Die kleine Tour durch die juristische Publizistik führt über den "Pfad der Tränen", den die Cherokee in Begleitung ihrer Sklaven gingen. Afrika erfindet derweil ein neues Gericht, während China sich seiner Freiheit unsicher ist. US-Bürger nehmen sich die Freiheit, nicht mit der Polizei zu sprechen. Themen, die in der Fachpresse so nicht vorkommen, präsentiert Martin Rath.
Spätestens im Gericht hört der Indianer auf, ein edler Wilder zu sein – jedenfalls integrationspolitisch betrachtet. Das Lawblog des "Wallstreet Journal" berichtet von einem späten juristischen Nachspiel des "Indian Removal Act" aus dem Jahr 1830. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden in den 1830er-Jahren mehrere Indianervölker aus den Gründungsstaaten genötigt, in weniger begehrte Territorien umzusiedeln. Auch hierzulande bekannt ist der "Pfad der Tränen", auf dem die Cherokee vom fruchtbaren Georgia ins karge Oklahoma ziehen mussten. Rund ein Viertel der deportierten Indianer starb im Verlauf.
Besonders perfide wirkt die damalige US-Indianerpolitik heute, weil die betroffenen indianischen Völker teils stark an die "weiße" Gesellschaft angepasst waren – in Georgia beispielsweise versuchten, gerichtlich gegen die Deportationsmaßnahmen vorzugehen.
Ein juristisches Nachspiel vor dem "Cherokee Supreme Court", dem obersten Stammesgericht dieser indigenen Ethnie, hatte es nun, dass die Cherokee seinerzeit nicht allein auf Wanderschaft gezwungen worden waren – ihre Negersklaven hatten sie auf dem Zug nach Oklahoma begleiten müssen. Die Sklaverei wurde auch für die neuen Indianerterritorien nach dem Ende des Sezessionskrieges 1865 aufgehoben und die Nachkommen der afroamerikanischen Sklaven klagten jüngst gegen die Erben ihrer früheren Eigentümer.
"Freedmen" vor Gericht
Nach dem US-amerikanischen Bürgerkrieg hatten die Cherokee zunächst beschlossen, ihre freigelassenen Sklaven, die "Freedmen", als Teil ihrer indianischen Nation zu behandeln. Im Jahr 2007 machten die Cherokee diese Entscheidung rückgängig. Nach altem Indianerrecht konnten mindestens 2.800, möglicherweise aber auch bis zu 25.000 Nachkommen der "Freedmen" Aufnahme in den Stamm der Cherokee beanspruchen. Der Cherokee Supreme Court wies dieses Begehren jetzt zurück.
Es hat etwas Verrrücktes: Einige Nachfahren afroamerikanischer Sklaven klagen gegen den rechtsfähigen Stamm der indianischen Eigentümer. Dieser juristische Fall wirkt zwar, als ob ihn Thilo Sarazzin in einer fiebrigen Phantasie nach übermäßiger Karl-May-Lektüre konstruiert hätte, dürfte aber einen seriösen Hintergrund haben: Auf den ersten Blick mag zwar das allgemein-menschliche Interesse an einer "ethnischen Identität" eine Rolle spielen, der schlichte Wunsch, irgendwo dazuzugehören. Darüber hinaus wuchs aber in den vergangenen Jahrzehnten auch unter solchen Menschen, die ihre Herkunft bisher eher abstreifen wollten, das Bedürfnis, einer der indianerrechtlichen Enklaven im US-amerikanischen Rechtssystem anzugehören. Ein Bedürfnis, das nicht in Identitätsfragen wurzeln muss: Die Spielbankenindustrie siedelt sich – zwecks Ausbeutung des "weißen Mannes" – bevorzugt in den Reservaten an. Auch finden sich in den kargen Landschaften nicht selten wertvolle Rohstoffe.
Über das "cui bono" des Rechtsstreits der Freedmen gegen die Cherokee-Nation schweigen sich die amtlichen Dokumente zwar weitgehend aus, doch sind immerhin die Schriftsätze beim hinterwäldlerischen Indianer-Gericht – online – besser greifbar als die der meisten Verfahren vor deutschen Gerichten.
Aufbauprobleme afrikanischer Gerichtsbarkeit
Vom Recht in Afrika liest man sonst bestenfalls, wenn wieder einmal ein Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung sein Referendariat beim Constitutional Court von Südafrika gemeistert hat oder saudi-arabische Juristen ihr unerfreuliches Rechtsverständnis mit handabschneiderischem "Erfolg" in Länder der südlichen Sahelzone exportiert haben.
Mit starken Abstrichen erfreulich ist, was Anja Kießling von der Münchener Bundeswehruniversität "Vom schwierigen Aufbau einer neuen Institution" zu berichten weiß: "Der Afrikanische Gerichtshof für die Rechte der Menschen und Völker" (Archiv für Völkerrecht Band 49, 2011, Seiten 173-189) soll für den afrikanischen Kontinent eine ähnliche Funktion bekommen wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Ein entsprechendes Zusatzprotokoll zur afrikanischen Menschenrechtscharta hat seit 1998 einen zähen Ratifikationsprozess überstanden.
