Wenn eine 80-jährige US-Richterin sich als Aushilfsrichterin betätigt, bringt das nicht nur einen US-Senator auf krumme Gedanken. Vielleicht zu wenig reflektiert wird derweil die weltweite Verlagerung von Macht in die Gerichtsbarkeiten. Ein Parforceritt durch aktuelle Aufsätze zum Jahresschluss 2010. Von Martin Rath.
Sandra Day O’Connor, 1981 vom seligen Ronald Reagan in den U.S. Supreme Court berufen, dürfte den Senator Patrick Leahy auf den Gedanken gebracht haben.
Nachdem Day O’Connor 2006 aus dem höchsten US-Gericht ausgeschieden war, machte sich die 1930 geborene Juristin in zahlreichen Verfahren vor Bundesberufungsgerichten als Aushilfsrichterin nützlich. Wirklich spannende Rechtsfragen kommen ihr jetzt nicht mehr auf den Tisch. Wenn einem Tierhalter der Prozess gemacht wird, weil er seinen Wolf als Hund deklariert hatte, dürfte das schon zu den außergewöhnlicheren Aufgaben der betagten Richterin gehören.
Weil einerseits die ausgeschiedene Richterin mit derartigen Problemen unterfordert ist und andererseits am neunköpfigen Supreme Court aktuell eine aktive Richterin regelmäßig wegen Befangenheit ausfällt – sie ist soeben aus der Exekutive ins Richteramt gewechselt – stellte Senator Leahy den Antrag, emeritierte Richter des U.S. Supreme Courts als Aushilfsrichter zurückzuholen. Pattsituationen ließen sich so vermeiden, der Sachverstand werde genutzt.
Neben Richterin Day O’Connor käme dann auch Richter John Paul Stevens als Aushilfrichter in Frage. Er trat im April in den Ruhestand – 90-jährig, nach 35 Dienstjahren.
"Unser Orient" – Preußen einst, Maghreb heute
In Detlev Fischers "Zur Geschichte der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Deutschland" (Juristenzeitung 2010, 1077-1087) stechen die biografischen Daten ins Auge. Als etwa Eduard Simson 1879 zum ersten Präsidenten des Reichsgerichts berufen wurde, war er bereits 69 Jahre alt – und 81, als er aus dem Amt schied.
Wenn auch hohes Richteramt und hohe Lebenserwartung überraschend oft zusammengeraten, lohnt der Aufsatz des aktiven BGH-Richters Fischer aus anderen Gründen. Er spannt den historischen Bogen vom Reichskammergericht, das zwischen 1495 und 1806 existierte, bis zum Obersten Gerichtshof für die Britische Besatzungszone.
Lehrreich sind daran die witzigen Wendungen. Wenn beispielsweise das oberste Gericht Preußens 1832 per Regierungsbefehl dazu genötigt wurde, seine Entscheidungen zu begründen – gegen den "heftigen Widerstand" der Richter – mag eine List der Geschichte darin liegen.
Erst Begründung der Entscheidungen, fünf Jahre später die erste gerichtliche Entscheidungssammlung heutigen Zuschnitts – so wurden Grundlagen des Rechtsstaats von einer Regierung gelegt, die nicht im Ruf übertriebener Liberalität stand.
Auf eine solche List der Geschichte scheint heute auch die europäische Entwicklungshilfe zu bauen. Erst wird ein Justizapparat unter technischen Gesichtspunkten modernisiert, dann hat er Chancen, es auch mit autoritären Regierungen aufzunehmen. In "Justizreformen im Maghreb" formuliert Hanspeter Matthes diese Hoffnung für die nordafrikanischen Mittelmeerstaaten (GIGA Focus 2010, 1-8).
Ein Richter darf Tunesien selbst zur Ferienzeit nur verlassen, wenn der Minister dies erlaubt. In Disziplinar- und Karrierefragen sind den algerischen und tunesischen Richtern kurze Leinen angelegt. Immerhin ist in der Richter- und Anwaltschaft die Idee virulent, dass der Verfassungssatz von der Unabhängigkeit der Gerichte nicht bloß auf dem Papier stehen darf.
