Recht ungemütlich / Eine etwas andere Literaturübersicht: Achtung, adventsfreie Zone

von Martin Rath

11.12.2011

Abgesehen von Einkaufshektik und Weihnachtsfeiern – wie macht sich der Advent bemerkbar? Seit rund 20 Jahren erinnert uns das TV mit Wiederholungen von "Kevin – Allein zu Haus" an den weihnachtstypischen Zusammenhang von Gemütskitsch und Gewalt. Gewalt hat zur besinnlichen Jahreszeit Konjunktur, wie ein Blick in juristische Zeitschriften und Martin Rath zeigen.

Private Fernsehsender haben als werbefinanzierte Unternehmen den unschätzbaren Vorteil, der emotionalen Konjunktur ihrer Nutzer folgen zu wollen. Ob sie dabei eine große Treffsicherheit beweisen, lässt sich zwar schwer sagen – und noch weniger hoffen.

Der Stimmung ihrer Nutzer angemessen scheint es aber zu sein, dass alljährlich zur Weihnachtszeit ein grausames Kind in der US-amerikanischen Vorstadtidylle zwei Einbrecher hinrichtet, verlassen von seinen Eltern, aber hochgerüstet und mit brutaler Intelligenz gesegnet. Spätestens am Heiligen Abend übernehmen es Bruce Willis und "James Bond", das offenbar jahreszeittypische Bedürfnis nach Gewaltdarstellungen zu befriedigen.

Wenn auch der Blick in juristische Fachzeitschriften einen insgesamt sehr viel seriöseren Eindruck vermittelt, unbehaglich wird es aber auch dabei. Sind Sie bereit, sich der allgemeinen Pflicht zur Gemütlichkeit für einige Augenblicke zu entziehen?

Familien sind die Keimzelle von Gewalt

Das wollen wir hoffen. "Häusliche Gewalt aus rechtsmedizinischer Sicht" ist ein Aufsatz in der Zeitschrift "Familie Partnerschaft Recht" (FPR 2011, Seiten 185-187) überschrieben, der einen sehr unbehaglichen Einblick in den "Kreislauf der Gewalt" unserer Gesellschaft bietet.

Dragana Seifert, Klaus Püschel und Axel Heinemann, die am Institut für Rechtsmedizin in Hamburg-Eppendorf arbeiten, schließen sich hier der "Gewaltkommission" der Bundesregierung mit der Aussage an, dass "in der Bundesrepublik Deutschland Gewalt in der Familie die am weitesten verbreitete Form von Gewalt überhaupt" sei und erklären sie zur Quelle unter anderem von "sozial abweichendem Verhalten und Kriminalität im Kindes-, Jugend und Erwachsenenalter".

Nach einer ersten repräsentativen Untersuchung, bei der im Jahr 2003 über 10.000 Frauen zwischen 16 und 85 Jahren befragt wurden, erlebten 25 Prozent "mindestens einmal körperliche und/oder sexuelle Übergriffe durch den aktuellen oder früheren Beziehungspartner". Ein Drittel der Betroffenen erfuhr mehr als zehn Angriffe. Eine kleinere Studie über "Gewalt gegen Männer" ergab ein weniger dramatisches, aber doch bemerkenswertes Bild zur Qualität von Gewalterfahrungen.

Seifert, Püschel und Heinemann merken an, dass zwar die medizinische Grundversorgung durch Allgemeinmedizin, Unfallchirurgie, Gynäkologie und Pädiatrie kompetent gewährleistet sei, dass es aber "(b)isher keineswegs selbstverständlich" sei, "eine gut organisierte, standardisierte Herangehensweise an die Dokumentation von körperlichen Verletzungen (insbesondere kleineren Unterblutungen, Abschürfungen, Schwellungen usw.)" zu leisten. Vernachlässigt würden "rekonstruktive Analysen, die sachgerechte Spurensicherung am Opfer bzw. auch am Geschehensort".