Bisher war im regionalen Menschenrechtsschutzsystem Afrikas ausschließlich eine Kommission für Beschwerden zuständig gewesen. Gegen einen Gerichtshof hatten sich die Politiker des Kontinents lange mit dem fadenscheinigen Argument gesträubt, "dass die gerichtliche Streitbeilegung nicht dem afrikanischen Rechtsverständnis entspreche, welches vielmehr auf Vermittlung und einvernehmlich erzielten Einigungen beruhe".
Anja Kießling beschreibt die Arbeit der alten Kommission als wenig erfolgreich, gingen ihre Befunde von Menschenrechtsverletzungen doch als letztlich unverbindliche Empfehlungen unter. Vor dem neuen Gerichtshof, der in der Aufnahme seiner Arbeit nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen gebremst ist, könnten – anders als vor der Kommission – Menschenrechtsverbände nicht ungehindert auftreten. Angesichts von Analphabetismus und Armut weiter Bevölkerungskreise dürfte der Menschenrechtsschutz in Afrika damit sogar noch ein Stück schwieriger werden. Zudem wird die Zusammenlegung mit anderen Gerichtshöfen und eine Afrikanisierung des Völkerstrafrechts geplant. Hier berichtet Kießlich also von heiklen Unterfangen. Für ein abschließendes Urteil sei es aber noch zu früh.
Persönliche Freiheitsrechte in China
Auch für ein abschließendes Urteil über die chinesischen Zustände ist es natürlich viel zu früh. Glaubt man den Demografen, wird das persönliche Wohlbefinden vieler Chinesen in naher Zukunft vor allem durch die massive Überalterung ihrer Gesellschaft stark beschränkt werden.
Weil es aber unjuristisch und wohl auch ein bisschen politisch unkorrekt wäre, die persönliche Freiheitspotenziale an der Rollatorfreundlichkeit chinesischer Großstädte zu bemessen, verdient eine Untersuchung über das in der Verfassung der Volksrepublik garantierte Recht der Freiheit der Person ("renshen ziyou") gehörige Aufmerksamkeit. Otto Malmgren, ein Norweger in Beijing, berichtet im "China-EU Law Journal" (Springer-Verlag, Juli 2011) unter dem Titel "Article 37: The right to liberty of person under the Chinese constitution" vom schwierigen Weg des Grundrechts in die Rechtswirklichkeit.
Zwar verfügt die Verfassung der Volksrepublik China über einen – nach westlichen Maßstäben – nachgerade schwatzhaft umfangreichen Menschenrechtskatalog mit rund 40 Einzelrechten. Kontrastiert werden diese – entsprechend der von Marx, Lenin und Stalin gestifteten Tradition – allerdings durch Grundpflichten.
Zudem fehlt es an der Verfassungsgerichtsbarkeit. Gerade hier beschreibt Malmgren aber einen interessanten Schwebezustand: Einerseits existierten obergerichtliche Entscheidungen, die den Gerichten vor Ort davon abrieten, Streitfälle unter Berufung auf die verfassungsmäßigen Rechte lösen zu wollen. Andererseits gebe es, beim Grundrecht auf Bildung etwa, auch genau gegenläufige oberrichterliche Weisungen.
In der chinesischen Rechtsordnung geht es also auch um das Problem, ob die Grundrechte unverbindliche Programmsätze sind oder mehr oder weniger direkt anzuwendende Normen. Darüber stritten sich die Rechtsgelehrten in Deutschland zuletzt in der Zeit der Weimarer Republik.
Otto Malmgrens Untersuchung bewegt sich allerdings nicht allein auf den Höhen grundrechtsdogmatischer Fragestellungen. Seine Aufmerksamkeit gilt insbesondere dem einfachen Recht, mit dem die persönliche Freiheit im Einzelfall in Kontakt gerät. Die chinesische Strafprozessordnung sieht beispielsweise Einschränkungen ebenso wie Schutzmechanismen vor, die sich von manchem "härteren" westlichen System – dem britischen etwa – nicht allzu sehr unterscheiden. Was vor allem zu fehlen scheint, ist aber der Zugang zu lokaler richterlicher Kontrolle.
Soll man die Qualität einer Rechtsordnung quantitativ bewerten? Malmgren nennt Zahlen. Mit 210 Inhaftierten je 100.000 Einwohnern liegt China über dem ostasiatischen Durchschnitt von 167. Allerdings unter dem jener Staaten, die früher die mittelasiatischen Provinzen der Sowjetunion stellten – in der Region zwischen Kazakhstan und Tajikistan sind 292 von 100.000 Menschen in Haft.
Das ist vermutlich kein Trost für regimekritische Künstler wie Ai Weiwei. Aber vielleicht sollte man China nicht schwarzmalen.