Das könnte wirkungsmächtiger sein als europäische Versuche, mittels Entwicklungszusammenarbeit etwas zu bewegen.
Demokratie fordern, Rechtsstaat bekommen
Ohne solche Hilfen kommt Taiwan aus, das als 'abtrünnige Provinz' Chinas diplomatisch isoliert ist. Mit Blick auf die NS-Justiz erklärt Chin-shou Wang es zwar für naiv zu glauben, Richter würden von Natur aus um ihre Unabhängigkeit kämpfen.
Umso feierlicher ist er, weil er im Journal of Current Chinese Affairs berichten kann, dass sie es in Taiwan doch getan haben (2010, 125-147). Traditionell an japanische und deutsche Vorbilder anknüpfend, will das Ausbildungssystem die jungen Juristen Taiwans zur Staatstreue erziehen. Eine restriktive Zulassung zur Anwaltschaft und der ministerielle Einfluss auf die berufliche Laufbahn erschweren Kritik.
Trotz des hohen persönlichen Risikos schlossen sich gerade junge Richter der Demokratiebewegung Taiwans in den 1990er-Jahren an. Einer ihrer Erfolge: Die Geschäftsverteilung ging von den Gerichtspräsidenten auf das Kollegium der Richter über. Das führt nicht nur zu einer gerechteren Arbeitsverteilung. Die in der "Tigerökonomie" Taiwan notorisch korrupten Politiker können jetzt nicht mehr damit rechnen, dass ihnen ein befreundeter Gerichtspräsident einen genehmen Richter zuteilt.
Im so genannten "Deutsch-Chinesischen Rechtsstaatsdialog" dürfte es zu den geheimen Vorbehalten der Kommunistischen Partei Chinas zählen, das Rechtsstaatlichkeit eine 'westliche Ideologie' sei. Ein Blick auf die mutigen Richter des "Room 303" im Distriktgericht von Taichung in der 'abtrünnigen Provinz' Taiwan sollte genügen, solche diplomatischen Ränkespiele zu beenden.
Mesoamerikanisches Elend – Luxemburger Luxus
Einerseits haben Gerichte den Vorteil, dass Argumente wenigstens Gehör finden – in der politischen Arena sind sie oft Schall und Rauch. Andererseits verlieren Gesellschaften, die ihre Konflikte in juristischer Form austragen, gerne ihr Vertrauen in die Lösungskompetenz der politischen Institutionen.
Diese etwas schlichte These ist Gegenstand aktueller Analysen der mittelamerikanischen wie der europäischen Rechtsordnungen.
Elena Martínez Barahona kann für Costa Rica, das über eine vergleichsweise gut etablierte Demokratie verfügte, nicht ausschließen, dass die 1989 eingeführte Möglichkeit, vor dem Obersten Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsakten prüfen zu lassen, dem Image der Politiker geschadet hat.
Ihr Aufsatz "Judges as Invited Actors in the Political Arena: The Cases of Costa Rica and Guatemala", erschienen im "Mexican Law Review" (2010, 3-24), belegt auch für das benachbarte Guatemala eine explosionsartig gestiegene Zahl grundrechtlicher Streitigkeiten. Zu Legitimationsproblemen der Politik führte das in Guatemala aber wohl deshalb nicht, weil dort nach dem jahrzehntelangen Terror gegen die Zivilbevölkerung alle staatlichen Institutionen gleichermaßen schlecht angesehen sind.
Im Vergleich dazu ist es fast ein Luxusproblem, wenn Martin Höpner am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung der Frage nachging: "Warum betreibt der Europäische Gerichtshof Rechtsfortbildung?" (MPIfG Working Paper 10/2).
