44)).
Ein Suizidversuch ist keine Entschuldigung
Ein Zahnarzt aus Kempten war im Dezember 1943 u.a. wegen Betrugs zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Zudem verbot ihn das Landgericht, nach der Haftentlassung weiter als selbständiger Zahnarzt tätig zu sein – mit Rücksicht auf den Kriegszustand sollte aber eine angestellte Berufsausübung möglich bleiben.
Mit seiner Revision zum Reichsgericht rügte der Dentist, dass die Schlussvorträge und die Urteilsverkündung in seiner Abwesenheit stattgefunden hätten, ein absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO).
Der Grund seiner Abwesenheit: Er erholte sich von einem ernsthaften Selbsttötungsversuch.
Obwohl dem Arzt attestiert wurde, ein "leichter Psychopath" zu sein, habe er doch "im Vollbesitz seiner Geistes- und Willenskräfte" gehandelt. Daher müsse er sich seine Abwesenheit als schuldhaft zurechnen lassen.
Das Reichsgericht ließ sich hier bei seiner Auslegung von § 231 Abs. 2 StPO a.F. von dem Gedanken leiten, dass "es ebenso sehr gegen das Interesse der Strafrechtspflege wie gegen die Rücksicht auf die Würde des Gerichts verstoßen würde, wenn dem Angeklagten die Möglichkeit gewährt wäre, eine begonnene und vielleicht schon dem Abschluß nahe Hauptverhandlung dadurch, daß er sich entferne oder bei ihrer Wiedereröffnung ausbleibe, unwirksam und gleichsam ungeschehen zu machen".
Hatte dies das Reichsgericht seit 1934 noch in den altliberalen § 231 StPO hineingelesen, blieb es dem Nachkriegsgesetzgeber überlassen, mit § 231a StPO eine gesetzliche Regelung zu finden, den sogenannten staatlichen Strafanspruch gegebenenfalls auch noch am postsuizidalen Angeklagten zu vollziehen (Reichsgericht, Urteil vom 11. Juli 1944, RGSt 97, S. 50–53 (1 D 89/1944)).
Wer Depressionen oder suizidale Gedanken hat, kann sich unter anderem Hilfe bei der Telefonseelsorge holen: Telefon 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222. Auch andere Beratungsstellen helfen.
Nur jung und naiv oder doch ein "Volksschädling"?
Bei Aufräumarbeiten seiner HJ-Truppe am 2. März 1943 hatte ein 15-Jähriger aus einem bombengeschädigten Haus am Kottbusser Damm in Berlin, eine Anzahl von Gegenständen an sich genommen, darunter ein Paar Damenhandschuhe, aber auch einen Leica-Fotoapparat.
Nicht zuletzt, weil er sich eine ebenfalls mitgenommene alte Offiziersmütze aufgesetzt hatte, wurde er sogleich von seinem HJ-Anführer "zur Rede gestellt".
Das Landgericht Berlin verurteilte den Jungen wegen Diebstahls nach § 242 StGB zu einem Monat Jugendarrest, weil ihm zwar bewusst gewesen sei, unrecht zu handeln, ihm aber "auf Grund seiner Entwicklung und der besonderen Abartigkeit, die ihn von Jugendlichen seines Alters" unterscheide, die subjektive Einsicht gefehlt habe, dass das Mitnehmen der Sachen hier ein Akt der Plünderung gewesen sei. Nach § 1 der "Verordnung gegen Volksschädlinge" vom 5. September 1939 war Plündern zwingend mit der Todesstrafe bedroht.
Das Reichsgericht hob die Entscheidung auf und verwies die Sache zurück. Das Tatgericht sei nicht frei darin zu entscheiden, ob der Jugendliche für den einen Tatbestand reif genug sei, die Einsicht des Unrechts zu haben, sie für den anderen aber nicht aufzubringen.
Die "Volksschädlingverordnung" sei also in jedem Fall durchzuprüfen. Dabei könnte das Landgericht, so der Hinweis aus Leipzig, im zweiten Durchgang zu der Erkenntnis kommen, dass dem jugendlichen Täter ausnahmsweise "die Wesensart des Volksschädlings" fehle. Dass er so augenscheinlich naiv mit seiner "Beute" aus der Ruine herausspaziert war, sollte dazu allein nicht genügen: Für die Prüfung der "Volksschädlingseigenschaft" werde aber "das kriminalbiologische Gutachten wertvolle Anhaltspunkte liefern" (Reichsgericht, Urteil vom 23. Mai 1944, RGSt 78, S. 8–14 (5 D 27/1944)).