Abgesehen von diesen Mängeln, die eine juristisch-forensische Aufbereitung von häuslicher Gewalt behinderten, fehlt es den drei Rechtsmedizinern an einer Versorgung der Opfer, die über rein körperliche Wunden hinausblickt. Als Folge dieses Defizits stellen sie fest: "Neben Depressionen und Angststörungen sowie erhöhtem Alkohol-, Drogen und Medikamentenkonsum ist bei einem Viertel der Opfer von Gewaltverbrechen mit dem Auftreten einer posttraumatischen Belastungsstörung ohne Selbsterholung zu rechnen." Wer chronischer häuslicher Gewalt zum Opfer gefallen ist, sei – so vermuten die Autoren – ähnlich gefährdet, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln wie die Opfer sexualisierter Gewalt – die Hälfte aller Fälle ist betroffen.

Zum "Kreislauf der Gewalt" kommt es, weil "Kinder, die in der frühen Kindheit Gewalt erlebt haben, ein höheres Risiko aufweisen, selbst später ihre Kinder oder ihre Partner zu misshandeln". Auch die Wahrscheinlichkeit, im späteren Leben von Neuem Opfer häuslicher Gewalt zu werden steigt für jene Menschen, die schon eine böse Kinderstube überlebt haben, auf erschreckende  Werte.

Nachdem sich Gesetzgeber und Strafverfolgungsbehörden der häuslichen Gewalt bereits angenommen haben, müsse die medizinische Erstversorgung jetzt aufschließen. So schlagen Seifert, Püschel und Heinemann unter anderem vor, dass den "Opfern von Gewalttaten empfohlen werden [sollte] zur gerichtsverwertbaren Begutachtung der Verletzungen ein Rechtsmedizinisches Institut aufzusuchen". Wenn das nicht möglich sei, solle der erstbehandelnde Arzt eine detaillierte (Foto-) Dokumentation erstellen.

US-Prangersystem, rechtsökonomisch untersucht, statt boulevardesk posaunt

Der Aufsatz von Seifert, Püschel und Heinemann kam fast zeitgleich mit dem Mannheimer "Kachelmann-Prozess" auf den Markt und es ehrt seine Autoren, ihre Forderungen damals nicht boulevardesk zugespitzt zu haben. Leider fand er darum wohl insgesamt wenig öffentliche Aufmerksamkeit. Dass nun zur Weihnachtszeit ganze Familienverbände nicht nur um harmlose Idiosynkrasien, sondern wohl auch um manch handfestes Trauma herumschleichen, rechtfertigt es, das doch ein wenig zu ändern.

Der Schauspieler Til Schweiger, den man sich eher in der Rolle des infantil-gewalttätigen Buben in einem deutschen Remake von "Kevin – Allein Zuhaus" vorstellen möchte denn in der Rolle eines ARD-Tatortkommissars, wurde unlängst vom Polizeigewerkschaftler Bernhard Witthaut wegen eines öffentlichen Auftritts in alkoholisiertem Zustand gerügt.

Kaum vorstellbar, dass von Seiten eines GdP-Genossen die Qualifikation als Polizisten-Darsteller jemals wegen der Forderung nach einem  öffentlichen "Sexualverbrecher-Verzeichnis" in Frage gestellt würde, mit der sich der Mime einige Zeit zuvor ins Herz des Boulevards gebracht hatte.

In den USA, von dort brachte Schweiger seine Forderung mangels eigener Ideen bekanntlich mit, sind teilweise öffentliche Verzeichnisse von "Sexualverbrechern" inzwischen flächendeckend eingerichtet. Man wird beim nächsten Aufsehen erregenden Gewaltverbrechen sicher auch hierzulande wieder davon hören.

Dem "Journal of Law and Economics", einer gewichtigen Fachzeitschrift, die an der für ihre Wirtschaftswissenschaftler berühmten Universität von Chicago erscheint, sind gleich zwei umfangreiche Untersuchungen zu diesem Ansatz zu entnehmen, den "Kreislauf der Gewalt" an seiner denkbar spätesten Stelle – nach Haftentlassung verurteilter Sexualverbrecher – zu unterbrechen.