Er untersucht dazu zehn umstrittene Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, denen er eine politische Tendenz zu wirtschaftsliberaler Marktöffnung zuschreibt. Seine Ergebnisse bleiben vage. Auf politischem 'Stallgeruch' oder landsmännischer Vorteilsfindung scheint die integrationsfreundliche Haltung der Europarichter nicht zu beruhen. Allenfalls schwache Hinweise findet Höpner dafür, dass Richter aus Ländern mit dünner Sozialversicherung zu marktliberalen Lösungen neigten.
Seine Warnung vor der Macht der Richter stützt er aber doch lieber auf die Drohung, dass die gewählten Politiker zu stark an Legitimität verlören.
Souveränitätsverluste in Paris und London
Um Legitimitätsverluste haben sich britische und französische Politiker zuletzt offenbar wenig gekümmert. Der neue Supreme Court des Vereinigten Königreichs hat die "Law Lords" des Oberhauses abgelöst und eine richterliche Normenkontrolle etabliert. Der französische Conseil d'État darf seit 2008 prüfen, ob Gesetze im Einzelfall grundrechtskonform sind.
Anja Seibert-Fohr analysiert in "Richterbestellung im Verfassungswandel", ob der anzutreffende Zuwachs richterlicher Kompetenzen mit Veränderungen im Richterwahlverfahren einhergeht (Der Staat 2010, 130-156). Anders als zu erwarten: Politisiert wird die Richterwahl trotz richterlichen Machtzuwachses nicht.
Während in Frankreich insoweit alles beim Alten bleibt, wird die Wahl britischer Richter von einer Fachkommission dominiert.
Ruppige Amerikaner, zartfühlende Deutsche
Seibert-Fohr zeigt etwa auch für Kanada die starke Stellung einer Fachkommission bei der Richterwahl. Die ruppige Art, mit der der US-Senat Kandidaten für höchste Richterämter durchrüttelt oder der dezente Parteienproporz deutscher Provenienz scheinen weltweit kein Vorbild abzugeben.
Das mag auch am kulturell unterschiedlich ausgeprägten Feingefühl von Juristen liegen, wenn sie sich mit ihrer – auch politischen – Macht auseinandersetzen.
Statt sich mit dem aktuellen, zwar umfangreichen, aber politisch unauffälligen Personalwechsel am österreichischen Verfassungsgerichtshof zu befassen, untersucht der Wiener Jurist Martin Hiesel ob in den USA "Rechtsprechungskorrektur durch Richterernennung?" (Zeitschrift für Öffentliches Recht 2010, 177-202) stattfinde.
Dank der methodischen Sorgfalt und der notorischen Querköpfigkeit jener Juristen, die es in den U.S. Supreme Court schaffen, kann Hiesel dies leicht verneinen. Die US-Richter sind schon recht eigensinnig und meinungsstark, wenn sie ihre Ansichten auch gerne durch die Blume juristischer Methodik äußern.
Hans-Jürgen Papier hat sich in jüngster Zeit deutlich zu Verfassungsreformen geäußert, was Andreas Heusch in der Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht zu der sehr eilig bejahten Frage verleitet, ob der Präsident des Verfassungsgerichts das denn auch durfte (NVwZ 2010, 209-213).
Ein solches Schulterklopfen, vom Präsidenten des Verwaltungsgerichts Düsseldorf zum Präsidenten a.D. des Bundesverfassungsgerichts, das wirkt schon ein bisschen komisch.
Man fragt sich dann, was man sich vorweihnachtlich mehr wünschen sollte:
Deutsche Richter, die sich meinungsstärker, aber bitte durch die rechtsdogmatische Blume äußern?
Oder, dass sich Hans-Jürgen Papier an Sandra Day O’Connor ein Vorbild nimmt – vorausgesetzt, es fände sich ein 'niederes' Gericht, das ihn als Hilfsrichter beschäftigen möchte?
Martin Rath ist freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Recht frech / Die etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 04.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2082 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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