Im Januar 2011 tritt Professorin Dr. Angelika Nußberger ihr neues Amt als Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg an. Im LTO-Interview sprach die Kölner Juristin über das Rollenverständnis höchster Richterämter, mögliche Spannungen zu nationalen Gerichten und die Internationalität der Juristenausbildung.
LTO: Ihre Berufung zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verlief spektakulär unspektakulär – verglichen mit der Medienöffentlichkeit, die das Berufungsverfahren von Elena Kagan in den USA nach sich zog. Wünschten Sie sich für die Richterinnen und Richter des EGMR eine ähnliche Aufmerksamkeit wie sie Ihren Kollegen am U.S. Supreme Court zuwächst?
Nußberger: Dem Gericht und seinen Richterinnen und Richtern kommt meiner Meinung nach ausreichend Aufmerksamkeit zu. Der EGMR soll als Ganzes, als Institution wirken. Ich finde es sehr gut, wenn die Richterpersönlichkeiten als kollektives Entscheidungsorgan wahrgenommen werden und die Entscheidungspraxis – anders als in den USA bei den Verfahren vor dem Supreme Court – nicht personalisiert und politisiert wird. Bei einem aus Richtern aus 47 verschiedenen Staaten zusammengesetzten internationalen Gericht wäre dies auch ungleich problematischer als bei einem nationalen Gericht.
LTO: Das ist vom persönlichen Standpunkt ja ein sehr zurückgenommener, bescheidener Ansatz. Ist es aber nicht so, dass es ein Tauschverhältnis gibt: Einerseits eine größere Politisierung des Berufungsverfahrens, andererseits mehr Zuweisung von Macht an den jeweiligen Gerichtshof?
Nußberger: Den Begriff "Macht" würde ich in diesem Zusammenhang ungern verwenden, weil der Gerichtshof per se keine politische Macht ausübt, sondern vielmehr nur einen völkerrechtlichen Vertrag, die Europäische Konvention für Menschenrechte, auslegt. Aber da die Konvention als lebendes Instrument, als "living instrument" mit Blick auf den gesellschaftlichen Wertewandel verstanden wird, hat der Gerichtshof mit seinen Entscheidungen natürlich Einfluss auf die nationalen Gesetzgebungen, die zum Teil angepasst werden müssen. Dieser Rolle des Gerichtshofs wird im Berufungsverfahren der Richter Rechnung getragen. Es müssen erfahrene Juristen sein, keine Politiker oder Menschen, die mit bestimmten politischen Positionen hervorgetreten sind. Das europäische Modell finde ich ausgewogen und adäquat.
Daher ist es auch nach wie vor so, dass man, anders als in den USA, kaum vorhersehen kann, welcher Richter sich von einer konservativen und welcher Richter sich von einer liberalen Haltung leiten lassen wird. Angesichts der Aufgabe, für ganz Europa, für 800 Millionen Menschen, einen allen gemeinsamen Menschenrechtsstandard zu definieren, empfinde ich das europäische Modell als vorzugswürdig.
LTO: Was die "Personalisierung" der Rechtsprechung betrifft: Wie verhält es sich mit Sondervoten?
Nußberger: Von der Möglichkeit, Sondervoten abzugeben, wird am EGMR reger Gebrauch gemacht. Sie finden beispielsweise Kammerentscheidungen von sieben Richtern, in denen vier Richter die Mehrheit bilden und drei Richter in der Minderheit sind, von denen möglicherweise jeder ein Sondervotum abgibt. Hinzu können noch "concurring opinions" kommen, also Voten derer, die zwar im Ergebnis der Entscheidung zustimmen, dafür aber eine andere Begründung haben. In derartigen Fällen können Sie schon eine rechte Vielfalt an Meinungen ersehen. Einerseits wird damit deutlich, welche verschiedenen Positionen juristisch vertretbar sind, andererseits ist es natürlich gut, wenn das Gericht am Ende nach außen geschlossen auftritt.
"Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen Karlsruhe und Straßburg"
LTO: Das Spannungsverhältnis zwischen Luxemburg und Karlsruhe ist jedenfalls in der Medienöffentlichkeit sehr prominent vertreten, für das Verhältnis Straßburg versus Karlsruhe scheint das nicht zu gelten?
Nußberger: Ich denke schon, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen Karlsruhe und Straßburg gibt. Denn schließlich lagen die Entscheidungen, in denen Straßburg eine Verletzung der Konvention durch Deutschland festgestellt hat, zuvor auf den Schreibtischen der Karlsruher Richter. Es waren zumeist Dreierentscheidungen aus Karlsruhe, die in Straßburg aufgehoben wurden.