Unter dem Titel "Do Sex Offender Registration and Notification Laws Affect Criminal Behavior?" (Seiten 161-206) stellen J.J. Prescott und Jonah E. Rockoff zunächst ein Stück jüngerer US-Rechtsgeschichte dar. Seit 1994 weist ein Bundesgesetz  – der "Jacob Wetterling Act" – die US-Staaten an, für den behördlichen Gebrauch Register anzulegen, in denen Daten zu verurteilten Sexualverbrechern gesammelt werden.

Nützen die Registration Laws?

Diese "registration laws" wurden seit 1996 um den so genannten "Megan’s Act" erweitert, der einzelstaatliche so genannte "notification laws" beförderte, die wegen ihrer Prangerwirkung auch außerhalb der USA bekannt wurden. Seither werden, in unterschiedlicher Ausgestaltung in den US-Staaten, die bisher vertraulichen Daten von Menschen, die wegen Sexualverbrechen verurteilt wurden, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Gesetzgeber haben das teils auf schwerste Verbrechen beschränkt, teils werden alle Verurteilungen publik gemacht. In nicht wenigen Staaten stehen die Verzeichnisse online zur Verfügung. Erfasst sind derzeit rund 300.000 schwere Straftaten und knapp fünf Millionen Belästigungsfälle.

Dem europäischen Leser mögen schon gewisse statistische Details Zweifel keimen lassen. Unter den Tätern sind immerhin 2,3 Prozent in der Altersgruppe "Age 0–9" und gut 11 Prozent im "Age 10–14". Leider erhellen Prescott und Rockoff diese bizarren Daten nicht weiter, sondern lesen aus ihrem Zahlenmaterial einen Beleg dafür heraus, dass die Registrierungsgesetze dazu geführt hätten, dass weniger Sexualverbrechen innerhalb der betroffenen Nachbarschaften angezeigt würden. Die "Pranger"-Gesetze führten zwar nicht zu einer besseren Sozialprognose bei den Haftentlassenen, seien ökonomisch aber durch ihre abschreckende Wirkung gerechtfertigt.

Dem widerspricht in der gleichen Ausgabe des "Journal of Law and Economics" (Seiten 207-239) Amanda Y. Agan unter dem Titel "Sex Offender Registries: Fear without Function?" Eine messbare, wenn auch geringe Wirkung der Registrierung von Sexualstraftätern sei nur in Fallgruppen nachzuweisen gewesen, in denen häusliche Gewalt vorlag. Für Gewalttaten gegenüber Fremden sei keine positive Wirkung von Registrierung feststellbar.

Agan untersuchte auch den Zusammenhang von öffentlicher Bekanntmachung von Verurteilungen in Nachbarschaften in Washington D.C. und dem Auftreten von Sexualstraftaten in den jeweiligen Wohnblocks. Sie fand keinen positiven Effekt, der es rechtfertigen würde, den Nachbarn eines aus der Haft entlassenen Sexualstraftäters seine Vorgeschichte zu offenbaren.

Anders als Prescott und Rockoff berücksichtigt Agan in ihrer Analyse auch die negativen Folgen der Bekanntmachung, also die deutlich erhöhten sozialen Kosten der Reintegration, die etwa durch die häufiger misslingende Integration der Verurteilten am Arbeitsmarkt entstünden. Oder, ganz profan: Ein Haus in der Nachbarschaft eines bekannten Verurteilten sinkt durchschnittlich um 5.500 US-Dollar im Wert.

Rechtsfeministische Kritik an den "Anonymen Alkoholikern" im Strafvollzug

Im Wesentlichen als Opfer, aber auch als Täterinnen häuslicher Gewalt präsentierten Susan Sered und Maureen Norton-Hawk eine Gruppe aus der Haft entlassener weiblicher Verurteilter, die sie über mehrere Jahre im östlichen Massachusetts beobachteten.