Kriegsentscheidende Handtaschen
Im Jahr 1943 hatte sich der Angeklagte im annektierten Teil der Tschechoslowakei, dem sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren, für rund 7.000 Reichsmark Handtaschen, Brieftaschen, Reisekoffer, Kämme und andere Kurzwaren in der Absicht gekauft, für die Zeit nach dem Krieg eine Existenzgrundlage zu haben.
Das Landgericht Paderborn verurteilte den Soldaten, der diese Geschäftsidee neben seinem Dienst in einer Genesungskompagnie betrieb, weil sein Sparbuch nichts abwarf, wegen Verstoß gegen § 1 Absatz 1 Kriegswirtschaftsverordnung:
"Wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseiteschafft oder zurückhält und dadurch böswillig die Deckung dieses Bedarfs gefährdet, wird mit Zuchthaus oder Gefängnis bestraft. In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden."
Die Verteidigung hatte erfolglos vorgebracht, dass das Landgericht nicht geprüft habe, ob es sich bei den – im sogenannten Protektorat offenbar noch verfügbaren – Waren auch im Reichsgebiet um zwangsbewirtschaftete Erzeugnisse handelte. Darauf komme es nicht an, weil "das Horten jedweder verknappten Ware gegen die selbstverständliche Pflicht jedes Volksgenossen in der Heimat" verstoße, "alle seine Kräfte und Mittel Volk und Reich zur Verfügung zu stellen und dadurch die Fortführung eines geregelten Wirtschaftslebens zu gewährleisten".
Mit der Frage, worin eigentlich der "lebenswichtige" Bedarf an Handtaschen, Brieftaschen, Reisekoffern oder Kämmen bestanden haben soll, befassten sich die Richter nicht (Reichsgericht, Urteil vom 26. Mai 1944, RGSt 78, 19–21 (4 D 105/1944)).
Keine Spiegeleier für "Kriegsgefangene"
Am 2. September 1943 geriet ein Angehöriger der britischen Luftstreitkräfte, der im Westfälischen mit dem Fallschirm hatte abspringen müssen, in die Küche einer Landfrau, die ihm vor Schreck zwei Spiegeleier briet, weil er äußerte, Hunger zu haben, und ihm eine Bürste gab, damit er sich nach dem Absprung vom Schmutz säubern konnte. Ihr Mann schrieb dem Flieger seine Adresse auf, damit er sich auf ihn berufen könnte.
Das Landgericht Paderborn verurteilte sie und ihren Gatten nach § 4 der VO vom 25.11.1939, die den "Umgang" mit Kriegsgefangenen mit Gefängnis bis zu fünf Jahren und in schweren Fällen mit Zuchthaus bedrohte. Eine Absicht, ihrem unverhofften Abendbrotgast zur Flucht verhelfen zu wollen, mochte das Landgericht nicht erkennen, was ihnen wohl das Leben rettete.
Der Umstand, dass der Royal-Airforce-Angehörige noch kein Kriegsgefangener war, hinderte Land- und Reichsgericht nicht am Strafurteil. Weil den beiden Landleuten zur Arbeit in ihrem Betrieb bereits ein ausländischer Arbeiter zugewiesen worden war, hätten sie wissen müssen, dass es verboten sei, mit solchen Leuten einen gewöhnlichen, zwischenmenschlichen Umgang zu pflegen.
Dem fremden Flieger aber sogar eigens ein Spiegelei zu braten, gehe "über das Maß des Zulässigen weit hinaus", verletze daher "das gesunde Volksempfinden gröblich", sodass die analoge Anwendung des Verbots, mit Kriegsgefangenen Umgang zu pflegen, geboten sei.
Offenbar hatten die beiden westfälischen Landleute damit insgesamt noch Glück. Eine Strafverfolgung wegen Begünstigung des Feindes, nach § 91b StGB mit der Todesstrafe oder einer lebenslangen Zuchthausstrafe bedroht, hatte selbst die Anklagebehörde beim Volksgerichtshof nicht betreiben wollen.
Während das Reichsgericht das Urteil für die Frau bestätigte, gab es dem Landgericht auf, den "inneren Tatbestand" beim Mann zu prüfen, weil sein Verhalten, das "schon an sich unverständlich" gewesen sei, "ein ungewöhnliches Maß an geistiger Beschränktheit angenommen habe". Ein Urteil, das leider erst sehr spät auf sie selbst zurückfallen sollte (Reichsgericht, Urteil vom 1. September 1944, RGSt 78, S. 86–89 (5 D 74, 75/1944)).
Das Reichsgericht vor 75 Jahren: . In: Legal Tribune Online, 15.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37615 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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