Treue ist ein unteilbares Gut
Von erheblichen Problemen der Bevölkerung mit ihrer eigenen Polizei berichtet Bret D. Asbury in der "Oregon Law Review" (Band 89, 2011, Seiten 1.257-1.312). Unter dem Titel "Anti-Snitching Norms and Community Loyalty" findet der in Philadelphia lehrende Juraprofessor unglaublich viel Verständnis für ein inzwischen weit verbreitetes Phänomen in der afroamerikanischen Alltags- und Populärkultur. Als guter US-amerikanischer Wissenschaftler erzählt Asbury dazu eine beispielhafte Geschichte: Am 4. Februar 2004 wurde Israel "Izzy" Ramirez, 29 Jahre alt und Vater dreier Kinder, in seiner Funktion als Leibwächter eines Rap-Sängers in Brooklyn, New York erschossen. Mindestens 75 Zeugen standen umher. Die Polizei führte insgesamt rund 100 Vernehmungen. Niemand fand sich bereit, den Todesschützen zu benennen, obwohl die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass er einem oder mehreren der Befragten bekannt war. Der Fall blieb darum unaufgeklärt.
In der "armen, schwarzen Bevölkerung" sei, so Asbury, ein derartiges Verweigerungsverhalten gegenüber der Polizei inzwischen die Regel. Diese Auskunftsverweigerung des "anti snitching" ist sogar zu einem Element der populären US-amerikanischen Kultur geworden.
In Baltimore – durch die Serie "The Wire" auch hierzulande als Hort des Verbrechens bekannt – wurde eine DVD mit "anti snitchin"-Parolen produziert, die durch einen kurzen Gastauftritt eines Basketball-Stars in den ganzen USA Aufmerksamkeit fand.
Seither haben Polizisten nicht nur mit einem spontanen, aus Ängsten oder Loyalitätsgefühlen gegenüber ihrer kriminellen Nachbarschaft gespeisten Auskunftsverweigerungsverhalten zu tun, sondern mit einem kulturell überhöhten. Dass seine "armen, schwarzen" Landsleute gegenüber der Polizei kein Verhalten mehr entwickelten, das man hierzulande wohl als "Ausübung seiner staatsbürgerlichen Verantwortung" bezeichnet, dafür findet Asbury derartig viel freundliches Verständnis, dass er froh sein darf, kein deutscher Professor zu sein – hierzulande würden sich wohl die sonst so zerstrittenen Polizeigewerkschaften zu uniformierten Mahnwachen vor seinem Institut vereinigen.
"Justice has been done"
Im Übrigen diskutiert Asbury als weitere Beispiele für prekäre Loyalitätsbeziehungen den Ehrenkodex der US-amerikanischen Marinesoldaten und das so genannte Whistleblowing, also den Verrat von Dienst- oder Betriebsgeheimnissen, die ein moralisch oder rechtlich zweifelhaftes Verhalten schützen.
Ein solches macht Herta Däubler-Gmelin in einem allzu kurzen Beitrag für das "Buccerius Law Journal" (2011, Seiten 42-43) beim US-Präsidenten Barak H. Obama und seinem militärischen Personal aus. Däubler-Gmelin beantwortet die Frage "Osama Bin Ladens Ende: 'Justice has been done' oder Schaden für die Rechtsstaatlichkeit?" unter Bezugnahme auf namentlich nicht genannte Juristenkollegen eher schlicht mit einem "Ja". Das hat sich die Redaktion des Magazins der renommierten Hamburger Rechtsschule leider so gefallen lassen. Zu hoffen ist, dass die Sommerausgabe der "Juristenzeitung" (JZ 2011, 758-764) umso mehr Aufmerksamkeit findet. Unter dem Titel "Der Gerechtigkeit einen Dienst erwiesen" diskutieren Kai Ambros und Josef Alkatout die "völkerrechtliche Zulässigkeit der Tötung Osama bin Ladens".
Nach Zurückweisung aller in Betracht kommenden Rechtfertigungsgründe kommen Ambros und Alkatout zwar zu dem gleichen Ergebnis wie Herta Däubler-Gmelin, aber natürlich hat ihre Argumentation deutlich mehr Gewicht. Dass sie die interessanteste (Rechts-) Frage in diesem Zusammenhang gestellt hat, muss man der früheren Berufspolitikerin aber zubilligen: Sie fragt, ob es einen direkten Tötungsbefehl von Seiten Präsident Obamas gegeben habe.
Was die Antwort auf diese Frage betrifft, wird man wohl auf einen "snitchin' SEAL" warten müssen – einen beteiligten Soldaten, der das Aufklärungsinteresse der Öffentlichkeit über das Geheimhaltungsbedürfnis der US-Regierung stellt.
Es darf gewettet werden: Man wird auf diese Antwort nicht so lange warten müssen wie die ehemaligen Negersklaven der Cherokee auf die endgültige Klärung ihrer ethnischen Identität. 170 Jahre – so lange hält kein Geheimnis.
Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
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Martin Rath, Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 28.08.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4129 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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