Rund um den Jahreswechsel 2010/2011 brachten Fachzeitschriften nicht nur Nutzwertartikel zu neuer Gesetzgebung und alter Rechtsprechung. Der Blick in Juristen-Medien fördert überraschend "multi-kulturelle" Diskussionen, begrabene Kriegsbeile und neu erfundene Rammböcke hervor. Auch tot geglaubte Apokalyptik und stets aufwärmbare Glückshormonistik entdeckte Martin Rath.
Der Untergang des Abendlands ist zwar nicht von Rechts wegen abgesagt, geht dieses Mal aber wenigstens von wildgewordenen Schwaben aus. Die üblichen Verdächtigen, nach der aufgeregten Diskussion des Jahres 2010 wären Muslime in Betracht gekommen, dürfen sich entspannen.
Das "International Journal of Law and Management" (2010, 346-355) setzte sich mit einem Thema auseinander, das im Jahr 2010 ein starkes öffentliches Interesse fand: Es äußert sich ein außerhalb seines Landes kaum bekannter Fachmann für Bank- und Finanzwesen zur Frage, ob und wie weit das islamische Recht in eine zeitgemäße Rechtsordnung integriert werden könnte. Masudul Alam Choudhury fragt nach den erkenntnistheoretischen Grundlagen von Recht und Gerechtigkeit in einer kulturell pluralistischen Gesellschaft. Die rein rationalistische Begründung von Recht lehnt Choudhury ab. Er stört sich u.a. am "rationalen Diktator", der in der neoklassischen Theorie relevante von irrelevanten Präferenzen der Sozialwahl unterscheidet.
Moderne Ökonomie, die im Einklang mit der Sharia funktioniert, ist ein Schwerpunkt in der wissenschaftlichen Biografie von Masudul Alam Choudhury. Eine einfache Gleichung macht er aber nicht auf: Dass sich etwa das Recht an islamischer Moral zu messen hätte. Stattdessen fordert er eine analytische und sozialwissenschaftliche Herangehensweise an die moralischen Maßstäbe des Menschen schlechthin. Es geht also auch ohne Thilo Sarrazin.
Recht empirisch und strategisch - Wilder, wilder Westen
Die Leidenschaft empirisch forschender Rechtswissenschaftler dürfte bislang aber weniger dem Menschen an sich gehören, als rund 300 Millionen ganz speziellen Exemplaren der Gattung: Im "American Business Law Journal" (2010, Band 47, V-IX) zeichnet Daniel R. Cahoy die enorme Steigerung rechtsempirischer Publizistik in den USA nach.
Ein Zitationsindex wies 1990 rund 200 fachwissenschaftliche Artikel aus, die sich juristischer Themen mit empirischen Methoden annahmen. Im Jahr 2003 waren es schon 700. Den aktuellen Stand hat Cahoy nicht ausgezählt, fordert aber wegen des wachsenden Einflusses rechtsempirischer Arbeiten auf Gesetzgebung und Justizapparat, dass die Forschung sich einer hinreichenden sozialwissenschaftlichen Methodenkritik unterziehe. Angesichts des migrationspolitischen und -rechtlichen Zahlenzaubers, der gegenwärtig die Diskussion hierzulande prägt, eine nachahmenswerte Empfehlung.
Eine spannend zu lesende Kostprobe für solche empirischen Arbeiten bietet der Aufsatz "Arming State’s Rights: Federalism, Private Lawmakers, and the Battering Ram Strategy" von Barak Y. Orbach, Kathleen S. Callahan und Lisa M. Lindemenn, erschienen in der Arizona Law Review (2010, 1.160-1.206). Er beschreibt die in verschiedenen Teilstaaten der USA vorangetriebene Waffengesetzgebung als Versuch, die bundesstaatlichen Kompetenzen zurückzudrängen. Der Staat Montana sieht beispielgebend vor, dass Waffen vom Bundesrecht unberührt bleiben, wenn sie im Bundesstaat selbst produziert wurden. Orbach, Callahan und Lindemenn interpretieren dies im Detail als ausgefuchste rechtspolitische Vorgehensweise, die sie als "Rammbock-Strategie" bezeichnen. Weil die Vorreiterin der Tea-Party-Bewegung, Sarah Palin, so unbedarft wirkt, dass man ihr eine ur-amerikanische Schießlust zuschreiben möchte, übersieht man leicht, dass hier mehr auf dem Spiel steht als kurios liberale Waffengesetze: Der Rammbock wird themenübergreifend gegen Gesetzgebungskompetenzen gerichtet, die sich die US-Bundesebene durch den "New Deal" Franklin D. Roosevelts in den 1930er-Jahren mühsam angeeignet hatte. Sollte der "Rammbock" auch in anderen Rechtsmaterien erfolgreich werden, könnte ein juristischer Radikalföderalismus die Folge sein, der noch dem schärfsten Separatisten in der bayerischen Staatsregierung den Angstschweiß auf die Stirn treiben müsste.
