Die Fälle zum "131er-"Gesetz: Der Staat als Beute

von Martin Rath

01.04.2018

Mit Urteil vom 1. April 1958 entschied das BAG über eine großzügige Versorgung ehemaliger Angestellter des öffentlichen Dienstes, die durch ihre NS-Zugehörigkeit an eine Planstelle gekommen waren. Ein Fall aus unfairen Zeiten.

In welchem Umfang beispielsweise die Witwen solch prominenter nationalsozialistischer Verbrecher wie Roland Freisler oder Reinhard Heydrich in den Genuss von Versorgungsleistungen durch den deutschen Staat kamen, zählt spätestens seit 1955 – Der Spiegel berichtete erstmals – zu jenen historischen Tatbeständen, die noch beim treuesten Verfassungspatrioten Zweifel am Verstand dieser Republik nähren können.

Im Fall von Marion Freisler (1910–1997) hatte das Versorgungsamt beispielsweise 1974 die Erhöhung der Witwenrente mit dem Argument gewährt, ihr Gatte hätte nach dem Krieg noch Karriere machen können. Die amerikanische Luftwaffe ersparte der westdeutschen Gesellschaft bekanntlich die Diskussion um die Nützlichkeit Roland Freislers als Rechtsanwalt oder entnazifizierter Verwaltungsjurist, er kam im Frühjahr 1945 bei einem Luftangriff auf Berlin ums Leben.

Wird nach Begründungen für das vage Gefühl gesucht, dass etwas faul war im Staate der schon nicht mehr ganz so jungen Bundesrepublik Deutschland, liegt es zwar nahe, diese prominenten Fälle zu nennen.

Aber manchmal scheinen derartige Fälle das Urteilsvermögen durch diese heute recht allgemein bekannten Fälle getrübt zu werden, wirken sie doch eminent unfassbar.

216,09 DM waren verdammt viel Geld

Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 1. April 1958 macht die merkwürdige Versorgung von erklärten Feinden der Weimarer Republik durch die neue Demokratie hingegen durch seine relative Lebensnähe ein wenig greifbarer (Az. 3 AZR 16/56).

Kläger in der Sache war ein 1887 geborener Mann, Beklagte eine Allgemeine Ortskrankenkasse im heutigen Nordrhein-Westfalen. Zum Beschäftigungsverhältnis als AOK-Angestellter war es nach den Feststellungen des BAG wie folgt gekommen:

"Am 1. April 1932 trat er der NSDAP und der SA als Mitglied bei. Am 22. Juni 1933 wurde er auf Vorschlag des Ortsgruppenleiters der NSDAP von der Beklagten auf Probe als Kassenbote und Krankenbesucher angestellt, nachdem unmittelbar vorher drei Angestellte der Beklagten, die der SPD und dem Zentrum angehört hatten, auf Betreiben der NSDAP entlassen worden waren. Durch Vertrag vom 18. Dezember 1933 wurde der Kläger als Beitragseinheber und Krankenbesucher gemäß § 351 Abs. 1 RVO mit einer Kündigungsfrist von drei Monaten nach der Gruppe 8a der Reichsbesoldungsordnung dienstordnungsmäßig angestellt. Ab 18. Dezember 1938 galt diese Anstellung auf Lebenszeit."

Im Juni 1945, knapp fünf Wochen nach dem Kriegsende in Europa, hatte der Vorstand der Krankenkasse dem Mann gekündigt. Mit Klage vor dem Arbeitsgericht begehrte er nunmehr die Zahlung von insgesamt knapp 9.000 DM rückständigem Übergangs- und Ruhegehalt sowie die Zahlung von 216,09 DM laufendem Ruhegehalt monatlich ab August 1955.

Sowohl das Arbeitsgericht wie das Landesarbeitsgericht Düsseldorf gaben der Klage statt, die Krankenkasse scheiterte auch mit der Revision zum Bundesarbeitsgericht. Dass der AOK-Vorstand den Zug durch die Instanzen antrat, erklärt nicht zuletzt ein Blick auf eine Zahl aus der Lohnstatistik: 1950 lag der durchschnittliche Monatsbrutto-Verdienst eines deutschen Arbeitnehmers bei 243 DM.

Die Zahl der Ortskrankenkassen ging bis 1970 noch in die Hunderte. Es lässt sich also leicht ausmalen, wie der Vorstand irgendeiner kleinen AOK des Jahres 1955 sich ausrechnet, wie viele Mitglieder ihre Beiträge allein dafür zahlen mussten, einen durch die NSDAP aufgedrängten Arbeitnehmer beschäftigt zu haben.

Anspruch aus dem 131er-Gesetz

Eine Rechtsgrundlage, sich die Ansprüche des nationalsozialistischen Angestellten vom Hals zu halten, hatte der AOK-Vorstand in § 7 Absatz 1 des "Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen" vom 11. Mai 1951 gesehen. Dort hieß es:

"Ernennungen und Beförderungen, die beamtenrechtlichen Vorschriften widersprechen oder wegen enger Verbindung zum Nationalsozialismus vorgenommen worden sind, bleiben unberücksichtigt. Das gleiche gilt für Verbesserungen des Besoldungsdienstalters und der ruhegehaltsfähigen Dienstzeit."