Unter dem Titel "Whose Higher Power? Criminalized Women Confront the 'Twelve Steps'", publiziert im rechtswissenschaftlichen Magazin "Feminist Criminology" (2011, Seiten 308-332) setzen sie sich mit der Rolle der "Anonymen Alkoholiker" (AA) und der im Wesentlichen identischen "Narcotics Anonymous" (NA) im US-amerikanischen Strafvollzug auseinander. Auf dem so genannten "12-Schritte-Programm" der AA beruhen zahllose Selbsthilfegruppen, an denen teilzunehmen US-amerikanische Strafrichter ihre von psychotropen Substanzen abhängige "Kundschaft" regelmäßig verpflichten, als Teil einer Behandlung im Strafvollzug oder als Bewährungsauflage nach der Haft.

Sered und Norton-Hawk beobachteten in einer mehrjährigen kriminalsoziologischen Feldforschung Frauen, die in Übergangsheimen für Haftentlassene untergebracht wurden. Die Wissenschaftlerinnen waren überrascht, dass die Frauen, wenngleich sie – freiwillig oder von Staats wegen dazu verpflichtet – oft mit AA/NA-Gruppen verbunden, nur sehr wenig auf die Lehre dieser Selbsthilfegruppen zu sprechen kamen. Sered und Norton-Hawk kritisieren: "Das Beharren der 12-Schritte-Ideologie auf der persönlichen Verantwortung eines jeden für seine Sucht scheint von der Wahrnehmung jener strukturellen Gewalt losgelöst zu sein, die für viele Frauen den Weg in die Abhängigkeit geebnet hatte." Auf das Verlangen der AA-Leute, sich in ihrer Abhängigkeitserkrankung der Sorge Gottes oder einer "Higher Power" anheimzugeben, reagierten die Frauen – nach Erfahrungen mit häuslicher Gewalt, Prostitution und Vergewaltigung: "Simply put, they have already spent too much of their lives in the hands of too many higher powers."

Von der häuslichen Gewalt über den Strafvollzug wohin?

Sered und Norton-Hawk kritisieren als feministische Rechtssoziologinnen das Fehlen stichhaltiger wissenschaftlicher Beweise für die Wirksamkeit von AA- und NA-Selbsthilfegruppen, in denen regelmäßig autobiografische Korrelationen mit statistisch belegter Kausalität verwechselt würden. Vom Bücherwissen ihrer europäischen Kolleginnen unterscheiden sie sich angenehm, indem sie zwar die "männliche, weiße Mittelstandsideologie" der AA aufs Korn nehmen, dabei aber von der persönlichen Lebenswelt der haftentlassenen Frauen ausgehen – und nicht von Büchern.
Dragana Seifert, Klaus Püschel und Axel Heinemann, die Hamburger Rechtsmediziner, fordern in ihrem eingangs zitierten Aufsatz unter anderem, dass die deutsche Öffentlichkeit – vertreten durch Ärzte und Polizeibehörden, den Kreislauf häuslicher Gewalt ein Stück weit beenden. Durch bessere Beweisaufnahme für die forensische Nachschau und durch adäquate psychologische Betreuung für das Individuum.

J.J. Prescott, Jonah E. Rockoff und Amanda Y. Agan, die US-amerikanischen Rechtsökonomen, streiten sich um die Frage, ob es wirklich nützlich ist, dass der Staat haftentlassenen Sexualstraftätern das Recht häuslicher Privatheit verweigert – indem ihrer Nachbarschaft die kriminelle Vorgeschichte publik gemacht wird.

Schließlich berichten  Susan Sered und Maureen Norton-Hawk davon, dass es der primäre Wunsch ihrer vielfach geschundenen, oftmals suchtkranken Gesprächspartnerinnen nicht gewesen sei, von der jeweiligen Substanz "clean" zu werden, sondern – neben medizinischer und ökonomischer Versorgung  –  die Stabilität welchen Ortes zu erleben?
Dem einer funktionsfähigen Familie, zumindest in ihrer Patchwort-Variante.

Die nachhaltig funktionsfähige Familie, sie bleibt ein frommer Wunsch, in der Perspektive wohl aller genannten Wissenschaftler. Und das nicht nur zur Vorweihnachtszeit.

Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.

 

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Recht ungemütlich / Eine etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 11.12.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5072 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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