Rechtseinheit unter europäischer Käseglocke
Dass "in einer Reihe von Rechtsgebieten die gemeinsame europäische Rechtsschicht inzwischen breiter" sei als in den USA stellt Armin von Bogdandy in seinem Aufsatz "Deutsche Rechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum" fest, mit dem die "Juristenzeitung" ins neue Jahr startete (JZ 2011, 1-6). So wie der europäische Binnenmarkt in den 1980er-Jahren als Reaktion auf unzureichende nationale Ordnungspolitiken auf den Weg gebracht worden sei, stehe daher nun eine europäische Wissenschaftspolitik an. Davon verspricht sich von Bogdandy frischen Wind, denn: "Unter der Käseglocke des Nationalstaates entwickelten die nationalen Wissenschaften markant eigene Duftnoten." Insbesondere gelte das für die Rechtswissenschaften.
Die US-amerikanische Experimentierlust auch in juristischen Dingen habe sich auch deshalb entfalten können, weil die alteuropäische, wohlgeordnete Dogmatik als Orientierungsgröße bereitgestanden habe. Im europäischen Wissenschaftsprozess wird diese Größe etwas wackeln, denn von Bogdandy schlägt vor: So wie Immanuel Kant den Wert moralischer Gesetze daran gemessen sehen wollte, ob sie jederzeit zugleich universelle Geltung beanspruchen könnten, so sollten die europäischen Juristen ihre dogmatischen Figuren und Fragen der Rechtsfortbildung darauf prüfen, ob sie auch anderenorts im "europäischen Rechtsraum" dogmatisch funktionieren könnten.
Google Street View – unter einer stählernen Käseglocke?
Erinnern wir uns kurz daran, dass Schweden zum "europäischen Rechtsraum" zählt, bevor wir vermuten wollen, dass von Bogdandys Ansatz einstweilen ein frommer Wunsch bleiben könnte. Das belegen ein wenig später in der gleichen Zeitschrift Bernd Holznagel und Pascal Schumacher, die sich "Google Street View aus verfassungsrechtlicher Sicht" in den Weg stellen (JZ 2010, 57-65).
Ihr Aufsatz diskutiert, ob Gesetzgeber und Vollzugspraxis von Verfassungs wegen aufgegeben sei, das deutsche Volk vor Google Street View zu bewahren. Die Pflicht des Staates, seine Bürger vor Grundrechtsverletzungen zu schützen, schließt das Bundesverfassungsgericht am Ende aus Artikel 1 Grundgesetz, der Menschenwürdegarantie.
Wenngleich Holznagel und Schumacher es als ein größeres Problem dieses Geodienstes diskutieren, dass seine Daten zunächst in Rohform in die USA gelangen, gehen sie doch in schönster Breite auf seine übrigen – vermeintlichen oder tatsächlichen – Gefahren ein: Stalking und Wohnungseinbrüche würden erleichtert und durch die Verknüpfung zum Beispiel eines Namens mit Straße und Hausnummer könne "sich jedermann ungehindert ein realistisches Bild von den örtlichen Lebensumständen des Betroffenen machen".
Davor müsste, soweit die Menschenwürde berührt wird, womöglich der Staat schützen. Dass kein Mensch in seiner Würde verletzt werden soll, darauf dürfte man sich im "europäischen Rechtsraum" leicht einigen können. Hierzulande legt der brave Dogmatiker der juristischen Öffentlichkeit nahe, dass schon das Zusammenführen der Hausnummer mit ihrem Eigentümer an der Menschenwürde rühre. In Schweden hingegen kann sich jeder Bürger jährlich im "Taxeringskalendern" schlau machen, welches Vermögen und Einkommen sein Nachbar, seine Verwandtschaft, ein Politiker oder Manager versteuert – es gibt kein Steuergeheimnis.
Von Verfassungs wegen – keine Fotos vom Untergang des Abendlands
Für oder gegen Geodaten-Dienste wie "Street View" ist mit den Schweden kein Argument gewonnen. Vom Zentralgestirn der Menschenwürde angestrahlt, dürften die rechtlichen Verhältnisse in den Einzelstaaten des "europäischen Rechtsraums" zu unterschiedlich leuchten, als dass sich ein Kant-von-Bogdandy-Funktionstest im juristischen Tagesgeschäft verbreiten könnte.