Der Wortlaut der Norm verrät, wo das Hauptanwendungsgebiet dieses sogenannten Regelungs- oder auch "131er-"Gesetzes lag. Bekanntere Fälle betrafen Beamte, beispielsweise Helmuth Schranz (1891–1968), den vormaligen NSDAP-Bürgermeister von Offenbach am Main, der als Bundestagsabgeordneter Versorgungsansprüche gegen die ihm einst zugeteilte Stadt erstritt.

Doch galt die Norm eben auch für die Vielzahl von kleinen Angestellten, die nach der Beseitigung jüdischer und verfassungstreuer Angehöriger des öffentlichen Dienstes in deren Stellen gedrängt waren.

Und natürlich lässt der Wortlaut stutzen, lädt doch der normative Befehl, wonach Ansprüche von Personen, die "… wegen enger Verbindung zum Nationalsozialismus …" in den öffentlichen Dienst gelangt oder dort bevorzugt worden waren, doch geradezu ein, den Fall des AOK-Angestellten zu subsumieren.

NSDAP-Klüngel wird herausgerechnet

Obwohl der Kläger erwiesenermaßen auf Vorschlag des NSDAP-Ortsgruppenleiters und nach Beseitigung verfassungstreuer AOK-Angestellter eingestellt worden war, befand das BAG, dass keine hinreichend qualifizierte "Verbindung zum Nationalsozialismus" vorliege. Ein Anspruch auf Wiederverwendung im öffentlichen Dienst oder – wie hier – die Berücksichtigung von Dienstzeiten könne nur für Personen verneint werden, "die wegen ihrer engen Verbindung zum Nationalsozialismus einen Posten erlangt haben, für den sie persönlich oder fachlich nicht hinreichend oder in offensichtlichem Maße weniger geeignet waren als andere vorhandene Bewerber".

Solange also ein Dienstherr nicht belegen konnte, dass ein von der NSDAP aufgedrängter Beamter oder Angestellter des öffentlichen Dienstes ungeeignet gewesen war – und wer macht das schon –, blieb er verpflichtet, ihm im Rahmen eines im 131er-Gesetz geregelten Quotensystems eine Wiederverwendung zu verschaffen bzw. die Übergangs- und Altersversorgung zu leisten.

Derlei wäre möglicherweise mit der Bewährungshelfer-Logik von Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) nüchtern zu bewerten, der sich gelegentlich äußerte, man könne Politik nur mit den Menschen machen, die einem zur Verfügung stehen.

Dieser milden Moral stehen freilich Fälle der Wiedereinstellungsbemühungen untadeliger, ja internationaler Spitzenkräfte entgegen. Während das Bundesarbeitsgericht wie parallel auch das Bundesverwaltungsgericht den § 7 des 131er-Gesetzes künstlich eng auslegten, wurde in Wiedergutmachungssachen von Verfolgten in rabulistischer Weise argumentiert. Der Mathematiker Kurt Otto Friedrich (1901–1982), ein hochkarätiger Kopf seines Fachs, war 1937 mit seiner jüdischen Verlobten Nellie Bruell in die USA emigriert.

Das niedersächsische Kultusministerium teilte ihm im Rahmen seines Wiedergutmachungsverfahrens mit, dass keine Anzeichen dafür vorlägen, dass er verfolgt worden wäre, wäre er in Deutschland geblieben: "Zu einer Eheschließung hätte es in Deutschland auf Grund des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. Mai 1935 nicht kommen können, so dass er auch aus rassischen Gründen nicht hätte verfolgt werden können" (zitiert nach Perels 2004).

Neujustierung der Bewertungen?

In der Festschrift für Franz Böhm (1975, S. 163–182) hat der Wirtschaftswissenschaftler Gérard Gäfgen (1925–2005) bereits Mitte der 1970er Jahre einmal vorgeschlagen, "Zur Ökonomie der Ideologiebildung" zu forschen.

Obwohl Gäfgens Idee eine gewisse Familienähnlichkeit mit dem Ansatz des bekannten amerikanischen Ökonomen Gary S. Becker (1930–2014) hatte, der beispielsweise Rassendiskriminierung oder Familiengründung unter wirtschaftswissenschaftlichen Perspektiven betrachtete – also durchaus auch den Nutzwert eindiskontierte, den z.B. Rassismus für Rassisten hat –, ist sie offenbar in Deutschland nie recht weiterverfolgt worden. Vermutlich befremdet ihre amoralische Perspektive allzu sehr.

Interessant wäre es jedoch alle Male, würden auch herrschende Meinungen in Justiz und Verwaltung – analog zu Gäfgens Ansatz  – im Rahmen einer "Ökonomie der Ideologiebildung" analysiert. 

Denn eine sozial hoch wirksame Doktrin, die etwa in der einschränkenden Auslegung von § 7 des 131er-Gesetz lag, hatte nicht nur im Fall des nationalsozialistischen AOK-Mitarbeiters, sondern wohl in Hunderttausenden von weiteren Fällen einen erheblichen geldwerten Vorteil.

Vielleicht verlässt unsere Gesellschaft hier langsam den Sektor moralischer Urteile und schaut sich konkret und in seriösen Zahlenwerten an, wem es dank herrschender Meinungen und fassbar unfassbarer Auslegungswege wirklich gut und wem es ökonomisch schlecht erging.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Die Fälle zum "131er-"Gesetz: . In: Legal Tribune Online, 01.04.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27807 (abgerufen am: 19.11.2024 )

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