Es können aber auch gewichtige Entscheidungen sein – etwa im Fall "Caroline von Hannover" oder im Fall der Sicherungsverwahrung, in denen Karlsruhe sehr dezidiert Stellung bezogen und Straßburg sehr dezidiert eine andere Position eingenommen hat. Dieses Spannungsverhältnis ist spürbar und wird so erhalten bleiben, weil es in dem Nebeneinander der Gerichte angelegt ist. Nehmen Sie die Abschiedsrede des ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Papier, der meinte, zwischen Karlsruhe und Luxemburg laufe alles vergleichsweise gut, aber im Verhältnis zu Straßburg gäbe es noch viel Klärungsbedarf.
LTO: Ist das Spannungsverhältnis zwischen zentraler nationaler Gerichtsinstanz und den europäischen Gerichtshöfen eine deutsche Eigenart? Oder ist es – 20 Jahre nach der Wiedergewinnung der Souveränität – im Verhältnis Osteuropa und EGMR ähnlich ausgeprägt?
Nußberger: Das Problem, dass sich die nationalen Gerichte europäischen Gerichten gegenüber sehen, vor denen ihre Entscheidungen keinen Bestand haben, stellt sich natürlich auch in Osteuropa.
Allerdings haben gerade die Verfassungsgerichte dieser Staaten in der Regel noch keine so lange eigenständige Tradition. Straßburger Entscheidungen werden dort beispielsweise sehr viel häufiger zitiert, während das Bundesverfassungsgericht vergleichsweise zurückhaltend ist und überwiegend auf seine eigene Rechtsprechung verweist. Beim litauischen oder polnischen, inzwischen auch beim russischen Verfassungsgericht werden Sie oftmals Verweise auf die Straßburger Rechtsprechung finden.
LTO: Apropos "Russland". Margareta Mommsen und Sie haben mit "Das System Putin" eine kritische Analyse des politischen und des Justizsystems der Russischen Föderation vorgelegt. Erwachsen daraus Konflikte für Ihre richterliche Tätigkeit?
Nußberger: Nein, keineswegs. Meine Aufgabe in Straßburg ist es, Einzelfälle auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beurteilen. Und das werde ich tun, ganz unabhängig davon, wie ich die Rechtsentwicklung und die politische Entwicklung in einem Land im Allgemeinen einschätze. Man wird immer nur auf den einzelnen Fall schauen, auf die rechtliche Regelung im jeweiligen Rechtssystem, und daran den Maßstab der EMRK anlegen.
"Kenntnisse in Grundlagenfächern sollten kein Luxus sei"
LTO: Welche Bedeutung messen Sie der theoretischen Bildung, insbesondere der Rechtsvergleichung, in der gegenwärtigen juristischen Ausbildung und beruflichen Tätigkeit bei?
Nußberger: Grundsätzlich würde ich sagen, dass die Rechtsvergleichung in der deutschen Juristenausbildung sehr vernachlässigt wird. Sie gilt als Neben- oder Orchideenfach, während sie in Ausbildungssystemen im europäischen Ausland wesentlich mehr Gewicht hat. Das liegt in den mittel- und osteuropäischen Staaten natürlich auch daran, dass man sich bei der Schaffung der neuen Rechtsordnungen oft an fremden Vorbildern orientiert hat und nun durch Rechtsvergleichung ein besseres Verständnis der eigenen Rechtsordnung gewinnen will.
Im Übrigen denke ich, dass, auch wenn es notwendig ist, dass unsere Studenten praktische Fragen gut und schnell zu lösen lernen, ein gutes theoretisches Fundament sehr hilfreich ist. Die besonderen Regelungen in den einzelnen Rechtsgebieten lernt man in der Praxis allemal. Die Theorie dagegen kann man nicht mehr nachholen – was man an der Universität nicht mitbekommt, fehlt. Da Kenntnisse in Grundlagenfächern im Examen aber nur überaus selten abgefragt werden, werden sie eher als Luxus verstanden. Das ist schade.
LTO: Sie werden ja bis 2020 in Straßburg tätig sein und sich ein gutes Stück vom akademischen Betrieb trennen. Haben Sie Abschiedsgefühle, werden sie ihn vermissen?
Nußberger: Ja, selbstverständlich! Aber man wird ja nicht aufhören, über das Recht nachzudenken, auch wenn die Entscheidung von Fällen natürlich primär eine praktische Tätigkeit ist. Ich glaube, dass eine Vielzahl der Straßburger Fälle so herausfordernd ist, dass man gar nicht anders kann, als sich mit ihrer Bedeutung für Recht und Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. Darauf freue ich mich. Ob und inwieweit ich in dieser Zeit wissenschaftlich arbeiten kann, weiß ich noch nicht. Aber ich möchte gerne nach den neun Straßburger Jahren an die Universität zurückkehren.
Prof. Dr. Angelika Nußberger leitet das Institut für Ostrecht an der Universität zu Köln. Sie ist Mitglied des Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf. Am 1. Januar 2011 tritt sie die Nachfolge von Renate Jaeger als Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an.
Das Interview führte Martin Rath, freier Journalist und Lektor in Köln.
Prof. Dr. Angelika Nußberger im Interview: . In: Legal Tribune Online, 14.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2133 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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