Die althergebrachten Gerichtsferien, während derer die Gerichtsbarkeit in Deutschland noch etwas gemächlicher sein durfte, schaffte der Gesetzgeber 1996 ab. Ungefähr zur selben Zeit muss das grässliche Modewort "Entschleunigung" aufgekommen sein. Das will ausgeglichen werden: Gemächliche Literatur, entschleunigt und an Reise- und Wettereventualitäten angeglichen stellt Martin Rath vor.
Journalisten füllen das sogenannte Sommerloch gerne mit bunten Themen und beklagen sich, ob es ihre Leser interessiert oder nicht, dann auch noch öffentlich darüber, dass die "Sauregurkenzeit" keine spannenderen Stoffe produziere.
Zumindest ein führendes Fachmedium für Juristen beweist hier seine Überlegenheit gegenüber der schnöden Tagespresse. Um die während der Sommerszeit so beliebten Sujets "Wetter" und "Reisen" zu bedienen, werden wir im Weiteren aber auch auf geschichtswissenschaftliche Leseempfehlungen zurückgreifen müssen.
Zunächst ist die "Juristenzeitung" (JZ) dafür zu loben, dass sie ihre an Rechtsfragen interessierte Leserschaft weit aus dem sommerlichen Sauertopf herausschauen lässt. Die beiden Juli-Ausgaben der JZ werden von Aufsätzen eröffnet, die wirken, als sollte sie ein humanistisch gebildeter Reichsgerichtsrat mit in die Sommerfrische seiner Gerichtsferien nehmen: "Zur Unterscheidung von Rechtsdogmatik und Theorie" überschreibt der Mannheimer Emeritus Gerd Roellecke seinen Beitrag (JZ 2011, 645-652). Eine Rechtstheorie, die philosophischen Ansprüchen genügen will, arbeitet laut Rollecke mit starren Konzepten. Juristische Dogmatik ist, was bei Philosophen ein Naserümpfen verursacht, mit sozialer Beweglichkeit kontaminiert. Roellecke leiht sich bei den Großphilosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Niklas Luhmann ein Taschentuch aus, um es Juristen zu reichen, die über die theoretische Anspruchslosigkeit ihres Faches verschnupft sind.
Eine noch viel stärkere Medizin gegen das Leiden am Mangel theoretischer Reflexion bietet Dieter Simon in der folgenden Ausgabe (JZ 2011, 697-703): "Alle Quixe sind Quaxe – Aristoteles und die juristische Argumentation" überschreibt der langjährige Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte seine Kritik an Aspekten der neuen Rechtsrhetorik. In jüngerer Vergangenheit wird im akademischen Betrieb der Versuch gemacht, die Jurisprudenz weniger als Wissenschaft, denn als analytisch zu reflektierende Rhetorik zu begreifen. Die Anhänger dieser Richtung greifen auch auf die klassische Logik zurück, wie sie Aristoteles für Jahrhunderte gültig beschrieben hat. Beim Rückgriff unterlaufen historische und theoretische Ungenauigkeiten. Simon kritisiert das anhand einer Figur der Logik – das ist ein sehr anspruchsvoller Stoff.
Archiv für civilistische Praxis als Mittel der Erholung
Das "Archiv für die civilistische Praxis" (AcP) ist eine juristische Zeitschrift, die seit 1818 erscheint und allgemein nicht im Ruf steht, anspruchslosen Stoff abzudrucken. Im Vergleich zu den beiden kürzeren Aufsätzen von Simon und Roellecke, mit denen sich die "Juristenzeitung" mehr oder weniger weit aus dem Sauregurken-Einerlei katapultierte, mag ein Aufsatz von Holger Fleischer (AcP 211, 317-351) nun fast der Erholung dienen: "Rechtsvergleichende Beobachtungen zur Rolle der Gesetzesmaterialien bei der Gesetzesauslegung" bietet der Direktor am Hamburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht.
Wie weit können und dürfen die Gerichte auf Äußerungen der Gesetzgebungsorgane zurückgreifen, die nicht förmlich in den Wortlaut des Gesetzes eingeflossen sind? Das ist eine spannende Frage, die heute das Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie berührt. Wäre es nicht so furchtbar spießig, man würde Fleischers Aufsatz als sogenannte "Pflichtlektüre" verordnen wollen – vielleicht nicht für Studenten der Rechtswissenschaften, die ja schon genügend darunter zu leiden haben.
Hitzewallung und Kälteschaudern – Bundestagsprotokoll
Als Pflichtlektüre möchte man Fleischers Frage, was sich der Richter vom Gesetzgeber alles sagen lassen muss, jedoch einer exklusiven Gruppe von Menschen vorlegen, die sich augenscheinlich allzu wenig Gedanken über das Gewicht ihrer Worte macht: den gemeinen Bundestagsabgeordneten.
Anfang Juli war es ja wieder einmal Zeit für eine der sogenannten "Sternstunden des Parlaments". Der Bundestag beriet über drei Gesetzentwürfe zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, kurz PiD. Zu diesem Zweck hatten sich die Abgeordneten vom Fraktionszwang freigenommen und sich auch rhetorisch eher freizügig gegeben, nachzulesen im Stenografischen Bericht (120. Sitzung vom 7. Juli 2011, Seiten 13.871 bis 13.910 [PDF]). Die Debatte behandelte die gesetzliche Regelung der Genomanalyse, wie sie bei künstlicher Befruchtung vor allem dann vorkommt, wenn die Eltern in spe eine Erbkrankheit befürchten, ein ernstes Thema also. Sie in gedruckter Form nachzuverfolgen, kann abwechselnd Schweiß und Kälteschaudern über den Leser bringen – unabhängig davon, wie er selbst moralisch zur Frage der Präimplantationsdiagnostik steht.
Denn die Abgeordneten ließen in der Debatte eher ihren Gefühlen freien Lauf als der Schärfe ihrer Gedanken. Das Protokoll hat daher etwas von einem Heimatroman auf Groschenheftniveau. Während Holger Fleischer in seinem "AcP"-Aufsatz davon berichtet, dass das Kammergericht im Jahr 1910 Abgeordnete zur Frage vorlud, wie gewisse Äußerungen des Gesetzgebers zu verstehen seien, hinterlässt das Bundestagsprotokoll 2011 die Vermutung: Heute würde sich das Kammergericht ein solches Verhör schon aus puren Stilfragen nicht mehr antun.
Florenz, Athen und ein englischer Ohrensessel
Wer an Rechtsfragen interessiert, aber weniger leidensfähig ist, mag einen der drei Aufsätze zur Hand nehmen. Die Auswahl kann man vom Reiseziel abhängig machen oder vom Wetter. Überraschend und angenehm sind sie alle drei.
In der "Zeitschrift für historische Forschung" (2011, Seiten 25-61) findet sich ein hübscher Aufsatz von Moritz Isenmann, den nicht nur Italienreisende nutzen können, sommerliche Anfälle von Langeweile zu beenden. Unter dem Titel "Notstandsgewalten und politische Repression im Florenz der Renaissance" beschreibt Isenmann, wie in den norditalienischen Städten der frühen Neuzeit ein juristisches System, das Machtkonzentration unterbinden sollte, durch zentralisierte 'Staatsgewalt' abgelöst wurde. Als Hebel diente den Eliten dabei, jeder Krise der städtischen Gesellschaft mit Notstandsbefugnissen zu begegnen. Parallelen zu heutigen Entwicklungen der Staatsgewalt nach dem 11. September 2001 stellt Isenmann ausdrücklich her.
Nebenbei kritisiert er klassische Klischees der juristischen Grundrechtsgeschichte, die beispielsweise den Schutz vor willkürlicher Verhaftung eher in der englischen "Bill of Rights" als im norditalienischen Bürgerrecht finden möchte. Nach Italien reisen, Donatellos "David" bewundern und dabei über George W. Bush meditieren – so könnten schöne "Gerichtsferien" aussehen.