Leichter dürfte das dort fallen, wo staatliche Überwachung auf das Phänomen stößt, dass Bürger zwar einerseits – ob aus Narzissmus oder Überzeugung – auffallen möchten, aber die ungeteilte Aufmerksamkeit jedenfalls ihrer "Freunde und Helfer" nicht genießen wollen. Johannes Koranyi und Tobias Singelnstein behandeln die juristische Seite dieses Phänomens unter dem Titel "Rechtliche Grenzen für polizeiliche Bildaufnahmen von Versammlungen" (NJW 2011, 124-128).
Unter kulturhistorischen Gesichtspunkten muss man es fast bedauern, wie weit die Polizei durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit daran gehindert wird, bei Demonstrationen zu filmen und zu fotografieren.
Denn so entgehen den Nachgeborenen womöglich Aufnahmen vom Untergang des Abendlandes. In seinem Artikel "Stuttgart21: 'Wir sind das Volk!' – Wer?" macht sich der emeritierte Staatsrechtler Walter Leisner einen Jux aus dem Gedanken, die demonstrierenden Gegner des Stuttgarter Bahnhofsprojektes würden sich zur verfassungsgebenden revolutionären Masse aufschwingen. An überraschender Stelle (NJW 2011, 33) zitiert er Carl Schmitts Satz "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" und insinuiert, die Demonstrationen und der Wunsch nach einem Volksentscheid seien eine Albernheit, die jedenfalls bei Juristen in Verwaltung und Gerichtsbarkeit zur "Kapitulation" führen könnten.
Leislers Apokalypse versus Luhmanns Wort zum Sonntag
Walter Leisler beschwört mit starken Bildern, die aus dem Revolutionsrepertoire des 19. Jahrhunderts und der 1920er-Jahre zu stammen scheinen, eine Situation herauf, in der das Volk – wir reden hier von Schwaben! – gar keine Entscheidungen der Staatsgewalten mehr zulasse, eine Situation, "über die sich Anwälte wenigstens freuen dürfen: Es wird wieder verhandelt, immer weiter; es kann also abgerechnet werden. Und am Ende gibt es dann vielleicht gar keine Richter mehr, sondern nurmehr Anwälte als Verhandler und Schlichter …" .
Natürlich ist dieser Gedankengang, mit dem die "Neue Juristische Wochenschrift" ihr Jahr 2011 eröffnete, einigermaßen bizarr. Es wäre zwar menschenfreundlich, ihn noch um einen Lektürehinweis aus dem Online-Auftritt der "American Bar Association" zu steigern. Er nimmt sich der Chancen von Juristen an, auch in schrecklichen und harten Zeiten ihr emotionales Glück zu finden. Becky Beaupre Gillespie und Hollee Schwartz Temple schildern dort unter anderem die Glücksgeschichte einer früheren Mitarbeiterin des U.S. Supreme Courts und berichten von den Bemühungen US-amerikanischer Kanzleien, für mehr "Work Life Balance" ihrer Angestellten zu sorgen.
Doch soweit, dass sich Parlamentarier, Verwaltungsbeamte und Richter, in Stuttgart oder anderenorts, auf den Weg machen müssten, ihr privates Glück zu suchen, weil es für sie nichts mehr zu entscheiden gäbe, weil das Volk alles selber machen möchte – so weit wird es wohl kaum kommen.
Denn ein zur bürgerlichen Unlust an staatlichen Entscheidungen passendes Wort zum Sonntag findet sich in einem Aufsatz von Niklas Luhmann im "Verwaltungs-Archiv" (1993, 287-310 "Die Paradoxie des Entscheidens"): "Entscheidungen werden oft als Ursachen ihrer Wirkungen angesehen."
Umgekehrt mag für "Stuttgart21" und für manch anderen Hoheitsakt, der mit noch höheren Weihen versehen ist, gelten: Solange die Ursachen sozialverträglich sind, mag die förmliche Entscheidung aussehen wie sie will.
Martin Rath ist freier Journalist und Lektor in Köln.
Mehr auf LTO.de
Sintflut im Recht: Hochwasser trifft auf Juristen
Bertelsmann-Studie zeigt heikle Wohlstandsverteilung: (K)ein Grund, am Staat zu zweifeln
Ökonomische Analyse des Rechts: Fast ein bisschen verträumt
Martin Rath, Recht frech / Die etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 30.01.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2439 (abgerufen am: 16.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag