Recht frech / Die etwas andere Literaturübersicht: Senioren fragen, Juristen antworten?

von Martin Rath

20.08.2010

Eines fernen Tages werden wir erstaunt zurückblicken auf den Sommer 2010 und wir werden uns erinnern, dass südlich des Mains mit Forken bewaffnete Bauern auf die üblen Datenspähwagen der Firma Google losgingen. Wenn dann auch der letzte Rollator GPS-gesteuert durch die Straßen navigiert, wird es wohl längst ein eigenes "Seniorenrecht" geben. Unkonventionelles von Martin Rath.

Wenn alte Menschen ein bisschen komisch werden, ist das hoffentlich oft ein Zeichen später Freiheitsliebe. Sie spielt angesichts aller Vorurteile mit, wenn sich zum Beispiel der würdige Silberschopf den ersten Computer kauft, um mit dem Enkel im Auslandsjahr E-Mails auszutauschen.

Oder wenn Großmutter plötzlich fürs Auto ein GPS-Gerät braucht, obwohl ihr einst schon der Videorekorder als Teufelszeug nicht ins Haus kam? Ja, wenn es darum geht, der fern verzogenen Tochter die Enkelkinder vom Wickeltisch zu rauben, ist auch älteren Damen manch technisches Mittel recht.

Wird man die Empörung über das harmlos-ungenaue "Google Street View" noch verstehen, wenn man selbst im GPS-WLAN-gesteuerten Seniorenrollstuhl sitzt? Spannend wird dann nur die unsauber gescannte Bordsteinkante.

Auch juristischen Zukunftsfragen darf mit Spannung entgegengeblickt werden. Dank Miniaturisierung wird es wohl nicht lange dauern, bis ein kleiner Knopf im Ohr weit mehr kann als heutige Hörgeräte. Was, wenn der Minicomputer im Seniorenohr per Stimmanalyse nicht nur den Trickbetrüger an der Haustür zur Silversurfer-WG automatisch erkennt, sondern von selbst die Polizei alarmiert? Wird der Schupo dann §§ 242, 263, 22 StGB am mutmaßlichen Trickster exekutieren oder § 201 am Nutzer moderner Innenohrelektronik?

"Problem Alter" – Materie für Juristen

Mögen auch derartige Probleme technisch wie juristisch noch Zukunftsmusik sein, so lässt sich doch fragen, warum angesichts der vielbeschworenen (Über-) Alterung unserer Gesellschaft das "Problem Alter" noch nicht zum Gegenstand systematischer juristischer Überlegungen geworden ist:

Einer schrumpfenden Alterskohorte wurde ein Kinder- und Jugendhilfegesetz gewidmet. Dem Durcheinander arbeitsrechtlicher Normen nimmt sich die Fachdogmatik mit systematisierender Hingabe an. Warum nicht auch den Normen, die den Menschen im Alter besonders berühren – mit Lehrbüchern, Fachzeitschrift und anderen Insignien juristischer Gelehrsamkeit?

Immerhin, ein erster Schritt ist "Theories on Law and Ageing", eine Aufsatzsammlung, herausgegeben von Israel Doron (Berlin 2009). Das schmale Bändchen sucht einerseits nach dogmatischen Weichenstellungen eines künftigen Seniorenrechts, etwa mit der Frage, was aus den Erfahrungen des Behindertenrechts zu lernen sei. Andererseits enthält der Band auch ganz praktische Anregungen, zum Beispiel zur anwaltlichen Beratung: Bitte laut und deutlich sprechen, in kurzen Beratungssitzungen mit Pausen – um den alten Mandanten nicht zu überfordern!

Alter als Verteilungsproblem

Überforderung ganz anderer Art ist ein heimliches Hauptthema (rechts-) politischer Annäherungen an das Problem Alter: Überforderung der Gesellschaft angesichts knapper Güter. Vor politischen Heißspornen, die zum Beispiel Hüftgelenke für 70-Jährige nicht mehr erstatten lassen wollen, um kurzfristige Finanzierungsprobleme der Kassen zu lösen, warnt Stefan Huster in seinem instruktiven Aufsatz "Altersrationierung im Gesundheitswesen: (Un-) Zulässigkeit und Ausgestaltung" (MedR 2010, 369-372). Bemerkenswert jedoch bleibt sein Fazit, dass etwa mit Blick auf die gegenwärtige arbeitsrechtliche Diskussion wenig dafür spräche, das Alter generell als ein gleichheitsrechtlich verpöntes Differenzierungsmerkmal zu betrachten.

Als Übung in (gesundheits-) politischer Demut lässt sich Felix Weltis Aufsatz "Allokation, Rationierung, Priorisierung: Rechtliche Grundlagen" (MedR 2010, 379-387) lesen: "Nicht dass wir älter werden können, sollte uns Angst machen", meint Welti, "sondern uns sollte die Überlegung antreiben, welche sozial- und gesundheitspolitischen Prioritäten gesetzt werden müssen, damit wir in Würde und mit Vertrauen alt werden." Warum nur "sozial- und gesundheitspolitische Prioritäten", könnte man fragen.

Geht es Welti 'nur' um grundlegende Rechtsfragen an die Verteilung von Gütern im Gesundheitswesen – wo Vater Staat das Zepter schwingt – wird sich der kommende Deutsche Juristentag (DJT) mit dem sehr viel mehr einschneidenden Umverteiler befassen, mit Gevatter Tod, prosaischer: mit der Zukunftstauglichkeit des Erbrechts.

Seniorenfreundlich wie die Fahrkartenautomaten

Vermutlich wird sich der DJT eher eng mit erbrechtlichen Dogmen und ihrer gemäßigten Modernisierung befassen. Sicher ist es nicht gering zu schätzen, wenn zum Beispiel Hans Klingelhöffer in Vorausschau auf das DJT-Motto "Ist unser Erbrecht noch zeitgemäß?" pragmatische Lösungen vorschlägt (ZEV 2010, 385-388).

Böte aber ein DJT zum Erbrecht der juristischen Zunft nicht Gelegenheit, in den Spiegel zu blicken? Vielleicht erblickte die Zunft einen Fahrkartenautomaten.

Fahrkartenautomaten werden bekanntlich von psychologisch unbedarften Unternehmen des öffentlichen Personenverkehrs aufgestellt, um ältere Menschen davon abzuhalten, ihre Leistungen in Anspruch zu nehmen. Ähnliche Wirkungen könnte der berüchtigte juristische Subsumtionsautomat haben, wie er zum Beispiel in Arne Everts „Nachlasspflegschaft trotz transmortaler Vollmacht“ auftritt (NJW 2010, 2318-2321): Eine ältere Dame hinterlässt ihrer Anwältin eine Generalvollmacht, unter anderem in Vermögensfragen, keine Verfügung von Todes wegen. Wegen der Anordnung von Nachlasspflegschaft und Bestellung des passenden -pflegers muss die Justizmühle mahlen. Everts referiert die frucht- und unfruchtbaren Seiten der transmortalen Vollmacht nebst praktischen Auswegen.

Für den Anwalt sind diese Distinktionen hoffentlich allesamt einleuchtend. Gegenüber einem Rat suchenden älteren Menschen, der vielleicht 'nur' sein Nachleben regeln möchte, wird der Jurist jedoch sehr darauf achten müssen, dass seine Schatzkiste juristischer Findigkeiten zuletzt nicht doch bloß eine Erhabenheit ausstrahlt: die des Fahrkartenautomaten.

Was ist eine Packungsbeilage?

Ebenfalls im Rahmen einer noch zu erfindenden seniorenrechtlichen Dogmatik neu diskutiert sehen möchte man auch das Thema eines Aufsatzes von Christian Stallberg: "Information und Werbung in und auf Arzneimittelverpackungen" (PharmR 2010, 214-220). Stallberg macht sich Sorgen um die "Fehlallokation der knappen Ressource Aufmerksamkeit", derer sich Pharmaunternehmen schuldig machten, würden sie nicht rechtliche Wege finden, der verkauften süßen Pille noch ein bisschen bittre Reklame beizufügen: "Praktisches Beispiel hierfür wäre, einem Erkältungspräparat in der Verpackung eine separate Broschüre beizufügen, die weiterführende Informationen zur Vorbeugung von Erkältungskrankheiten enthält und/oder auf zusätzliche Arzneimittel des Herstellers in diesem Indikationsgebiet aufmerksam macht."

Ein klassisches argumentum a fortiori liegt hier nahe: Ein Großteil der in Deutschland verordneten Medikamente landet im Hausmüll – erst recht ...

... die Verpackungsbeilagen. Obwohl sie doch der pharmarechtlichen Dogmatik entsprechen?

Eine seniorenrechtliche Dogmatik würde hier vielleicht die Frage nach dem schlichten, altersgerechten Nutzen zusätzlicher Informationen in und um den Vertrieb pharmakologischer Produkte formulieren.

Fehlen solche Fragen, haben am Ende doch wieder nur die Techniker die vermeintlichen Lösungen, dann wird uns eben der Funkchip unserer Pillenpackungen im Alter herumkommandieren, mittels Medikationsbefehlen aufs Kassenhandy.

Das sollte ein Jurist nicht wollen können. Hilfsweise aus Gründen des Datenschutzes.

Der Autor Martin Rath ist Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Recht frech / Die etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 20.08.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1258 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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