Heißen Lesestoff bietet selbst dem, der in den letzten Monaten beim Stichwort "Griechenland" längst enerviert die Ohren geschlossen hielt, der Aufsatz "Demokratische Gewalt?" (in: "Historische Zeitschrift" 2011, Seiten 681-718) mit dem etwas sperrigen Untertitel "Prolegomena zu einer Kulturgeschichte der interpersonellen Gewalt im klassischen Athen". Werner Riess fasst hier den Inhalt seiner in Augsburg angenommenen Habilitationsschrift zusammen, eine Leistung am Leser, die man sich für andere Fächer auch wünschen würde.
Magier und Anwalt – getrennt verfluchen, vereint siegen
Bei einer großen Staatsfeierlichkeit im Jahr 348 vor Christus wurde dem heute als ein Vorbild der Rhetorik bekannten athenischen Rechtsanwalt Demosthenes öffentlich von seinem Erzfeind ins Gesicht geschlagen. Riess befragt die Quellen unter anderem danach, wie die Gesellschaft Athens mit solchen Gewaltakten im politisch-juristischen Raum umging. Der antike "Rechtsanwalt" hatte es in Griechenland womöglich bei Konflikten mit einer überraschenden Konkurrenz zu tun: Wer sich in der Öffentlichkeit mit einem "Prozessgegner" stritt, der heuerte nicht nur einen talentierten Redenschreiber an, also den historischen Vorläufer des Rechtsanwalts. Sondern, wer es sich leisten konnte, beschäftigte auch einen professionellen Magier, der für seinen Klienten "Fluchtafeln" schrieb.
Ein Hexer, der den Prozessgegner verflucht, ein Anwalt, der ihn mit rhetorischen Mitteln verdammt: Boshafte Querdenker könnten eine Parallele zum heutigen Phänomen der "Litigation-PR" ziehen. Das geht natürlich zu weit. Allein, so kurz und anschaulich wie mit diesem Aufsatz von Werner Riess wird man heute selten zu den archaischen Wurzeln der westlichen Rechtskultur zurückgeführt. Darum empfiehlt er sich, ob als Reiselektüre auf hellenischen Pfaden oder als intellektuelle Ohrensesselnahrung daheim.
Sherlock-Holmes-Gefühle für den Fall eines nebeligen Restsommers
Die Spitzenverbände des deutschen Juristenhandwerks haben in diesem Frühjahr nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen erhebliche Vorteile gegenüber jenen angelsächsischer Provenienz hätten: Übersichtlicher seien sie und provozierten beim Abschluss von Verträgen weniger Regelungsbedarf.
Ein Grund dafür, dass man sich des angelsächsischen Rechts – abgesehen von seiner Rolle in der populären Kultur und im internationalen Wirtschaftsverkehr – trotz seiner bekannten Nachteile mit einem irgendwie anheimelnden Gefühl annimmt, liefert Sebastian A.E. Martens Untersuchung über "Die Werte des Stare Decisis" (JZ 2011, 348-356). Über die Jahrhunderte fühlten sich englische Richter, davon handelt der Aufsatz in erster Linie, mit teils haarsträubender Strenge an die überlieferten Urteile aus älteren Prozessen gebunden. Die Funktion dieser Doktrin, als einer Garantie für Rechtssicherheit, lässt sich auch auf andere europäische Rechtsordnungen übertragen. Martens geht dem nach.
Aber jenes behagliche Gefühl, das sich ebenso einstellt, wenn man die im Genre des Kriminalromans ja auch sehr haarsträubenden Geschichten rund Sherlock Holmes liest, bei schlechtem Wetter, eine Kanne Tee auf dem Tisch und einen knisternden Kamin vor Augen, diese Anmutung hinterlässt in einer juristischen Fachzeitschrift wohl nur ein rechtsvergleichender Aufsatz, der einige Jahrhunderte britischer Rechtsgeschichte Revue passieren lässt.
Neben guten Lektürerationen für Gerichtsferien, Sommerlöcher und Sauregurkenzeiten wäre also auch für einen kühlen Herbst schon gesorgt.
Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
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Martin Rath, Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 07.08.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3955 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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